Das Krankheitsbild ist bekannt: Rezensenten stellen zwanghaft Bezüge her. Auch „Unendlicher Spaß“ wird jetzt in den Feuilletons in erster Linie literaturgeschichtlich verortet („postmodern-komplex“), ästhetisch vermessen („monströser Chor für emotional schwer beschädigte Stimmen“) und auf seine politisch-gesellschaftliche Relevanz überprüft („ein moralisches, ja moralistisches Buch über den gegenwärtigen American way of life“). In Blogs, die sich mit Literatur beschäftigen, herrscht dagegen ein anderer, ausgesprochen bekenntnishafter Tonfall, der auf die emotionalen Aspekte einer Lektüre zielt: Der einzige Bezugspunkt bin ich selbst, das allerdings in aller Öffentlichkeit. Die Möglichkeiten, die sich damit eröffnen, sind mir immer noch unheimlich. Ich bekenne, dass es ein, zwei Sätze auf den ersten hundert Seiten von „Unendlicher Spaß“, die mein… also, die direkt… und ohne die… Aber würde ich nicht genau diese Sätze lieber für mich behalten?

4 Kommentare zu Why Don’t We Do It in the Road?

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frlannao

25. August, 2009 um 15:09

Was mich eher stört, ist die Angewohnheit von Rezensenten einen direkten Bezug zur Depression von D.F. Wallace herzustellen. (In einer Rezension der Zeit zu „Am Beispiel des Hummers“ heißt es sogar wörtlich „der hochbegabte, depressive Wortschäumer“).
Das verleitet zu einer einseitig-autobiographischen Lektüre – wie zum Beispiel dem starken Abschnitt, wo einer Patienten mit diagnostizierter Depression und ihrer pessimistischen Weltsicht ein Arzt in Ausbildung gegenüber gestellt wird, der alle Äußerungen von ihr nur auf das „Gefühl der Depression“ und entsprechende biologische bzw. psychoanalytische Vorgänge begreifen kann.
Leider stellt auch das Zusatzmaterial von KiWi diesen Bezugspunkt her, wenn die Texte eindringlich von Wallaces Depression berichten. Gottseidank stellt Blumenbachs Beitrag eine Ausnahme dar, die sehr erhellend ist. (Wiegleich wohl ich diesen Zusatzband sehr zu schätzen weiß).

Ich bin immerhin schon auf Seite 130, fühle mich bei aller Anstrengung sehr gut unterhalten und finde die Legende, dies sei ein enigmatisches, schwer zugängliches Buch doch seither ziemlich verfehlt. Meinem ersten Eindruck nach ist es wesentlich leichter zugänglich als Wallaces Kurzgeschichten-

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Thomas von Steinaecker

26. August, 2009 um 09:27

Der SPIEGEL-Artikel und die Bezüge zwischen Werk und Leben, die in zahlreichen Rezensionen hergestellt wurden, zeigen eben, dass da eine Sehnsucht bei dem einen oder anderen Kritiker ist, die man sonst eigentlich nicht gerne zugeben würde: die Sehnsucht nach Authentizität in der Fiktion und nach der Figur des romatischen „Dichters“, der am besten a) Alkoholiker ist (oder drogenabhängig), b) ein wildes Sexleben führt, c) sich vorzeitig ins Jenseits befördert.

Macht es denn bzgl. der Qualität des Textes irgendeinen Unterschied, ob „Unendlicher Spaß“ von DFW ist oder von jemand anderen? Und ist es wichtig, was für ein Leben sein Autor hatte? Eigentlich nicht, würde ich sagen. Aber was würde aus der Beobachtung folgen, dass dem nicht so ist?

Anders sehe ich die Sache mit den literaturgeschichtlichen Vergleichen. Natürlich ist es absurd, DFW ständig mit Pynchon oder, wie Dave Eggers, mit Joyce zu vergleichen. Aber diese Vergleiche zeigen doch zweierlei: Einmal die Einordnung eines Werkes, für das es noch keine Verortung auf der literaturhistorischen Karte gibt. Und zum anderen signalisiert der Vergleich dem Leser auch, welche literarischen Vorlieben der Autor der Rezension hat, sodass jeder für sich selbst entscheiden kann, ob man damit d’accord ist oder nicht. „Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, usw“ klingt verdächtig nach Werbemasche, ist aber tatsächlich hin und wieder hilfreich.

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Mark Z.

26. August, 2009 um 11:15

Es ist tatsächlich hilfreich, eine Autor verorten zu können. Und so ungenau der Vergleich mit Pynchon aus der Nähe ist, so hilfreich ist er aus der Ferne. Den beide sind eben „anders“, wie ein Auster, Updike oder Franzen.

Vielleicht ‚gewinnt‘ ein Buch an Spannung, zumindest an voyoristischer, wenn der Roman so (posthum) autobiographischer wird. Das ist schon z.T. ein Verschulden der feuilletonistischen Berichterstattung auf die dann auch noch die Verlage teilweise reagieren. Denn nach den knapp 100 Seiten zu urteilen (@ frlannao: stimme dir zu: gut zu lesen!), besteht DFWs U.S. auch ohne seine Krankheitsgeschichte.

Das es nahezu ohne das herausstellen künstlerische Extravaganzen gehen würde, sieht man ja beim eben genannten Franzen: weder eine ausgefallene Künstlernatur – und auch nur bedingt ein autobiographisches Werk.

Um einmal deutschsprachige Beispiele zu bringen: Tellkamps Turm funktioniert unabhängig vom Lebensstil des Autors (wenn auch autobiographisch geschrieben). Kehlmann schreibt in keinster Weise autobiographisch und ich erinnere mich auch nicht, dass sein Werk durch irgendwelche biographischen Extremitäten gepusht werden musste.

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Jürgen Kiel

26. August, 2009 um 11:55

Dem ist unbedingt zuzustimmen! Alles Lesen und Schreiben ist ein fortwährendes, in der Regel unbewusstes Vergleichen mit Bekanntem. Nur deshalb ist das Neue, Kreative überhaupt als solches erkennbar.

Bei der Produktion von Kunstwerken erfolgt dieses Vergleichen bewusster, auf jeden Fall professioneller. Der Künstler wählt fortwährend aus, indem er zum Beispiel streicht („der Satz geht nicht, der klingt zu sehr nach Thomas Mann“) oder modifiziert („in diesem Satz ist Thomas Mann drin, aber auf eine neue, interessant Art“). Der Autor von (oft brillanter) Unterhaltungsliteratur stellt sich genau dieser genuin künstlerischen Problematik nicht.

Versuche ich als Leser, mein Wissen über Literatur auszuschließen, d. h. „vorurteilsfrei“ zu lesen, erfolgt das Vergleichen zumindest auf der Basis meines alltäglichen Sprachverständnisses. Dieses Lesen ist notwendig, um überhaupt erst einmal das Besondere des Textes zu erfahren und den Text nicht gleich mit einem Etikett abzufertigen.

Wenn ich jedoch ambitionierte Texte verstehen will, wenn ich über Äußerungen wie „genialer Autor, Wahnsinn!“ hinauskommen möchte, ist ein Vergleich mit jenen möglichen Vorbildern (die sich unabweisbar aufdrängen) zumal dann unabwendbar, wenn der Text sie mehr oder weniger offen zitiert.

Deshalb ist in Literaturrezensionen der Vergleich mit Vorbildern ein wichtiger Hinweis darauf, dass der betreffende Text überhaupt künstlerische Intentionen hat. Der Text ist immer anders als die Vorbilder, ob er epigonal oder kreativ mit ihnen umgeht, ist ein wesentlicher Punkt für die Beurteilung. Rezensionen dieses Typus sind leider vergleichsweise selten, was weniger den Rezensenten vorzuwerfen ist, sondern eher der Dominanz einer professionellen Unterhaltungsliteratur, die in der Nacherzählung des Plots plus Hinweis auf gute oder weniger gute Umsetzung angemessen darstellbar ist.

Geht es um bildende Kunst, nehmen wir den Bezug auf Vorbilder selbstverständlich hin. Interessierte Laien finden es interessant und erhellend, wenn ihnen in einer qualifizierten Führung durch eine Kunstausstellung erklärt wird, wo sich etwa William Turner auf Claude Lorrain bezieht. Geht es hingegen um Literatur, werden derartige Hinweise häufig als „verkopft“ etc. abgetan, was vermutlich mit der Dominanz von Unterhaltungsliteratur zu tun hat. Das dadurch geformte Bewusstsein und das Problem, in dieser Situation einen Ort für Literatur als Kunst jenseits von Unterhaltung zu finden, ist wiederum, so deutet es sich an, ein wesentlicher „Inhalt“ von „Unendlicher Spaß“.

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Über das Buch

1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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