‚wen‘ und aber

10. September 2009 |

„Ich stehe da und zögere“ (S. 98) beschreibt sehr gut die unmögliche Aufgabe, den richtigen Moment für den ersten ‚echten‘ Beitrag hier zu wählen. Zwar kenne ich das amerikanische Original gut, doch in US bin ich erst auf S. 127 – und ich habe bereits so viele Anmerkungen an den Rand gekritzelt, über Inhalt, Sprache, und ja: über die Übersetzung, dass ich mich einerseits noch nicht traue, etwas einzustellen, weil noch so viel vor mir liegt, und ich andererseits fast zu viel Material, zu viele Fragen habe. Jedoch: „Der Schiedsrichter flüstert Aufschlag Bitte“ (S. 99). Und also soll es losgehen.

Seit mehr als einer Woche habe ich vor, etwas über die Wortwahl der ersten Seiten zu schreiben. Nicht über die Übersetzung als solche, oder über die eventuelle Gespreiztheit oder Spröde des ersten Abschnitts (die in jenem Moment glänzend zu Hal passt, übrigens), sondern über die Tatsache, dass man als Nicht-Muttersprachler gar nicht so richtig einschätzen kann, wo die lexikalischen Hindernisse beim Lesen für einen Muttersprachler liegen – was für mich, als zweifach nicht-muttersprachlichen Leser dieses Romans (ich bin flämischsprachiger Belgier), schon von Bedeutung ist.

Ausgelöst wurde diese Frage von einer Bemerkung auf der Wallace-Mailingliste (wallace-l). Dort berichtete am 19. August ein ehemaliger Student über Wallace’ Literaturseminar an der Universität von Illinois, Wallace habe „suggested that while reading the novels we write words in the back of a book the definition of which we weren’t completely sure so we could look them up later.“ Hört sich ein bisschen schulmäßig an, aber interessant ist die Antwort eines anderen Beiträgers am 20. August: „I can’t tell you how many copies of IJ I’ve seen where the blank pages in the back start with the word ‘wen’ and go on from there, much like so many copies of ‘War and Peace’ end with handwritten haphazard family trees.“

Wie: „wen“? Was ist denn das? Und wo taucht das Wort genau auf?

Und ja, da steht es im Original, auf der 2. Seite: „I am debating whether to risk scratching the right side of my jaw, where there is a wen“ (S. 4 / Bild).

Das Wort kenne ich tatsächlich nicht, obwohl das niederländische Äquivalent, wie sich herausstellt, ebenfalls „wen“ ist – nur die wenigsten niederländischen Muttersprachler dürften allerdings wissen, was es bedeutet.

Und trotzdem: mich hat es während der Lektüre überhaupt nicht gestört. Da habe ich mir einfach gedacht: na gut, ist schon irgendein Pickel – jedenfalls konnte es mir recht sein. Wichtig ist das Wort an sich nicht, und schließlich liest man Texte (sicherlich dieses Umfangs) immer so: man entscheidet sich eben, bestimmte Sachen nicht nachzuschlagen.

Die Bemerkung auf wallace-l deutet jedoch darauf hin, dass alles, was davor kommt, für einen Muttersprachler mehr oder weniger ‚flott‘ gelesen werden kann, dass man eigentlich über gar nichts stolpert, oder aber bestimmte Stolpersteine bewusst außen vor lässt, wie z.B. „Remington-hung“ (S.3 – „remingtonbehängt“ (S. 7) / wobei die Klein- und Zusammenschreibung die Zuordnung zusätzlich erschwert), das für ein Amerikaner wahrscheinlich einfacher deutbar ist.

Für mich liest sich die deutsche Fassung irgendwie leichter, trotz gelegentlicher härter Nüsse, wohl der relativen Ähnlichkeit mit meiner Muttersprache wegen, vor allem im System von Komposita als Wortbildungsprinzip, statt der wild wuchernden etymologischen Stammvarianz des Englischen. Das von Herrn Oswald angesprochene ‚gewählte‘ kongruieren-ohne-mit ist mir zwar aufgefallen, aber ich habe es als bewusste Wahl des Übersetzers wahrgenommen (auch wohl, um eine Alternative zur gewählten Alliteration „consciously congruent to“ zu verwenden), nicht als Schwierigkeit, geschweige denn als Hürde.

Allerdings frage ich mich, warum Herr Blumenbach das offenkundig sehr markierte „wen“ folgendermaßen übersetzt hat: „Ich frage mich, ob ich es wagen soll, mir den Grützbeutel rechts am Kiefer zu kratzen“ (S. 8). Beim Lesen ist mir das Wort überhaupt nicht aufgefallen – eben des Wortbildungsprinzips wegen, das außerdem zu einem sehr bildhaften Resultat geführt hat, und ich glaube (bitte korrigieren Sie mich), den meisten deutschsprachigen Lesern geht es genauso. Warum nicht Atherom oder das anscheinend viel seltenere, doch sehr schöne umgangssprachliche Wort „Grießknoten“, über die bestimmt viel mehr Leser gestolpert wären?

Dies sollte man bitte nicht als Kritik an der Übersetzung verstehen. Bei solchen Stellen frage ich mich bloß, ob und wie man bei der Übersetzung Kategorien „Schwierigkeit“ oder „Originalleseerfahrung“ berücksichtigen kann.

3 Kommentare zu ‚wen‘ und aber

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Daniela Sickert

10. September, 2009 um 22:12

Sehr interesanter erster Beitrag. Da ich den Originaltext mangels Fähigkeit gar nicht erst in die Hand genommen habe, bin ich nicht fähig zu vergleichen.

Allerdings bin ich gar nicht unglücklich darüber, denn die Vorstellung, neben den Verzückungen über den Wortschatz, die Syntax und den etlichen Anspielungen (mein zur Zeit liebster Gedanke ist der Vergleich von Marathe/Seeply mit Marat/Sade) noch die Problematik der Übersetzung im Hinterkopf zu habe würde mich wahrscheinlich ganz um den Verstand bringen.

Ich überlese auch viele Wörter, die mir unbekannt erscheinen, aber mich glauben machen, sie aus dem Kontext erschließen zu können. Bei zweitem Lesen ist dies allerdings ein Trugschluss.
Aber das gehört für mich zum Sujet des Textes, bezeichnend die Suche nach angemessen semantischen Bedeutungsträgern für ausgelaugt sein in der Umkleide. Hyperinflation des Wortschatzes, wenn ich mich gerade recht erinnere.

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ulrich blumenbach

10. September, 2009 um 22:20

„Warum nicht Atherom“? Weil es ein fachsprachlicher Ausdruck der Medizin wäre, was „wen“ im Englischen nicht ist. Warum nicht „Grießknoten“? Weil ich das Wort nie gehört habe und auch jetzt weder im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm noch im achtbändigen Duden-Wörterbuch der deutschen Sprache oder meinen teilweise aus dem 19. Jahrhundert stammenden Synonymlexika finden kann – was kein Hinderungsgrund sein sollte: Ich habe hoffentlich oft genug Wörter eingebaut, die dort nicht zu finden waren. Grundsätzlich haben der Lektor Johann Christoph Maass und ich versucht, „Kategorien ‚Schwierigkeit’ oder ‚Originalleseerfahrung’ [zu] berücksichtigen“: Schwieriges sollte schwierig bleiben, Fachsprachliches sollte wieder fachsprachlich werden, „inkhorn terms“ (also die auch dem gebildeten englischen Leser nicht unbedingt geläufigen ‚Tintenfasswörter’, die der anders verlaufenenen sprachgeschichtlichen Entwicklung wegen nicht eins-zu-eins unseren Fremdwörtern entsprechen) durch Rarwörter ersetzt werden. Dass es hier Kalibrierungsschwierigkeiten, sprich Interpretationsspielraum bei der Wahl von Fastsynonymen gibt, ist selbstverständlich, und ich glaube, gestern und heute am Beispiel des Titels durchdekliniert zu haben, wie man bei diesem Abwägen von Varianten vom Hundertsten ins Tausendsten kommen kann.

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Iannis Goerlandt

11. September, 2009 um 11:25

Bestimmt gibt es gute Gründe, „Grützbeutel“ zu wählen, das möchte ich auch gar nicht bestreiten. Tatsächlich wäre ein medizinischer Fachbegriff hier nicht das korrekte Register, und „Grützbeutel“ und „Grießknoten“ sind ja im Grunde fast identisch (obwohl letzteres Wort tatsächlich die weniger geläufige Variante ist). Ich frage mich bloß, ob und wie man versuchen muss, die Distribution von Lesehindernissen nachzubilden, wenn bereits die Einschätzung einer solchen sehr schwer ist (nicht nur für Nicht-Muttersprachler). Schließlich handelt es sich um äußerst subjektive Kategorien.

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Über das Buch

1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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