$theTitle=wp_title(" - ", false); if($theTitle != "") { ?>
Als hätte der Roman mein Bitten im letzten Beitrag erhört, er möge allmählich die Handlung starten, geschieht genau das ab Seite 316 und setzt mit Joelle van Dynes scheiterndem Selbstmordversuch gleich einen ersten Höhepunkt.
(Mit Handlung hatte ich letzte Woche etwas ganz Romantechnisches gemeint, lieber Herr „Sinedi“ [herzlichen Dank an dieser Stelle für Ihren ausführlichen Kommentar], nämlich das Verlassen der Exposition, den Übergang zur Durchführung. Ich vergleiche das Romanschreiben manchmal mit der Entwicklung einer komplexen Spielanlage, auf der dann ein einziges Spiel gespielt wird: der Roman. 315 Seiten lang hat „Unaufhörlicher Spaß“ das Spielfeld, die Figuren mit ihren Zugmöglichkeiten und die Spielregeln vorgestellt. Das ist, gemessen am Gesamtvolumen proportional absolut vertretbar. Doch von jetzt an werden Figuren gezogen, die Spielebenen miteinander in Verbindung gesetzt: Die Radiokultmoderatorin Madame Psychosis ist Joelle von Dyne, Ex-Geliebte von Hals Bruder Orin, Akteurin in den Filmen des Vaters Jim, eventuell Anlass für seinen Selbstmord und sw. (!); es ist in erster Linie ein Was-Bisher-Geschah-Plot (sehr schön gelöst vor allem in dem von magischem Nagelknipsen begleiteten Telefongespräch zwischen Hal und Orin, geschrieben in William Gaddis – Manier), flankiert vom Alltag in den beiden komplementären Gegenwelten der Tennisakademie und der Entzugsanstalt Ennet House, und allmählich beginne ich zu begreifen, wie was zusammenhängt, sich aneinander reibt, weiterwälzen wird …)
Ich möchte aber diesmal nur über eine Stelle nachdenken, die mir sehr charakteristisch für DFW zu sein scheint (es gibt Vergleichbares auch in den Erzählungen, vor allem im großartigen letzten der „Interviews mit fiesen Männern“), nämlich die, wo Joelle, nichts als ihr Vorhaben „sich die Karte umzudekorieren“ im Kopf, diese schöne junge Frau auf der Party tanzen sieht:
„Ich hab bloß meine Titten angesehen, sagte sie und sah an sich hinab, sind sie nicht schön, und das ist so bewegend, in ihren Worten liegt eine so herzzerreißende Ehrlichkeit, dass Joelle am liebsten zu ihr gehen und ihr sagen würde, es ist und wird alles, alles gut.“
Was ist das? Es ist jedenfalls vom Autor offenbar als Auslöser angelegt dafür, dass es bei Joelle letztlich nicht klappt mit dem Umbringen. Aber warum? Die Stelle haut richtig rein in diesem dauerironischen Albtraumpanoptikum. Das ist vollkommen unironisches, existenzielles Pathos. Für Joelle scheint es sich ja, wie die kindlich gebetsartige Schlussformel nahelegt, um einen absoluten Erlösungsmoment zu handeln, in dem sich alles für einen Moment auflöst, nichtig wird, was sie in den Selbstmord treibt, nämlich diese ganze soziale Horrorshow, die DFW entwirft, mit den „chemisch rosa“ Morgendämmerungen, der Inklusion in den alltäglichen Wettkampfzyklus, wo nichts als „gespielt, gegessen, geschlafen und ausgeschieden“ wird auf der einen Seite, der Exklusion in den Dauerentzug, wo Dankbarkeit, die Bitte um Hilfe, ein Leben unter der „Obhut von Klischees“ eingeübt wird auf der anderen Seite. Das sind Stellen, wo der von Thomas Meinecke [schade, dass Du nicht mehr dabei bist!] ins Spiel gebrachte „suizidale“ Wesenszug dieser Prosa eben durchbrochen wird. (Oder nicht?) Natürlich geistern da sofort Vorstellungen von Authentizität, Unschuld und – nicht zu vergessen! – : Schönheit. (Wir Leser werden etwas später dann aufgeklärt über die vergangene große Schönheit von Joelle selber, die (sic!:) „jeden Interessenten abgeschreckt“ hat; es gibt demnach auch eine figurenmotivierte Perspektive – und eine problematische Kehrseite der Medaille.) Aber ist das wirklich alles?
Wäre es einfach die übliche romantische Ganzheits- und Identitätsnummer, dann wäre es Kitsch. Aber das ist es durchaus nicht. Es ist eher so ein Ding wie beim frühen Rainald Goetz, wo den Figuren die Sprache ausgeht in ein „Ich auch, ich auch“-Gestammel. Es zerreißt für eine Sekunde diesen neverending Film, der nirgends, nirgends zu durchbrechen ist. Allerdings, und das ist das Besondere, hat es überhaupt keinen „Ich auch“-Charakter, da ist keine Verschwisterung ist im Gang, die „Geste“ der Frau ist im Gegenteil vordergründig fast solipsistisch. Durch eine Art öffentliche Eigenliebe stellt die Verbindung zu Joelle her, durch die Schönheit der eigenen Titten, durch die Tatsache, dass sie sie schön findet und es sagt. Sie sagt „Ich“, hingegeben an diese Schönheit, und indem sie es SAGT, geht für einen Augenblick auf der anderen Seite ein Fenster auf. Es scheint also trotz allem ein kommunikativer Akt stattzufinden, der nur über die Brücke Eigenliebe – Hingabe – Schönheit – Sprechen zustande kommt und die Horrorshow durchbricht. Und das ist – in meinen Augen – die andere Perspektive in der „Zuviel Spaß“-Welt dieses Romans.
1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
Mehr zum Buch »
Termine zum Buch »
M | D | M | D | F | S | S |
---|---|---|---|---|---|---|
« Mrz | ||||||
1 | ||||||
2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 |
9 | 10 | 11 | 12 | 13 | 14 | 15 |
16 | 17 | 18 | 19 | 20 | 21 | 22 |
23 | 24 | 25 | 26 | 27 | 28 | 29 |
30 | 31 |
4 Kommentare zu „Unterhaltung ist blind“
Daniela Sickert
22. September, 2009 um 00:38
Merci für diesen schönen textnahen Eintrag. Darüber muss ich jetzt erst einmal nachdenken.
Roadrunner
22. September, 2009 um 08:49
„Es ist jedenfalls vom Autor offenbar als Auslöser angelegt dafür, dass es bei Joelle letztlich nicht klappt mit dem Umbringen.“
Lieber Herr Niemann, wie kommen Sie denn darauf? Wir erfahren später ja nur, dass Joelle die Party überlebt hat (wohlgemerkt in der Notaufnahme) und nicht, dass sie ihren Selbstmordversuch abgeblasen hat. Sie wird jedenfalls nicht durch die Eigene-Titten-Bewunderin davon abgehalten:
„Joelle applaudierte der ekstatischen Frau, weil sie, wie Joelle gern einräumt, die Möpse, attraktiv sind, wofür im Verband die Bezeichnung Fesselnd Innerhalb Kompatibler Relativer Grenzen steht; Joelle hat kein Problem mit einer Billigung der Schönheit innerhalb kompatibler relativer Grenzen; sie empfindet keine Empathie, kein mütterliches Glucken mehr, sonder nur den Wunsch […] von Bord zu gehen“ (333)
Zudem werden wir darauf hingewiesen, dass die Tänzerin auf E[cstasy] ist (332) und das der Kater danach so schlimm ist, dass, im Vergleich dazu, ein Crack-Kater „eine Fahrt ins emotionale Blaue ist“ (332). M. a. W., der Absturz aus dem naiven Einverständis mit dem eigenen Körper ist absehbar.
JesusJerkoff
22. September, 2009 um 22:32
Wunderschöner Titel, oder Bloganfang, oder, wie man früher gesagt hat, Überschrift, dann aber weiblich.
Aus meiner Sicht geht der Roman viel über Sehen und Nichtsehen und ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie undendlichen Spaß daran haben, wenn Sie sich blind stellen für die Unterhaltung (Marathe-Slang).
Gisela Trahms
27. September, 2009 um 17:53
Ist es nicht merkwürdig (und geradezu rührend), dass wir als Leser tatsächlich solchen Erwartungen folgen wie: Genug Exposition, ich kenne jetzt das Spielfeld, nun sollten die Figuren gezogen werden, d.h. in Beziehung zueinander treten, meinetwegen in fragmentarische, begrenzte, aber IRGENDEINE. D.h. wir halten im Roman nur schwer aus, was doch unser Leben kennzeichnet, nämlich dass es ein einziges Gefrickel aus abgerissenen Fäden ist und kein Gewebe. Der Roman soll eine besondere, nicht-diskursive Erkenntnis ermöglichen, die durch lesenden Nachvollzug eines wie auch immer gearteten komplexen Gewebes entsteht, das verlangen wir einfach. Mir scheint, IJ ist ein Versuch, auszutesten, auf welche Weise und in welchem Umfang man diese basics unbeachtet lassen (oder umdefinieren?) kann: Alles nur Fetzen, ihr Lieben, und natürlich könnt ihr das zusammensetzen und Verbindungen und Motive suchen und finden wie Ostereier im Gras und ich wünsche viel Vergnügen, aber wenn nicht, dann eben nicht und es ist sowieso nicht das, worauf es ankommt.
Worauf es ankommt ist eher, und ich finde, das haben Sie genau beschrieben, die unerklärliche Intensität einzelner Momente, in denen der Fluch des „Ich bin hier drin“ (und komme raus nur um den Preis meines Lebens) für Sekunden außer Kraft gesetzt zu sein scheint. Mich erinnert das an Proust, wo in scheinbar bedeutungslosen Alltagserfahrungen plötzlich eine Epiphanie aufleuchtet. Sehr oft hat diese Erfahrung (nicht der Anlass, sondern die Epiphanie) mit Schönheit zu tun. Mit der Fassungslosigkeit darüber. Mit der Wahrheit von Warnehmungen. Und die Frage ist, ob diese Augenblicke nicht bloß wieder die uns vor die Nase gehaltenen Karotten sind, hinter denen wir herjagen und die in IJ so ausführlich geschildert und diskutiert werden. Träfe das zu, stürzten wir um so tiefer. Wären sie aber von anderer Qualität, dann… Ja, dann. Ginge ein Fenster auf oder gar eine Tür? Im Roman, zumindest?