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In meinem ersten Beitrag „Chaos und Kosmos“ habe ich die Behauptung aufgestellt, man könne anhand von Gegensatzpaaren Unendlichkeiten beschreiben. Ich wollte Joelle van Dyne als das Zentrum des Romans verstehen. Nicht allein, weil sie die Hauptrolle in dem Film spielt, der dem Roman seinen Titel gibt, sondern vor allem weil sich am Thema Schönheit, an der Gegensätzlichkeit von Schönheit und Entstellung, der Begriff der Unendlichkeit fassen lässt. Dieser Begriff scheint mir für das Verständnis des Romans von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit.
Beim Stand meiner Lektüre, Seite 1100, gibt es neben einer Handvoll Anspielungen auf Joelle, lediglich drei größere Textstellen, in denen sie eine Rolle spielt. Die Party der Freundin Molly Notkin, auf der sie Crack raucht und eine Apnoe erleidet (S. 316 – 344), das Gespräch mit Gately im Ennet House (S. 766 – 776) und schließlich ihr Bericht über das Verhältnis zu Orin und seiner Familie (S. 1056 – 1073). Ich möchte lediglich das Gespräch zwischen Joelle und Gately näher anschauen. Das sieht vom Umfang her kaum aus wie das Zentrum eines 1500-Seiten Romans. Die beiden sitzen am frühen Morgen im Erdgeschoss der Entzugsanstalt und schauen aus dem Fenster. Gately fragt Joelle wie es unter ihrem Schleier aussieht. Er will sich ein Bild von ihr machen.
Um zu verstehen, was es heißt, sich ein Bild zu machen, untersuche ich einige Zeilen aus der „Penthesilea“ von Heinrich von Kleist. Die Figur der Penthesilea steht historisch betrachtet an einer Zäsur. Als Vertreterin eines primitiven Volkes, ja als seine höchste Repräsentantin, ist ihr die individuelle Partnerwahl nicht erlaubt. Eine Amazone muss einem Mann im Kampf begegnen. Geht sie als Siegerin aus der Konfrontation hervor, kann sie mit dem Besiegten nach Belieben verfahren. Was die Amazonen von den Besiegten wollen, ist eindeutig: sie wollen mit ihnen schlafen. Sie wollen lieben und geliebt werden. Aber Liebe ist nur unter dem Patronat der Gewalt denkbar. Die Gegner auf dem Schlachtfeld verstehen nicht, dass diese Frauen Gewalt anwenden, weil sie das Gegenteil wollen. Individualisierung – durch persönliche Interessen oder die selbständige Wahl eines Liebespartners – ist den Amazonen aus historischen Gründen nicht erlaubt. Penthesileas Mutter hatte ihr auf dem Totenbett jedoch prophezeit, dass sie sich in Achill verlieben werde. Mit der Liebe, und mit der Sehnsucht nach einem bestimmten Liebesobjekt – also nicht mehr einem Mann, den der Zufall ihr im Kampf zuführt – beginnt Penthesilea ihre Individualisierung. Schlafen kann man zur Not noch mit jedem, aber lieben kann man nicht jeden. Um dem überlieferten Selbstbild Genüge zu tun, muss sie den Held der Griechen, als sie vor den Toren Trojas aufeinandertreffen, im Kampf unterwerfen. Als Individuum aber ist sie ihren eigenen Empfindungen unterworfen. Es kommt im Verlauf der Tragödie zu einer Konfrontation verschiedener Ebenen der Persönlichkeit Penthesileas. In der 15. Szene, da sie, einem Irrtum unterliegend, sich als Siegerin des Zweikampfes wähnt, will Achill wissen, wer sie ist und was, sollte seine Seele ihn fragen, er ihr sagen könne. Darauf antwortet Penthesilea:
„Wenn sie dich fragt, so nenne diese Züge
Das sei der Nam‘ in welchem du mich denkst.-
Zwar diesen goldnen Ring hier schenk‘ ich dir,
Mit jedem Merkmal das dich sicher stellt;
Und zeigst du ihn, so weist man dich zu mir.
Jedoch ein Ring vermiß’t sich, Namen schwinden;
Wenn dir der Nam entschwänd, der Ring sich misste:
Fänd’st du mein Bild in dir wohl wieder aus?
Kannst du’s wohl mit geschloßnen Augen denken?“
Erst als Achill ihr das Bild zurückspiegelt, das sie von sich selbst hat, erst als er ihr dies Selbst bestätigt, nennt sie ihm ihren Namen. Der Name ist ihr ebenso unwichtig wie ihre Funktion als Königin. Sie fragt nach ihren Zügen, nach ihrer Eigenheit. Achill soll Penthesileas „Züge nennen“ und ihr Bild, ihr Gesicht, ihr Auftreten, ihr Sprechen, ihre Individualität – das was sie von den anderen Amazonen unterscheidet – ; dies sei „der Nam‘ in welchem du mich denkst“. Am Ende der Tragödie steht Penthesilea fassungslos vor der verstümmelten Leiche des Achill. Sie fordert Rechenschaft und will wissen, wer für diese unfassbare Tat verantwortlich ist. Der letzte, der 24. Auftritt, ist das Beste, was ich aus der deutschen Dramatik kenne. Penthesilea blickt, heißt es in den letzten Zeilen des vorhergehenden Auftritts „in das Unendliche hinaus“. Sie, die die Handlung immer weiter getrieben hat und die, von ihrer Begierde getrieben, kaum einen Moment der Ruhe erlebte, steht da, handlungsunfähig, ja geradezu gelähmt. Sie weiß nicht, dass sie selbst es war, die Achill zerfleischt hat, weil ihr dieses Selbst im Konflikt divergierender Ebenen ihrer Persönlichkeit abhanden gekommen ist. Diese konfligierenden Seiten sind Freiheit und Zwang, Selbstbestimmung und Unterwerfung, Matriarchat und Patriachat und vor allem Selbstbild und Fremdbild. Das Bild, das sie von sich hat, lässt sich nicht als ein einheitliches verstehen und erkennen. Die Einheitlichkeit muss Penthesilea erst wiederherstellen. Diese Wiederherstellung ist zu verstehen als ein Zurückgewinnen ihrer Handlungsfähigkeit. In vollkommener Übereinstimmung von Rede und Handlung, von Wort und Tat erschafft sie ihr Selbst, und zwar als ein einheitliches, indem sie sich, oder besser gesagt indem sie dieses Selbst vernichtet. Sie stellt das Bild von sich wieder her, indem sie sich tötet.
Der Schleier ist heute, soweit ich weiß, ausnahmslos in arabischen Gesellschaften akzeptiert und teilweise auch gefordert. Er ist ein Attribut der Frau. Das Weibliche ist das Verschleierte. Durch den Schleier soll der Blick unterbunden werden. Aber die verschleierte Frau sieht die Blicke der anderen ja dennoch. Sie kann sogar unbeobachtet zurückschauen. Und der Mann schaut ja trotz des Schleiers hin, er ist womöglich umso neugieriger. Verschleierung soll, so die gängige Interpretation, das Begehren des Mannes im Zaum halten. Es gibt allerdings auch eine Verschleierung, die gerade in westlichen Gesellschaften besonders stark ausgeprägt ist, die Kleidung. Kleidung dient kaum noch ihrer ursprünglichen Funktion, dann bräuchten wir nicht fünf Mäntel und zehn Paar Schuhe. Die Kleidung ist ein Spiel mit der Nacktheit. Auch hier geschieht die (Ver-) Kleidung vor allem auf dem Körper der Frau. Frauen müssen jederzeit sexy, erotisch und begehrenswert sein. Der weibliche Körper wird in taillierte Kleider gezwängt, Frauen stöckeln mit hohen Absätzen und Hotpants durch die Gegend und zeigen in manchmal geradezu grotesken Dekolletés ihre Brüste in der Öffentlichkeit herum. Auf ihren Körpern findet ein Spiel statt, das zwischen Enthüllung und Verbergen changiert, zwischen Verheimlichen und Veröffentlichen. Dieses Spiel ist ein Spiel mit dem Blick des anderen. Das Gesicht ist der Ort, an dem dieser Blick aufgenommen, erwidert oder abgewiesen wird. Wenn Blicke nicht zugelassen werden, dann wird das Begehren nicht zuglassen. Das Begehren zu sehen und zu erkennen. Zu sehen, wie der andere aussieht und zu erkennen, wer er ist. Während der Schleier arabischer Gesellschaften das Weibliche in den Hintergrund drängt, um das Begehren im Zaum zu halten, will die Verkleidung westlicher Gesellschaften das Weibliche in den Vordergrund rücken, um dieses Begehren gerade zu entfachen.
Und wie man der einen Gesellschaft vielleicht vorhalten könnte, sie habe keine Vorstellung von der Lust, so könnte man der anderen vorhalten, sie habe keine von der Scham. Aber womöglich zeigt sich in den Schlafzimmern beider Gesellschaftsmodelle, dass sie sehr wohl einen Begriff vom jeweils anderen haben. Die scheinbare Zügellosigkeit westlicher Lebensformen, die Ausrottung der Intimität durch Voyeurismus, zieht möglicherweise die Mauern der Schamhaftigkeit umso höher. Auch die Gegensätze Lust und Scham müssen in einem Verhältnis zueinander stehen, sonst sind sie keine Gegensätze und eröffnen keine Unendlichkeiten, sondern lediglich Abgründe.
Das Gespräch zwischen Joelle und Gately dreht sich um dieses Thema, um Sehen und Verbergen, um Begehren und Entbehren, um den Blick und die Lust, die den Schleier lüften, und um die Scham, die ihn aufrechterhalten will. Eingeleitet wird es mit dem scheinbar absurden Beispiel einer Frau, „bei der jedes Bein kürzer war als das andere“. Bei einem Vergleich dient in der Regel die eine Seite als absoluter Wert, an der die andere Seite gemessen wird. Diese Relation zwischen Maß und Gemessenem fällt hier aus: beide Beine sind kürzer! Wittgenstein sagte einmal, und es ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass DFW diese Stelle kannte: „Man kann von einem Ding nicht aussagen, es sei 1 m lang, noch, es sei nicht 1 m lang, und das ist das Urmeter in Paris.“ Ein wenig verkürzt (!) ausgedrückt: Man kann das Maß an das zu Messende halten, aber danach das Gemessene an das Maß zu halten, ist sinnlos. Mehr noch, es ist absurd. Weil man dann überhaupt keine Aussage mehr treffen kann, weder über das Maß noch über das Gemessene. In der Behauptung jedes Bein sei kürzer als das andere fällt das Maß weg, und damit der absolute Wert, an dem der relative gemessen werden könnte. Ein wenig gestreckt (!) könnte man sagen: genau darum dreht sich auch das folgende Gespräch zwischen Gately und Joelle, um den Wegfall jeglichen Maßes, um Maßlosigkeit. Es geht um Schönheit und Entstellung. Und damit um ein Sujet, für das es kein Maß gibt.
Dieses Gespräch hat zwei Ebenen. Beide Ebenen sind gleichzeitig präsent. Auf der ersten Ebene will Gately von Joelle lediglich die Erlaubnis zu fragen, was sich hinter dem Schleier verbirgt. Sie soll mit Ja oder Nein antworten. Auf dieser Ebene erhält er eine indirekte, ablehnende Antwort. Trotz dieser Ablehnung fragt er, das ist die zweite Ebene, dennoch nach ihrer konkreten Entstellung. Und auf dieser Ebene erhält Gately, trotz der Ablehnung auf der ersten Ebene, auch eine Antwort. Weil er die Ablehnung auf der ersten Ebene erhalten hat, nimmt er die Antwort auf der zweiten Ebene auch nicht ernst. Obwohl er dort genau das zu hören bekommt, wonach er gefragt hatte. Die beiden Ebenen hemmen sich gegenseitig.
Gately will wissen was „fehlt“. Er wird mit seinen Fragen immer direkter „darf ich fragen, wie du entstellt bist?“, und dann fragt er ganz konkret, „was dahinter los ist, ob du schielst oder einen Bart hast“. Joelle antwortet auf seine Fragen nicht mit einer konkreten Auskunft zu ihrem Aussehen. Sie erklärt ihm stattdessen sehr genau die Gründe für das Tragen des Schleiers mit ihrer Mitgliedschaft in der L.A.R.V.E., der „Liga der Absolut Rüde Verunstalteten und Entstellten“. Deren Mitglieder erklären, indem sie den Schleier anlegen, „dass sie ihre Sichtbarkeit zu verstecken wünschen“. Hinter dem Schleier versteckten die Entstellten nicht nur ihr Gesicht, sondern ihre Scham darüber, sich verstecken zu wollen. Komprimiert heißt das: „Du versteckst dein Verstecken.“ Joelle zeigt Gately, dass bei ihm genau dieselbe Struktur vorliegt, wenn er glaube, er sei nicht plietsch genug, sich seiner Unplietischigkeit schäme und sie vor anderen zu verbergen suche. Danach geht das Gespräch wieder zu Joelle über und sie antwortet auf die konkreten Fragen schließlich mit einem Paradoxon. Wie immer ihre dann folgenden Formulierungen in der konkreten Situation und im Roman zu bewerten sind, da es diverse Anspielungen auf einen Säureangriff gibt, sie beantwortet die Frage sogar drei Mal direkt hintereinander: „Ich bin dermaßen schön, dass ich jeden fühlenden Menschen ganz einfach um den Verstand bringe. […] Ich bin so schön, dass ich entstellt bin. […] Ich bin vor Schönheit entstellt.“
Was ist denn Schönheit? Ist das Faszinierende an ihr das Enthüllende? Oder ist es vielmehr das Rätselhafte, das Verschleierte und Verkleidete? Schönheit bei Menschen ist keine abstrakte Schönheit. Der Betrachter fühlt sich hingezogen, oder sogar hineingezogen. Er taut auf und schmilzt dahin. Womöglich fühlt er sich auch abgestoßen von zu viel Schönheit und Oberfläche. Die Frage nach Schönheit wird die U.S.S.M.K., die die Wimpern Marios vor Verlangen die Wände hochgehen lässt, anders beantworten als Gately. Joelle war als junge Frau ungewöhnlich schön – es sind nicht viele Schönheiten, die dieses Buch bevölkern, spontan fällt mir nur noch Avril ein und die Schönheit dieser beiden Frauen wird wohl einer der Gründe sein, warum sie einander nicht mochten – inzwischen liegen aber Jahre des Crackrauchens hinter ihr. Aus dem schönen Gesicht ist wohl ein zumindest beanspruchtes Gesicht geworden. Sie hat vermutlich, wie die vielen Junkies in diesem Buch, wie Hal und sein Vater, miserable Zähne. Wenn sie noch welche hat.
Wie ist dieses Gespräch für die Figur der Joelle zu bewerten? Liegt ihr Reiz, nicht nur in dieser Situation, sondern auch in dem Film, womöglich gerade in dieser Ununterscheidbarkeit, in der Gleichzeitigkeit einander ausschließender Gegensätze? Ununterscheidbarkeit, die anhält, solange sie den Schleier trägt. Nach der Schlägerei und der Verletzung Gatelys sagt Joelle, dass sie sich nach langer Zeit zum ersten Mal vorstellen könne, den Schleier abzulegen. Das legt eher die Vermutung nahe, dass sie nicht etwa befürchtet ihr Gegenüber erstarre vor Schreck oder Anbetung. Das Anlegen des Schleiers hat wohl etwas mit dem Beziehungsende zu Orin zu tun, mit dem Ende einer Liebe und wenn sie jetzt an das Ablegen des Schleiers denkt, bedeutet das womöglich eine neue Liebe: Gately. Mit dem Ablegen des Schleiers käme nicht nur etwas ans Licht, die konkrete Entstellung, es verschwände auch etwas anderes, die Indifferenz, die Ununterscheidbarkeit. Vielleicht ist es gerade das, vor dem Joelle zurückschreckt. Als Madame Psychosis hatte sie in ihrer Radiosendung aus einer Schönheitsbroschüre folgenden Satz vorgelesen: „Die Wichtigkeit einer Maske liegt darin, den Kreislauf anzuregen.“ Also in übertragendem Sinne, Vorstellungen anzuregen und Phantasien zu beflügeln. Damit hätte es, wenn die Maske fällt, ein Ende.
Interessant in diesem Zusammenhang ist die Frage, was mit Joelle nach der Beziehung zu Orin geschehen ist. Denn zuvor war sie lediglich ungewöhnlich schön, aber noch nicht, was sie jetzt ist: lähmend schön oder lähmend abstoßend oder lähmend unentschieden. Ist die Faszination dieser Frau im Film vielleicht eher darin zu suchen, was Marathe vermutet, dass „Reiz plus Dichte“ zu viel für den Betrachter sei. Somit wäre die Wirkung der Joelle im Film eher in den Fähigkeiten des Regisseurs als in denen seiner Darstellerin zu suchen. Die Fläche für Projektionen – Kinoleinwand und Gesichtsschleier fallen hier zusammen – ist jedenfalls, solange man nichts sieht, außerordentlich groß. Vielleicht ist es gerade dies, was sich als das Lähmende erweist. Ähnlich wie in der Eifersucht, wo nicht der Betrug das Lähmende ist, die Tatsache, das Ja oder das Nein, sondern die Unsicherheit, ob er tatsächlich stattfindet. Die Unsicherheit über den anderen und die Unmöglichkeit Treue oder Untreue voneinander zu unterscheiden, da beides gleichermaßen möglich ist.
Welche Begriffe man auch nutzen mag – Unsicherheit oder Indifferenz oder Gegensätzlichkeit oder Dichotomie oder Gleichzeitigkeit – man könnte dies noch weiter treiben, bis hin zur modernen Physik und zur Unschärferelation. Ja sogar bis zu einer geschlechtlichen Unschärferelation: An einer Stelle wird Joelle einmal Jo Elle genannt. Ist sie vielleicht ein Mann (eine Frage, die letztlich wohl nur Jesus Jerkoff beantworten kann)? Orin, der Frauenheld, der gar nicht genug Sexualobjekte akquirieren kann und der ihnen nach dem Sex eine Acht auf die Flanken malt, das mathematische Zeichen für Unendlichkeit; Orin ist nicht einmal in der Lage die massive Erscheinung der Helen Steeply als einen transvestierten Mann, Hugh Steeply, zu identifizieren. Helen, der permanent die Brüste verrutschen, die offenbar nichts Feminines an sich hat und deren einziges weibliches Accessoire ihre Handtasche ist. Und zwar das Innere der Handtasche (!), welches von Spezialisten des Agentenwerkes „zur Herstellung des Weiblichkeitseffekts“ (S. 621) hergerichtet wurde. Weiblichkeit wäre dementsprechend nichts Äußerliches, sondern etwas Inneres, etwas Inwendiges und Verborgenes. Liegt der Reiz der Joelle vielleicht gerade darin, dass sie gar keine Frau ist?
Eine andere Möglichkeit zur Interpretation zeigt sich, als die angebliche Helen Steeply in der E.T.A. zu Besuch ist und für ein Interview recherchiert. Sie fragt nach dem Akademiegründer und seiner Tätigkeit als Filmemacher. Poutrincourt antwortet darauf, dass Incandenza die Arten des Sehens analysierte: „Die Analyse galt weniger der Frage, wie man etwas sieht, als der Beziehung zwischen Seher und Gesehenem. Das setzte er auf die vielfältige Weise auf den verschiedensten Gebieten um.“ (S. 979) Möglicherweise, damit sind dann auch die Grenzen der Interpretation erreicht und die Strapazierbarkeit des Motivs der Gegensätzlichkeit ebenso, hatte man als Betrachter dieses Films nicht nur das Gefühl etwas zu sehen, sondern auch das, gesehen zu werden.
Was sehen wir denn, wenn wir einander ansehen und wenn kein Schleier uns hindert? Unser Äußeres ist das Äußere unseres Inneren. Und nicht irgendein anderes Äußeres, ein arbiträres, willkürliches, zufälliges. Wir sind daran gewöhnt, als unser Ich oder unser Selbst zu empfinden, was wir sehen. Vielmehr, und das macht die Sache etwas kompliziert, das als unser Selbst zu empfinden, was wir nicht sehen; unser Selbst ist das, was die anderen sehen. Was wir sehen, ist das Selbst der anderen. Dieses Selbst ist keines, das von allen anderen separiert ist. Es ist keine solipsistische Konstruktion. Das eine Selbst entsteht vielmehr an den Grenzen zu den anderen: durch deren Zuschreibungen und Spiegelungen. Wir bekommen unser Selbst – vor dem Spiegel oder in irgendeiner anderen reflexiven Verfahrensweise – nicht so zu greifen, wie andere es uns begreifen lassen. Strenger formuliert könnte man sagen, dass ein Selbst nur dort das eigene Selbst ist, wo wir es durch einen anderen begreifen.
Gately fragt nach einer binären und abstrakten Opposition (Ja – Nein, Entweder – Oder) und kann die binäre konkrete Antwort (Sowohl – Als auch) erstaunlicherweise nicht deuten. Dass Gately ganz direkt fragt „darf ich fragen, wie du entstellt bist?“, ist, so empfinde ich das, keine unstatthafte Neugier. Er will sich ein Bild machen, nichts weiter. Ich lese dieses Gespräch der beiden als eine, allerdings ziemlich ungewöhnliche Liebesszene. Joelle reagiert darauf, indem sie sagt, dass sie sich vorstellen könne den Schleier abzulegen. Das verleitet mich zu der Annahme, dass sie zu derselben Interpretation dieses Gesprächs kommt wie ich auch. Wie Gately darauf reagiert, weiß ich noch nicht. Das ist der Preis des chaotischen, mobilierten Erzählens: die einzelnen Mobileteile und Bilder sind schnell mal wieder viele hundert Seiten lang weg; Gately ist, nachdem er angeschossen wurde, nicht wieder in den Vordergrund getreten. Möglicherweise wird er auf das von Joelle formulierte Paradoxon, den Zusammenfall der Gegensätze, reagieren. Diese Reaktion wäre möglicherweise die erste Wahl, wenn es um die weitere Einordnung des Begriffes Unendlichkeit im Zusammenhang mit der Schönheit Joelles geht. Schönheit ist – Urmeter hin oder her – immer auch eine Erfahrung der Maßlosigkeit. Und, mit meinem oben dargelegten Ansatz, auch eine Grenzerfahrung des Ich. Weil wir in der Schönheit, zumindest in der optizentristischen Variante, auf den Blick des anderen angewiesen sind. Um uns selbst und um den anderen zu erfahren. Selbst in der O.N.A.N.ie ist der andere absolut irreduzibel für die Selbst-Erfahrung.
Um mit den Worten DFWs zu enden, natürlich im Rahmen meines Themas, Gegensätzlichkeiten als Möglichkeit das Unendliche zu fassen: „Je näher die Konkretisierung rückt, desto abstrakter wird sie.“ (S. 344) Das ist mehr als bloß witzig. Kurz vor einer Prüfung oder einem wichtigen Termin kann man sich das Bevorstehende kaum noch vorstellen. Vielleicht, weil da keine Vorstellung mehr vonnöten ist? Ganz nah am Gesicht eines anderen, verschmilzt dieses andere mit dem eigenen Gesicht und das andere Selbst mit dem eigenen. Vielleicht, weil da keine Vorstellung mehr vonnöten ist? „Vielleicht“ ist eine komfortable Mitte zwischen Ja und Nein. Aber letztlich unbefriedigend.
1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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85 Kommentare zu Verschleierung und Enthüllung
wolf schwarzkopf
16. November, 2009 um 11:47
@ clemens setz
danke, das ist mir entfallen, also doch clowork orange.
denken sie an gründe, wie
a) weil man sich eben nicht erkennt so dicht vorm spiegel, nicht erkennen kann?
(denken sie an die hier besprochene spiegelozillation, das messer und/oder das ich, hase/ente bei wittgenstein?)
b) als menschliche schwäche/angst gatelys?
c) das paradox, durch erkennen handlungsunfähig/gelähmt zu sein?
NO
16. November, 2009 um 13:34
Liebe Alea Torik,
ich vermisse Sie (auch). Ich „stecke“ in Konferenzräumen und Besprechungszimmern, Büros und Kanzleien, bei Kollegen, Gegnern, Banken und Kaufleuten und verkaufe Unternehmen und backe also meine Brötchen, danke für die Nachfrage, ich war, als ich heute erstmals wieder einen kleinen Blick riskieren konnte, ein bisschen, darf ich das so sagen (?), gerührt und will Sie nicht ohne Zwischennachricht lassen: Nein, nein, nicht herausgefallen, nur abgelenkt.
Zwischendurch nur soviel, ich habe auch Verständnisprobleme: Ihr Thema (bzw. Ihr Ausgangspunkt schon in Chaos und Kosmos) ist Unendlichkeit. Ich aber tue mich schwer mit deren Bedeutung hier im Roman nicht und in dem Gegensatzpaar Enthüllung/Verschleierung bzw. Schönheit/Entstellung. Ja: Unendlichkeit und Schönheit haben beide Elemente der Maß-Losigkeit; ja: Die Gately/Joelle-Szenen bilden eine Liebesgeschichte (und die ist wunderschön erzählt, auch und gerade bei der Verwundung des Dons, der ihren Geruch wahrnimmt); ja: Schön ist man immer nur in den Augen der Betrachter. Aber erklärt das etwas?
Vielleicht ist deswegen nach wie vor mein Thema ist Erlösung. Wenn Joelle den Schleier ablegt, liebt sie, da wäre ich bei Ihnen, aber für mich geht es genau darum, nicht um Undendlichkeit. Ich verstehe das unendliche Spaßhaben als andauernde Belärmung mit Seichtig- und Nichtigkeiten, was letztlich in Abhängigkeiten, Leere und Einsamkeit führt. Es geht nicht um Unendlichkeit, sondern um die Abwesenheit von Ernsthaftigkeit. Um das Fehlen von Gewicht. In diesem Buch wird auffällig wenig davon erzählt – das Buch verhüllt und verschleiert also -, was das Leben ernsthaft ausmacht. „Ich bin durch Schönheit entstellt“ und trage deswegen eine Maske hat für mich mehr mit den Schwierigkeiten von Sinnfindung zu tun als mit Penthesilea.
Mithin, liebe Joelle, habe ich folgende Gedankensplitter, die ich (für mich) in Ihrem Beitrag vermisse:
– Was ist mit der Braut? Der Schleier ist auch der (westliche) Brautschleier (nicht nur das Brauchtum der Muslima), welcher sogar textlich erwähnt ist;
– der Schleier ist auch Synonym für die Larve ganz allgemein, also nicht (nur) weiblich, und wir alle begegnen uns in der Regel nur maskiert;
– und insofern hätte ich es schon toll gefunden, wenn Stefan Bender sich intensiver zu Robert Enke geäußert hätte;
– da Schönheit nicht messbar ist, geht es vielleicht gar nicht um äußere Schönheit, also Äußerlichkeiten, sondern im Gegenteil um …?;
– Warum werden denn eigentlich Liebe, Sex, Kinder, Freundschaft, Anwesenheit von Eltern überhaupt nicht beschrieben?
Beste Grüße
NO
Stephan Bender
16. November, 2009 um 18:52
@ NO:
“- und insofern hätte ich es schon toll gefunden, wenn Stefan Bender sich
intensiver zu Robert Enke geäußert hätte…”
Lieber NO, das hätten Sie bestimmt nicht toll gefunden. Das kann ich Ihnen
versichern, weil ich recherchiert habe. Es war primär keine Depression,
sondern eine beginnende Schizophrenie, die schubweise auftritt. Robert Enke
hatte am Vorabend in Hannover mit Frau und Kind auf dem Arm eine Schau mit
plastinierten Leichen besucht; das hat ihn letztlich umgebracht. (Weitere
Einzelheiten erspare ich mir hier mal…)
Auf der anderen Seite: Seine Frau Teresa, die Menschen um ihn herum und in
ganz Deutschland haben sich wirklich toll verhalten, die Trauer auf den
Rängen des Stadions war echt. Man muss den Menschen ihre Gefühle lassen und
daher sagt man auch über einen Toten nachträglich nichts Nachteiliges.
War das intensiv genug?
Aléa Torik
16. November, 2009 um 22:13
Lieber Clemens Setz!
Als Sie die Hinrichtung Fackelmanns beschreiben, sagen Sie über Gately vor dem Spiegel „anstatt sich selbst … zu erkennen, verliert er das Bewusstsein“.
In diesem Blog sind einige Formulierungen gemacht worden, die mir gefallen haben. Es sind ja auch sprachbegabte Leute unterwegs. Was Sie da sagen, gehört mit zum Besten. Bedauerlicherweise betrifft das, was Sie beschreiben, nicht nur Gately, nicht nur die am Boden Liegenden, sondern sehr viele Menschen, auch die so genannten Aufrechten. So dass man beinahe von einem allgemeingültigen Verhalten sprechen könnte. Sie bringen das auf den Punkt: der moderne Mensch verliert vor dem Spiegel, statt sich selbst zu erkennen, das Bewusstsein.
Aléa Torik
16. November, 2009 um 22:14
Lieber Herr Schwarzkopf!
Wenn der Spiegel quadratisch ist, dann sieht man das, was man sieht im Quadrat. Also zum Quadrat, nämlich potenziert. Sehr interessante Überlegungen zu Perspektive und Mathematik, die Sie da anstoßen. Man müsste sich einmal die Spiegelszenen daraufhin anschauen, was da genau gespiegelt wird. Und die quadratischen Szenen, was da quadriert wird.
Perspektivische Probleme hat auch Hal, als er auf dem Boden liegt und nach Worten sucht. Als der hyperbegabte Hal Incandenza regredierend auf dem Boden liegt und sich an Mama und Papa erinnert.
Aléa Torik
16. November, 2009 um 22:16
Lieber Herr Jerkoff!
Vielen Dank für das schöne Gedicht!
„und wer von Morgenstern geklaut / der wird verhaut!“ Hätte es grammatisch korrekt nicht heißen müssen: wer vom Morgenstern geklauen / der wird verhauen?
Aber das müssen Sie sich jetzt wirklich nicht von einer Ausländerin bieten lassen. Bei den Gedichten hat‘s letztens schon schwere Missverständnisse gegeben, als ich mit Celan geprahlt und dann eine Zeile von Herrn Wiegold, der mir eben diesen Celan unter die Nase gerieben hat, falsch interpretiert habe.
Aléa Torik
16. November, 2009 um 23:19
Lieber Herr NO!
Eine ausführliche Antwort bekomme ich heute Abend nicht mehr hin. Aber wenn Sie morgen in der Mittagspause mal einen kleinen Blick werfen, dann finden Sie wenigstens ein paar Worte von mir. Jetzt hätte ich irrtümlicherweise beinahe das Adjektiv freundlich benutzt. Aber das müssen Sie vergessen.
Sie bringen Argumente. Argumente gegen meine und für Ihre eigene These. Kennen Sie diese Formulierung „Argumente überzeugen niemanden“? Ich weiß nicht mehr wer das gesagt hat. Aber er hatte recht. Argumente sind gewalttätig. Sie zwingen dem Gegenüber den eigenen Willen und die eigene Meinung auf. Sie zwingen ihn dazu mit ebensolchen gewalttätigen Gegenreaktionen aufzuwarten. Aus dem einfachen Gegenüber wird ein Gegner. Aus Frieden wird Krieg.
Die Literaturwissenschaft ist ein ganz friedliebendes Fach. Sie müssen jetzt mal kurz vergessen, was ich über das Lacan-Seminar in Bukarest gesagt habe: dass da keiner der damaligen Teilnehmer heute noch mit irgendeinem anderen redet. Manchmal, wenn ich abends im Bett liege und an die Decke schaue und mich frage wie ich eigentlich hierhergekommen bin, dann denke ich vielleicht war das ausschlaggebende dieses Seminar. Ich weiß es noch nicht wie ich auf ich Ihren Kommentar reagiere. Entweder auf die allerfriedlichste Weise, indem ich Ihnen Blumen entgegen streue und Sie ij meine Gebete einschließe. Oder ich werde richtig schweres Geschütz auffahren und die aggressiv überzeugende, rechthaberische Kanzleien und Anwaltstrategie, .. jetzt weiß ich gerade nicht wie ich den Satz beenden soll.
Was sind das für Unternehmen die sie da verhökern. Sind das vielleicht große Publikumsverlage? Ich könnte mich da sehr gut als Geschäftsführerin erkennen, mit einer recht genauen Vorstellung von meinem Büro und einer noch genaueren von der Literatur ich die machen würde. Gnade Gott den anderen Verlagen wenn ich mal einen in die Hand bekomme. Dann wird in diesem Land gute Literatur gemacht. Und wenn ich die alle selber schreiben muss!
Das sind nur so kleine Fingerübungen die ich mache. Für meine morgige Antwort auf ihren Kommentar. Nein, nicht Morgen, da bin ich verabredet. Übermorgen. Bis dahin werden sie sich ja wohl einen Verlag unter den Nagel gerissen haben den Sie mich dann leiten lassen können (ich kann nur leider eben nicht rechnen. Also so gar nicht, meine ich. Ich kann nicht einmal richtig bis drei zählen.
NO
17. November, 2009 um 14:53
Liebe Alea T.!
wenn ich denn wählen dürfte, wollte ich bitte die Blumen; immer die Blumen! Und nun warte ich auf sie. Ein Vergnügen zu erwarten ist auch ein Vergnügen.
Liebe Grüße
Ihr
NO
NO
17. November, 2009 um 15:25
Lieber Stephan Bender,
I misspelled your name. Sorry!
Danke für die Info, das wusste ich natürlich nicht, und in der Tat, d i e Einzelheiten ersparen wir uns lieber.
Zeitgleich mit den Nachrichten über Enkes „Depressionen“ las ich zufällig gerade die entsprechenden Seiten bei Wallace über Leere in der Seele und über den „weißen Hai“, die „Fäulnis der Seele“ (was für eine grandiose Formulierung!). Das war „die Wirklichkeit schlägt zurück II“. Und zeigt nebenbei (für mich) die Aktualität dieses Buches – und insofern bin ich nicht ganz so bei Hans Wedler und seinem großartigen Kommentar „Rückspiegel“.
Robert Enke und der Verlauf seiner „Depressionen“ hätten hier (bei Penthesialea) für mich gepasst. Er hat nichts gesagt, er hat es verschleiert. Er hat sich nicht in die Seele blicken lassen. Er hat sich nicht geöffnet. Das sind wir alle. Denn zum lebenden Öffnen gehört wohl, den Schleier abzulegen. Aber sich öffnen und Blicke auf die eigenen Entstellungen und Unschönheiten zuzulassen („zeig‘ mir Deine Wunde“) ist ohnehin schon schwer, erst recht, wenn dies nicht aus einer Position der Stärke heraus geschieht.
Beste Grüße
NO
Stephan Bender
17. November, 2009 um 18:52
@ NO:
Danke. Was die die Lüftung des Schleiers angeht…
„Wenn Sie äußerlich attraktiv genug sind, werden die Leute Ihnen dafür den irritierenden Kern ihrer Persönlichkeit vergeben.“
(Amerikanisches Sprichtwort)
JesusJerkoff
17. November, 2009 um 20:45
Liebe Frau Torik,
woher wollen Sie wissen, daß Sie für mich eine Ausländerin sind, wenn Sie noch nicht einmal wissen, woher ich komme? Vielleicht bin ich ja auch von dieser Erde ;-)
Und danke, für das Lächeln, also jenes, welches Sie mir machen, jetzt grammatisch so.
Was mir noch nicht ganz klar ist, ist Ihr Spiegelproblem. Wenn es denn Eines ist. Das ist aber viel einfacher, als mit den Hausarbeiten. Stellen Sie zwei Spiegel parallel zueinander vor, die spiegelnde Fläche einander zugewand. Wenn sie sich zwischen diesen Spiegeln bewegen, sehen sie je nach Standpunkt sehr viele Frau Toriks und wenn sie genau die Mitte betrachten, werden Sie unendlich. Dummerweise ist da immer Ihr Kopf dazwischen, also müssen Sie sich vorstellen, sie hätten einen Kopf aus Glas. Immer schön transzendieren. Aber dann geht es.
Dann hauen Sie mal weiter Ihre Bälle, wenn es Ihnen hilft, Herr Wiegold hat meinen Celan auch nicht erkannt. (sh. K & Z von Aléa T., Komm. 36, 37, 40, Oktober 2009, KiWi-Verlag)
Paul Celan, Titel/Datum unbekannt:
„In den Flüssen nördlich der Zukunft
werf ich das Netz aus, das du
zögernd beschwerst
mit von Steinen geschriebenen Schatten.“
Mein Dartpartner ist da und zerrt an mir
Stephan Bender
17. November, 2009 um 23:53
@ Alea Torik: Reprise…
Manchmal, wenn der Wagen eine ansteigende Straße zwischen bestellten Feldern erklomm, sah man am Wege hier und da ein paar zögernde Kornblumen auftauchen, die ganz denen in Combray glichen und die den Äckern eine Art erhöhter Wirklichkeit gaben, gleichsam eine Echtheitsgarantie wie jene kleinen Blüten, mit denen gewisse alte Meister ihre Bilder signierten. Bald trugen uns unsere Pferde von ihnen fort, aber ein paar Schritte weiter trafen wir andere an, die in Erwartung unseres Kommens ihren blauen Stern in das Gras gestickt hatten; manche stellten sich keck an den Straßenrand, und ein Sternennebel bildete sich in mir aus fernen Erinnerungen und diesen so zutraulich nahen Blumen. Wir fuhren wieder den Hügel hinab; da trafen wir dann – zu Fuß, auf dem Fahrrad, auf einem Karren, im Wagen – immer wieder eines jener Geschöpfe an, die wie natürliche Blüten eines so schönen Tags und doch nicht wie Blumen der Felder sind, denn jede birgt in sich etwas, was in der anderen nicht ist und uns daran hindert, mit nur ihresgleichen jenes Verlangen zu stillen, das sie selbst in uns erstehen lässt: irgendein Landmädchen, das seine Kuh vor sich hertreibt oder auf einem Bauernwagen halbsitzend gelagert ist, die Tochter eines Ladenbesitzers, die einen Spaziergang macht, die elegante junge Dame im Landauer auf dem Rücksitz den Eltern gegenüber. […]
Der Wagen der Marquise fuhr schnell. Ich hatte kaum Zeit, das Mädchen zu sehen, das uns entgegenkam; und doch – denn die Schönheit der menschlichen Wesen ist nicht wie die der Dinge, wir spüren vielmehr genau, dass sie der Zauber einzigartiger, bewusster und eigenwilliger Geschöpfe ist – sobald ihr individuelles Sein, eine nur geahnte Seele, ein mir unbekannter Wille, in einem auf wunderbare Weise verkleinerten und doch vollständigen Abbild auf dem Grunde ihres zerstreuten Blicks erschien, fühlte ich in mir – eine geheimnisvolle Entsprechung des für den Blütenstempel bereits vorgerichteten Pollens – in embryohafter, ebenso winziger Form den Wunsch entstehen, dies Mädchen nicht vorübergehen zu lassen, ohne dass ihr Bewusstsein meine Person in sich aufnähme, ohne dass ich ihre Wünsche hinderte, einem andern zuzustreben, oder mich in ihren Träumen ein genistet und an ihr Herz gerührt hätte. Unser Wagen entfernte sich inzwischen wieder, das schöne Mädchen blieb hinter uns zurück, und da sie von mir keine der Vorstellungen besaß, aus denen eine Person sich zusammensetzt, hatten ihre Augen, die mich noch kaum erblickt, mich auch schon wieder vergessen. Lag es an dieser nur so flüchtigen Vision, dass sie mir so schön erschienen war? Vielleicht. Schon die Unmöglichkeit, bei einer Frau zu verweilen, die drohende Gefahr, ihr nie wieder zu begegnen, verleihen ihr plötzlich den Reiz, den ein Land in unseren Augen durch Krankheit oder Armut bekommt, die uns unmöglich machen, es aufzusuchen, oder die letzten überschatteten Tage, die uns zu leben bleiben, durch den Kampf, in dem wir zweifellos unterliegen werden. So müsste, wäre nicht die Gewohnheit dafür ein Hindernis, das Leben denen köstlich erscheinen, die täglich vom Tode bedroht sind – allen Menschen demnach. Auch ist der Schwung der Phantasie, vom Verlangen nach dem beflügelt, was wir nicht haben können, noch nicht durch ein vollkommenes Erfassen der Wirklichkeit eingeengt, wenn es sich um solche Begegnungen handelt, bei denen denn auch die Reize der Vorübergehenden im allgemeinen im direkten Verhältnis zu der Schnelligkeit ihres Entschwindens stehen. Wenn es dunkelt und der Wagen fährt rasch, gibt es in Land und Stadt keinen weiblichen Torso, verstümmelt wie ein antikes Marmorbild durch unser rasches Vor überfahren und die ihn im Nu verschlingende Dämmerung, der nicht an jedem Kreuzweg im Feld oder aus der Tiefe eines kleinen Ladens Pfeile der Schönheit in unser Herz entsendet, jener Schönheit, um derentwillen man manchmal versucht ist, sich zu fragen, ob sie in dieser Welt überhaupt etwas anderes ist als das Komplement, das einer fragmentarisch geschauten flüchtig Vorübereilenden durch unsere von unerfüllter Sehnsucht überreizte Phantasie jeweils hinzugesetzt wird.
(Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit II, Im Schatten junger Mädchenblüte, Suhrkamp 1960)
platero y yo
18. November, 2009 um 02:32
Lieber Herr Jerkoff,
das von Ihnen zitierte Gedicht von Paul Celan heißt „IN DEN FLÜSSEN“, stammt aus dem 1967 erschienenen Band „Atemwende“, dort ist es im ersten Zyklus dieses Bandes zu finden, der 1965 bibliophil unter dem Namen „Atemkristall“ ediert wurde; es entstand am 16.10.1963. In Ihrer Version unterschlagen Sie übrigens quasi einen Vers durch einen fehlenden Zeilenumbruch vor dem „emphatisch akzentuierten Schlußwort“(W. Menninghaus, Paul Celan-Magie der Form, Frankfurt 1980)“Schatten“.
„Man muß das Gedicht in seinem Zeilenbruch nicht nur genau lesen, man muß es so auch hören. Celans meist sehr kurzzeilige Gedichte nehmen es damit sehr genau“ schreibt Gadamer zu dem Gedicht in seinem „Wer bin Ich und wer bist Du? Kommentar zu Celans „.
Da wir gerade bei Celan sind, da relativiert sich dann, denke ich, auch schnell Alea Toriks Aussage über die Literaturwissenschaft als „friedliebendes Fach“: erinnert sei an die sogenannte „Goll-Affäre“, den „Züricher Literaturstreit“, etc.
Enden möchte ich allerdings einerseits mit einer Entschuldigung an alle, die eher einen Kommentar zu Wallace erwartet haben, und andererseits mit einem meiner Lieblingsgedichte aus der „Atemwende“:
(ICH KENNE DICH, du bist die tief Gebeugte,
ich, der Durchbohrte, bin Dir untertan.
Wo flammt ein Wort, das für uns beide zeugte?
Du – ganz, ganz wirklich. Ich – ganz Wahn.)
wolf schwarzkopf
18. November, 2009 um 14:47
@ alea torik
kadrage
sehr geehrte frau torik,
da haben sie mir einen prächtigen ausblick auf erweiterung aufgezeigt.
und um den rahmen zu sprengen, habe ich sofort damit begonnen, einen quadratischen spiegel auf die straße zu stellen, im rechten winkel versteht sich und nun sind mir ganz andere einsichten der rückkoppelung im hereinkommen und herausgehen, bzw. zwischen buch und straße und spiegel möglich, was wiederum auf herrn jerkoffs anregung der spiegeltricks zurückzuführen ist. mal sehen, es ist ja erst mittwoch.
Rotieren
Der Himmel ist ein Auge.
Morgenrot und Abendrot sind das Blut, das das Auge speist.
Die Nacht ist das geschlossene Augenlid.
Jeden Tag öffnet sich das Lid, um Blut zum Vorschein zu bringen und die blaue Iris eines sich neigenden Riesen.
David Foster Wallace/KURZE INTERVIEWS MIT FIESEN MÄNNERN/S. 244
JesusJerkoff
18. November, 2009 um 16:40
Sehr geehrter Herr platero y yo (aka Jens)
vielen Dank, daß Sie mir da weitergeholfen haben. Das ist eines der wenigen Gedichte, die ich von Paul Celan kenne (abgesehen von dem Sie wissen schon), allerdings hatte ich es nicht in Schriftform parat, sondern nur als „Zerebraldampf“ (<– ein Wallace-Bezug). Der Titel des Bandes erinnert irgendwie an Stockholm 2009.
Und das von Ihnen, das muß ich erst mal sacken lassen. Aber schön.
Aléa Torik
18. November, 2009 um 21:16
Lieber Herr Bender!
Da haben Sie eine bezaubernde Stelle aus der „Recherche“ gefunden. Bei diesem Autor ergeht es mir so, dass ich bereits nach weniger Worten erkenne, dass es Marcel Proust ist.
„durch unsere von unerfüllter Sehnsucht überreizte Phantasie“: das ist so eine Formulierung, von der ich eine Gänsehaut bekommen kann. Ich freue mich, dass Sie das hierher gestellt haben.
Aléa Torik
18. November, 2009 um 21:17
Lieber Herr Jerkoff!
Sagen wir statt „mein Spiegelproblem“ lieber „zur Spiegelproblematik“. Und meinen Sie damit meine Äußerung gegenüber Herr Setz oder Herr Schwarzkopf?
Dieses Spiel, sich selbst zwischen zwei Spiegeln gefangen nehmen, sich unendlich potenzieren und steigern in immer kleineren Ausschnitten und sein Gesicht dabei gar nicht mehr zu fassen zu bekommen, dieses Spiel habe ich als Kind auch gespielt. Aber das ist vorbei. Ich bin jetzt erwachsen. Ich bin jedenfalls dabei, es zu werden. Oder zumindest dabei, zu glauben es zu werden und es eines Tages auch zu sein. Ich habe mit einer Aléa Torik, glauben Sie’s mir bitte, bereits genug zu tun, 24 Stunden am Tag und das jeden Tag. Mehr geht nicht. Weniger auch nicht. An einer potenzierten und gespiegelten Variante habe ich heute keinerlei Interesse mehr.
Sie haben übrigen vollkommen Recht, mir die flapsige Bemerkung, ich sei Ausländerin, anzukreiden. Die Unzulänglichkeit dieser Formulierung ist mir gar nicht aufgefallen. Aber als Sie mich darauf hingewiesen haben, fiel es umso deutlicher auf.
Aléa Torik
18. November, 2009 um 21:18
Lieber Herr Schwarzkopf!
Man muss alles nur im rechten Winkel betrachten, dann sieht man genau das, was man sehen will.
platero y yo
18. November, 2009 um 23:30
Lieber Herr Jerkoff,
gern geschehen, das war ja eine der leichteren literaturwissenschaftlichen Rechercheübungen, quasi propädeutische Erbsenzählerei, „Denkprophylaxe“ verglichen mit den großen Theorien und relevanten Diskursen, die hier sonst so manchmal auf der Tagesordnung stehen und mir den Kopf verdrehen. Beunruhigende Stille hier mittlerweile, liegt wohl hoffentlich am Whataburger Fußballturnier oder was war da heute nochmal los?
Lieber Herr NO,
sind Sie eigentlich der dem US entstiegene leibhaftige Achtziger-Bill? Dann passen Sie bitte beim Wetten auf!
Falls das mit dem Verlag noch klappen sollte, dürfte ich mich für Faktura bewerben, Debitoren- und Kreditorenmanagement, etc. oder soll ich das lieber mit Ihrer GF aushandeln? Bevorzugter Verlagsstandort wäre natürlich Frankfurt am Main, da wird sich doch ab Januar eine größere Lücke in der Verlagslandschaft auftun und ich spar mir die Zügelei. Vielleicht als Kiwiimprint?
Die üblichen Officeprogramme, SAP und so meinerseits sind größtenteils gebongt(der Rest wird in der Pfeife geraucht). Aber ich würde dann noch bitten den Herrn Blumenbach schon mal zu „aquirühren“, dann verlegen wir die preisgekrönte und noch nicht ins deutsche übersetzte Jenny Boully, da warte ich schließlich jetzt auch schon so lange auf die Übersetzung, wie ich auf den US warten musste. Ihr erstes Buch „The body“ ein Gedichtband über „Abwesenheit, Liebe, Ontologie und Identität – minus Text“ fast nur weiße Seiten, außer den Fußnoten! Für Herrn Blumenbach wäre diese Übersetzungsaufgabe wahrscheinlich fast wie eine Kur. Dann Ihr zweites Buch „(eine liebe affäre)“ eine Mischung aus Fiction, Essay, Memoiren in lyrischer Prosa über gescheiterte Beziehungen u.v.m. bis hin zum Crack-Rauchen, kennt er ja auch schon fast alles der geschätzte Ulrich Blumenbach, zumindest vom grobthematischen her.
Lieber Herr Graf,
was passiert hier eigentlich , wenn die 100 Tage vorbei sind? Geht dann das Licht hier aus? In der Politik geht es ja dann auch erst richtig los…
Ich plädiere für Relektüre als Zwangsmaßnahme(für die die ohnehin noch hier sind)!
Guido Graf
19. November, 2009 um 08:17
Die Seite wird voraussichtlich auch über die 100 Tage hinaus online bleiben.
Aléa Torik
18. November, 2009 um 23:42
Lieber Herr NO!
Wir haben da eine richtig schöne Konfrontation und ich freue mich darüber. Das zwingt einen, sich anhand der anderen Meinung mit der eigenen auseinanderzusetzen.
Sie beklagen (bitte verstehen Sie dieses Wort umgangssprachlich) das Fehlen mehrere Punkte in meinem Interpretationsansatz.
Das Fehlen von „Liebe, Sex, Kinder, Freundschaft, Anwesenheit von Eltern“. Ich gebe ihnen drei Antworten.
1) Ich habe das Buch nicht geschrieben, da müssen Sie den Autor fragen.
2) Wenn Sie schon fragen, dann fragen Sie doch auch gleich noch, warum eigentlich Cezanne angefangen hat, so komische Bilder zu malen. Warum dann auch noch van Gogh solche Bilder gemalt hat, warum Picasso so seltsame Perspektiven, warum Dali so seltsame Objekte gemalt haben und warum Malevitch und Rothko ….. Dies ist die Frage, warum diese Leute nicht einfach das getan haben, was alle vor Ihnen auch getan haben, nämlich die Wirklichkeit zu malen (ich bin keine Kunsthistorikerin, aber wenn Sie schon mal dabei sind zu fragen, dann fragen Sie doch bitte auch noch, ob Realismus, Naturalismus, ja, ob nicht sogar die Zentralperspektive bereits künstliche Methoden gewesen sind, diese angebliche Wirklichkeit darzustellen) und ob diese Wirklichkeit keine jenseits unserer apperzeptiven Fähigkeiten ist, das „Ding an sich“, sondern sich vielmehr dem Blick anpasst oder ihm widerstrebt und dass es also keine Wirklichkeit gibt, sondern lediglich die Wahrnehmung dieser Wirklichkeit. Darauf gibt es, glaube ich, zwei Antworten. Erstens: die Wirklichkeit hat sich verändert. Zweitens: die Art die Wirklichkeit zu sehen, sie zu beschreiben, zu formen und zu figurieren, sich ihr zu bemächtigen, sich vor ihr zu wehren, sich zu schützen, sie zu bewahren, sie zu zerstören, sie zu erschaffen … eine andere geworden ist. Anders ausgedrückt: das Verhalten, das ich gegenüber der Wirklichkeit einnehmen kann, ist weitaus differenzierter geworden und erfordert dementsprechend eine differenziertere Heransgehensweise. Fragen Sie ruhig und vergessen Sie darüber bitte nicht, mir die Antwort mitzuteilen. Wenn wir diese Antwort haben, dann reden wir darüber, warum die Literatur etwas Ähnliches macht wie die Malerei.
3) Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie treten an einem schönen Dienstag oder Donnerstag aus ihrem Büro einer großen internationalen Anwaltsozietät, einer Wirtschaftskanzlei, Sie treten nach einem raubtierkapitalistischen Tag auf den Bürgersteig und gehen nach Hause, nein, Sie fahren mit einem Porsche (die Farbe können Sie sich aussuchen). Ihnen tropft noch das Blut der zerfleischten Gegner und zerfledderten Opfer von den Lippen und jetzt, nach dem alltäglichen Gemetzel, wollen Sie sich ein bisschen ausruhen, Sie wollen entspannen, Sie brauchen Abstand von Ihrem grausigen Tagwerk. Sie wollen es sich gutgehen lassen. Zu Hause angekommen, betten Sie Ihren Rücken auf eine schöne Liege von Le Corbusier, dekantieren einen schönen Saint-Émilion aus dem letzten Jahrtausend und greifen zu einem schönen Buch und Sie wollen jetzt verdammt noch mal was mit „Liebe Sex und Eltern“ lesen. Sie wollen über Nächstenliebe und Freundschaft und gute, anständige Menschen lesen, die sich nicht betrügen, die sich nicht wehtun, die keine Geldprobleme haben und deswegen vielleicht auf dumme Gedanken kommen könnten, die aber auch nicht zu viel Geld haben und deswegen vielleicht auf ganz dumme Gedanken kommen könnten, und die vor allem nicht so dermaßen reich sind, dass man selbst auf den Gedanken kommen könnte, sie arbeiten in einer Bank oder internationalen Wirtschaftskanzlei: habe ich Ihre Erwartungen an die Kunst und die Literatur richtig verstanden, ja?
Das müssen Sie mir verzeihen! Mein bester Freund arbeitet bei MäcKinsey: solche Litaneien bete ich dem dauernd vor.
Aus den drei Antworten können Sie sich gerne ein einzige zusammen mixen.
Und jetzt zu Ihren erst gemeinten Anmerkungen.
– „Der Schleier ist auch Synonym für die Larve ganz allgemein, also nicht (nur) weiblich, und wir alle begegnen uns in der Regel nur maskiert“.
Ich kann nicht erkennen, dass der Schleier von Männern getragen wird. Die Äußerung, dass wir alle Masken tragen, hat nur eine relativ geringe Bedeutung, da wir ALLE Masken tragen. Wenn alle gedopt sind oder alle ungedopt sind, ist es einerlei, ob sie gedopt oder ungedopt sind. Das Problem beim dopen ist, dass man nicht weiß, wer dopt und wer nicht. Wenn alle maskiert sind, dann ist die Maske, das was wir sehen und was wir sind. Wer sagt, dass, wenn wir die Masken abnähmen: das Unverstellte, Echte dahinter wartet? Das was wir wirklich sind. Das ist doch das großartige an der Liebe: dass wir uns im anderen täuschen. Und das Furchtbare ist, wenn wir uns nicht mehr täuschen können. Und uns auch nicht mehr täuschen lassen wollen.
– „Was ist mit der Braut? Der Schleier ist auch der (westliche) Brautschleier (nicht nur das Brauchtum der Muslima), welcher sogar textlich erwähnt ist“.
Ich kann nicht erkennen, dass der Brautschleier hier eine Rolle spielt. Und ich kann nicht erkennen, dass der westliche (durchweg weibliche) Brautschleier heute noch eine Funktion hat.
-„Da Schönheit nicht messbar ist, geht es vielleicht gar nicht um äußere Schönheit, also Äußerlichkeiten, sondern im Gegenteil um …?“
Dazu hatte ich in meinem Text etwas gesagt: unser Äußeres ist das Äußere unseres Inneren. Wir sind gewöhnt, das als den andern zu erkennen, was wir sehen, wir wollen an seinem Äußeren, sein Inneres erkennen. An dem Bild, das wir sehen, sein Wesen oder seine Seele oder einfach nur seine Absichten, Wünsche und Sehnsüchte und Ängste.
Ich gehe hier übrigens nicht auf etwas ein, das mir nach wie vor durch den Kopf geht: Ihre Frage nach Aufstieg oder Erlösung. Ich mache das nicht, weil ich dazu in meinem nächsten Beitrag etwas sagen will. Aber vielleicht bekomme ich es nicht hin. Das weiß man ja vorher nicht.
Bitte glauben Sie nicht, dass ich Langeweile habe. Aber glauben Sie ruhig, dass ich beim Schreiben meiner Replik viel Spaß hatte.
NO
19. November, 2009 um 12:46
Meine liebe Penthesialea,
es ist schön im Gewitter der Rosen, aber Sie überschätzen mich bei Weitem. Was auch immer ich wohlmöglich für Sie sein könnte, eines ganz sicher nicht, ein würdiger Disputpartner in einer literarischen Konfrontation. Mir fehlt da wirklich einfach die Kompetenz. Ich lese viele Beiträge der Profis hier im Blog 167 Mal, bis ich eine Ahnung bekomme, was gemeint sein könnte, und bei achim szepanski hilft mir nicht einmal das.
Missverstehen Sie mich nicht: Was ich hier im Blog über dieses Buch und über Literatur allgemein gelernt habe, ist für mich „unendlich“ bereichernd, ich bin begeistert über die Belesenheit und den Kenntnisreichtum der anderen, z.B. bei achim szepanski, aber auch und gerade bei Ihnen (ich kannte keines Ihrer als herausragend gekennzeichneten 3 deutschen Bücher). Fragen und Anmerkungen sind eben oft lediglich Ausdruck von Unvermögen, Unverständnis, Hilflosigkeit – gepaart mit Begeisterung natürlich, sonst schwiege man.
Aber a l l e s ist ernst gemeint! Die Abwesenheit von Wesentlichem, das Fehlen von Liebe etc. hatte für mich nichts mit enttäuschter Leser- oder Kunsterwartung zu tun (im Gegenteil: Ich bin auch auf S. 1056 restlos begeistert), sondern dass ich deren Fehlen so auffällig finde, dass ich mir gewünscht hätte, einer der Profis sagt etwas dazu. Weil ich mich nämlich frage, ob das etwas mit Aufstieg und Erlösung zu tun haben könnte, und ob das alles eine Rolle spielt hier. Ich frage mich, ob ich hier in der Nähe des letzten Punktes (keine Lösung, keine Befreiung) bin in Hans Wedelers Liste von den Dingen, die ihm gefallen haben am US (Im Rückspiegel vom 15. 11.). Ich frage mich, ob ich mich in der Nähe von Stephan Bender befinde, der in seinem Kommentar zu Hans Wedler gesagt hat, die eigentliche Botschaft des Buches sei der Mangel an erlöserischen Motiven (und ob das eigentlich richtig ist).
Na ja, es wird dauern, das zu ordnen…
Ich freue mich sehr, dass Sie Spaß hatten. Übrigens: Ihre „MäcKinsey“, wie Sie die nennen, könnten die mit dem G-Punkt gewesen sein, oder?
Liebe Grüße
NO
Aléa Torik
19. November, 2009 um 13:46
Lieber Herr NO!
Ich sitze in der Bibliothek und musste nach einem Buch recherchieren. Also habe ich gleich mal bei mir zu Hause und hier nachgeschaut, was sich so tut.
Meine Metamorphosen in diesem Blog sind erstaunlich: vom (einfachen) Mann über Joelle, zur schlichten Hausfrau und Köchin bis hin zur Penthesilea. Ich bin gleich in der Mensa zum Mittagessen verabredet. Ich werd mal schauen, ob sich ein geeigneter Achill findet, der mich in den Suizid treiben könnte. Obwohl ich für Selbstmord heute eigentlich keine Zeit habe.
Penthesilea aus der Bibliothek
NO
19. November, 2009 um 14:04
You noticed the additional „a“, of course?
Aléa Torik
19. November, 2009 um 15:03
I did but I didn’t catch the meaning.
NO
20. November, 2009 um 19:32
Erlösung und so…
Liebe Alea P.!
Verschleierung hin, Enthüllung her, Unendlichkeit am Ende, alles schön und gut. Ich versuche es noch einmal anders herum:
Findet GOTT denn nun statt in diesem Roman?
Das frage ich anhand von zwei (für mich) tief intensiven Szenen: Zum einen Joelle und Gately, die Liebenden, zum anderen Don Gately, der Gläubige.
Ich lese (wie Sie) auf S. 766 ff. den Beginn einer der schönsten Liebesgeschichten. Denn die allererste Antwort, die Joelle dem Don Gately auf seine Frage nach ihrem Schleier gibt, ist: „Brautsache“.
Die Annäherung der beiden erfolgt auf S. 882 – 1040, das Ende ist (wohl) offen. Die Annäherung ist so zart und vorsichtig, so verwundert und tastend, so unauffällig und also so schön wie sie zärtlich zurückhaltend beschrieben (und übersetzt!) ist. Man bekommt das gar nicht so recht mit beim ersten oder zweiten Lesen: Gately befindet sich in einem monströsem Kampf, schweigend und mit aller Konsequenz geführt, äußerst brutal, es fließt Blut, Augen werden ausgestochen, Menschen sterben wohl, und dann wird er angeschossen auch noch und blutet stark, – atemlos verfolgt man das, ganz aufgeregt, und in einer wiederholenden Lesung fällt einem dann plötzlich die Parallelität zu der Schlägerei beim Eschaton-Spiel auf und man ist davon ganz begeistert und abgelenkt, – und dann beim dritten Mal sieht man plötzlich, was schon immer zu sehen war: Sie ruft seinen Vornamen, „was er mag“ (S. 886); er findet „sie riecht seltsam, aber gut“ (S. 889); und dann noch einmal, er ist halbtod, aber er bemerkt, „sie riecht gut“ (S. 891). Und dann streichelt sie ihn, nimmt sie sein Handgelenk: „ und sehet, sagte sie leise“. Und später im Krankenhaus an Gatelys Bett kann sie sich vorstellen, den Schleier abzunehmen und ihm „ihr Gesicht zu zeigen“ (S. 1020). Sie träumt von ihm, ist nun ohne Schleier und kann ihm ohne Scham ihre Wunde (die Crack-Zähne) zeigen.
Wie ist das beeindruckend Liebe-voll, wie kann der Wallace schreiben (und der Blumenbach übersetzen)!!
Sie träumt von ihm. Sie riecht gut. Sie berührt ihn. Sie sagt leise „und sehet“. — Und s e h e t? Moment mal, was ist das denn? Wie spricht die denn auf einmal? Und „sehet“? Ey, Leute, seht mal, der blutet! Würde sie doch eigentlich schreien, oder? Du, Don, sieh‘ mal, Du blutest! Würde sie doch eigentlich dem Wegdämmernden zurufen, oder? Aber: Und sehet? Ist das die Sprache der Bibel? Wen ruft sie denn hier an? Gott…….?
Und am Ende tritt zur Liebe sogar Hoffnung hinzu, so assoziiere ich das jedenfalls. Denn als sie über das Abnehmen des Schleiers sinniert, sitzt Joelle in ihrer CA-Gruppe und der vortragende Ex-Junkie träumt vor den Zuhörern von einer (fernen) Zukunft mit seiner Frau und seinem Kind. Und nun kann sich Joelle sich ein Leben ohne Crack sogar vorstellen, wenn Gately nicht mehr sein sollte.
Zum anderen Don Gately, der Glaubende:
Der kniet da jeden Abend vor seinem Bett, bei aller Verlegenheit, und betet. Betet um Erlösung. Vom großen Zuchtmeister mit dem Schleier der Smiley-Maske. Und es hilft!! „Drauf geschissen“ (oder so ähnlich drückt sich Gately manchmal aus): So ist das eben bei den AA und der Wallace hat nur beschrieben, was er erlebt hat. Okay. Aber dann kommt der AA-Abend, wo ihm der Motorradfreak den Fische-Witz erzählt („Wie ist das Wasser heute? Was ist Wasser?“). Der Freak weiß Gately so selbstverständlich gläubig, weil dem Don vor lauter Wasseratmen der Inhalt seiner Haltung noch gar nicht aufgegangen ist.
Der Ablauf der Szene ist (für mich) ein erzählerisches Meisterstück, weil der Fische-Witz mit einem platten Blödwitz vermengt wird, den ein von dem Umstehenden, ein vorlauter und geschmackloser Dritter erzählt. Und der Fisch, das christliche Symbol, ist das ein Zufall hier? Das alles, finde ich, betont den Freak und damit das Offenkundige, das er ausspricht, so sehr, dass ich mir einfach nicht vorstellen kann, dass das nicht ernst gemeint ist – von DFW. DWF hält, so lese ich das, Erlösung für möglich.
Und ich glaube das auch: Der Don wird nicht wieder schwach, er praktiziert Nächstenliebe; er arbeitet im Shattuck und versucht, das angerichtete Unheil wieder gut zu machen; und vor allem: Er übernimmt die Verantwortung, als es drauf ankommt, und tritt selbst für den Hundekiller ein („ich bin für diese Leute verantwortlich“, S. 882).
Okay, „die Rolle Gottes ist nie sonderlich beliebt“ (Otis P. LORD im Eschaton-Spiel auf S. 478), aber das heißt nicht, dass es ihn nicht gibt, oder?
So.
Und nun sagen Sie, liebe Alea Torik, ist das denn alles wirklich nur Kleist und Unendlichkeit, und nicht auch, wenigstens ein kleines bisschen, die faustische Erlösungsgeschichte? Oder wird da sogar jemand von guten Mächten wunderbar geborgen? Und was ist, ich wage es, mit „Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei…“ ernst genommen?
Und sind all das nicht die Dinge, von den man hoffen könnte, dass sie dem Leben Gewicht geben, also Inhalt, Sinn und Richtung? Und betont die grundsätzliche Abwesenheit all dieser Dinge im Roman nicht die ganz zarten Pflänzchen, wenn sie, wie oben beschrieben, dann eben doch mal auftauchen. Und hat Stephan Bender dann recht, wenn er sagt, die wesentliche Aussage von US ist die Abwesenheit von erlöserischen Motiven?
Beste Grüße
NO
Aléa Torik
20. November, 2009 um 23:32
God kNOws that‘s good news!
Ich sehe, Sie haben Ihr Thema gefunden. Ich fand‘s allerdings ein bisschen schade, dass Sie nicht auf meinen schönen Abriss der Kunstgeschichte eingegangen sind, und auch die leichte Kritik am Wirtschaftsystem hat offenbar nicht Ihr Gefallen gefunden. Nicht einmal, worauf ich besonders stolz war, der Porsche, bei freier Farbwahl!, ist bei Ihnen angekommen. Sei’s drum. Ich antworte dennoch auf alle Ihre Anregungen, die ja im Grunde eine einzige ist in diversen Kostümen, die Frage nach der Erlösung. Ich finde das durchaus interessant. Aber ich bitte dennoch um etwas Geduld. Ich muss zuerst meinen nächsten Artikel beenden, und da ich beim Schreiben noch langsamer bin als beim Denken, kann das noch ein paar Tage dauern.
Weil wir gerade dabei sind den Herrn Wallace mittels der Kollegen zu verorten, Deleuze und Lacan, Proust und Celan, steuere ich hier auch noch etwas dazu bei, zum Thema Geduld.
„Wenn aus dem schrecklichen Gewühle
Ein süß bekannter Ton mich zog,
Den Rest von kindlichem Gefühle
Mit Anklang froher Zeit betrog,
So fluch‘ ich allem, was die Seele
Mit Lock- und Gaukelwerk umspannt,
Und sie in diese Trauerhöhle
Mit Blend- und Schmeichelkräften bannt!
Verflucht voraus die hohe Meinung,
Womit der Geist sich selbst umfängt!
Verflucht das Blenden der Erscheinung,
Die sich an unsre Sinne drängt!
Verflucht, was uns in Träumen heuchelt,
Des Ruhms, der Namensdauer Trug!
Verflucht, was als Besitz uns schmeichelt,
Als Weib und Kind, als Knecht und Pflug!
Verflucht sei Mammon, wenn mit Schätzen
Er uns zu kühnen Taten regt,
Wenn er zu müßigem Ergetzen
Die Polster uns zurechtelegt!
Fluch sei dem Balsamsaft der Trauben!
Fluch jener höchsten Liebeshuld!
Fluch sei der Hoffnung! Fluch dem Glauben,
Und Fluch vor allem der Geduld!“
Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, Z 1583 ff
(Pflug können Sie verlustfrei mit Porsche übersetzen)
A. P. T
JesusJerkoff
22. November, 2009 um 22:55
Liebe Frau Torik,
RL got me.
Ihr naht euch wieder,
schwankende Gestalten,
die früh sich einst,
dem trüben Blick gezeigt,
ihr drängt euch zu,
nun gut, so mögt ihr walten,
wie ihr aus Dunst und Nebel um mich steigt,
mein Busen fühlt sich jugendlich erschüttert,
vom Zauberhauch, der euren Zug umwittert.
Sie wissen schon. Faust, ganz vorne ;-)
NO
24. November, 2009 um 22:15
Porsche und so…
Dear Fantasylea!
achim szepanski hatte recht, Sie können sich was ausdenken…..Ich verzeihe Ihnen natürlich alles, also auch, dass Sie mich (am 18. 11.) als Repräsentanten missbrauchten.
Davon, also von dem von Ihnen betriebenen Missbrauch, abgesehen, war Ihr kunsthistorischer Abriss brillant und richtig (und ein Klischee??). Ihren Missbrauch abgezogen, bliebe als Antwortsubstrat, die für ein differenziertes Bild vermissten Lebens- bzw. Erlösungsmomente (Liebe etc.) hat DWF weggelassen, weil deren Abbildung die von ihm beabsichtigte Wirklichkeitsdarstellung nur verwässert hätte. Okay, akzeptiert. Es kommt mir gleichwohl ein bisschen zu einfach vor. Aber gut, wohlmöglich kann ich mich mittlerweile hinter Hans Wedlers Rückspiegel verstecken und zu Protokoll geben, was mir nicht so gefällt am US ist, dass andere gesellschaftliche Strömungen und Kräfte außerhalb von DFW’s pars pro toto, dass die Vielfalt individueller Erscheinungen von DFW ignoriert werden.
Davon, also von dem von Ihnen betriebenen Missbrauch, abgesehen, war Ihre Kapitalismus- und Kulturkonsumkritik auch brillant und richtig (und ein Klischee??). Ihren Missbrauch abgezogen, bliebe als Antwortsubstrat, große Kunst (Literatur) und Establishment ist wie Perlen und Säue (womit wir wieder bei der Bibel wären). Das kommt mir indes auch ein bisschen zu einfach vor. Aber gut, wohlmöglich kann ich mich nicht hinter Hans Wedlers Rückspiegel verstecken, denn dem hat ja die Gesellschaftskritik im US gefallen, wonach Profit und Erfolgsgier die Götter ersetzt haben.
Aber unendlich grandios, liebe Alea (t). , sind Ihre Ausführungen über das Großartige und das Furchtbare in der Liebe. Stephan Bender hat recht.
Und zu Ihren Anmerkungen über das Produkt eines schwäbischen Automobilherstellers und anderer angenehmer Dinge will ich Ihnen mal eine kleine Geschichte erzählen:
Mein Bruder, er ist nicht mit McKinsey, aber ähnlich, war eingeladen mit seiner amerikanischen Frau und Schwiegereltern in das Apartment eines Anwalts im Trump Tower in New York, weil sich die Schwiegereltern während eines Studienjahres um die Tochter des Anwalts, einer Bekannten von mir, gekümmert hatten. Das war schon etwas her gewesen, aber in seiner kurzen Begrüßungsrede wischte der Gastgeber das beiseite: „We don’t forget you little people“.
Es ist eben alles sehr relativ. Das darf man nie vergessen, ich nicht, Sie aber auch nicht! Es sind die wichtigen Dinge, die im Leben zählen, z.B. Ihr rumänisches Abendessen, wie ich Ihnen schon sagte. Wie wäre es also, wenn wir beide mit the queen’s jester, Jesus Jerkoff, in die Kneipe eine Partie Darts spielen gingen?
Best wishes
NO
Und danke fürs Gedicht!
Aléa Torik
26. November, 2009 um 08:17
Lieber Herr Jerkoff!
Inspiriert von David „Faustus“ Wallace, nehme ich an.
Während Sie hier stehen und Gedichte rezitieren, sich dann umblicken und womöglich den Applaus vermissen: wir haben erneut den Court gewechselt!