Treueherzen

29. August 2009 |

29. August 2009, 3.44 Uhr
„Was, du bist erst auf Seite 150 und liest schon eine ganze Woche?“, fragt W., als ich wieder in Berlin bin und wir nachts um halb vier auf meinem Balkon sitzen, wo ich bis eben den Herren Marathe und Steeply dabei folgte, wie sie mit abendländischem Wissen nur so herumprotzten. W. sagt das natürlich, weil er schon darauf wartet, den Unendlichen Spaß selbst lesen zu können*, wir teilen uns die Lektüren. Diesmal war ich zuerst dran.
Unendlicher Spaß führt dazu, auch die wirkliche Welt genauer zu betrachten. Die beiden Russen z.B., mit den Türsteherfiguren (nicht vier-, sondern fünfschrötig), kurz vor Mitternacht im Eingang der Kaisers-Kaufhalle, die sich laut in ihrer Muttersprache über ihre Arbeit unterhalten, weil sie wohl annehmen, hier wohne eh niemand mehr, der sie versteht. Leider spezifizieren sie nicht, worin diese Arbeit besteht, es könnte aber auch sein, dass sie in der nächsten Sekunde aus ihren Einkauftaschen, auch sie haben kurz vor Mitternacht bei Kaisers eingekauft, schallgedämpfte Pistolen holen und die beiden türkischen Securitytypen am Eingang übern den Haufen knallen. Aber alles bleibt friedlich und ich bewundere die Tätowierung auf dem kräftigen rechten Oberarm der Grufti-Frau vor mir, die gerade fünf Dosen Hundefutter bezahlt: Ein nackter weiblicher Säugling wird von einem Totenkopf gekrallt, beide sehr kunstvoll in die Haut der barocken Frau gestochen, deren hänflinghafter Freund doch wirklich die Kaisers-Treueherzen von der Verkäuferin nimmt.
Jetzt aber, kurz vor vier, prescht eine silbergraue Limousine mit hoher Geschwindigkeit durch die schlafende Straße und bremst zwei Etagen unter uns, der Fahrer öffnet die Tür, lässt lässig die Beine aus dem Fenster heraushängen, irgendeiner schnarrt über Funk Unverständliches, der Beifahrer antwortet kryptisch. W. flüstert, das seien Terrorismusbekämpfer auf der Suche nach Brandstiftern, die mit Kohleanzünder und Feuerzeug bewaffnet, große Autos anzünden, die es hier reichlich gibt, aber ich, ganz in Unendlichem Spaß gefangen, halte sie für Drogenfahnder. Ehe wir herausbekommen haben, wer recht hat, kommt ein neuer Befehl und das silberne Auto verschwindet.

*Im Gegensatz zu mir hat W. das Buch zwar noch nicht gelesen, aber den Blog studiert und mir ist aufgefallen, dass ein Homonym ein Schnippchen geschlagen haben muss. Bei dem Bändchen ist nicht ein einzelnes Büchlein gemeint, in diesem Fall zwei, sondern es handelt sich um den schwarzen Gewebestreifen, der aus dem Buch hängt und zwar gleich zweimal, für den Text und für die Anmerkungen. Und dabei fällt mir auch ein, dass ich endlich mal sagen muss, wie anregend ich die Übersetzung finde. Soviele unterschiedliche, oft unbekannte und lange nicht oder noch nie gelesene Worte in einem Buch, das macht (unendlichen) Spaß. Thorakalsonne oder Lemon Pledge zum Beispiel. Bei letzterem hätte ich nicht mit Möbelpolitur gerechnet, sondern eher mit so etwas wie Lemon Curb. Süß und zitronig.

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Über das Buch

1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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