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Um als etwas Zu-Spät-an-den-Start-Gekommener zum Hauptfeld aufzuschließen, habe ich die194 Seiten in einem Zug gelesen. Im Kopf schwirrt es von der Lektüre, ich bin am Ordnen, noch ist alles reichlich wirr, was auf der Strecke manchmal ermüdete (vielleicht ist es richtiger, das Buch in kleineren Portionen aufzunehmen statt in einem Durchzieher).
Soweit ich bisher sehe (sehen kann), handelt es sich bei „Infinite Jest“ für mich um folgendes:
Wir befinden uns in einer totalitären Unterhaltungsdiktatur. Der gegenwärtige Stand der Entwicklung ist um nur eine halbe Schraubendrehung weitergedreht. Die Ichs sind alle völlig autistisch, komplett kommunikationsunfähig. Lauter Monaden, in sich geschlossene Systeme, Torsi, Krüppel, Frankensteine, Körper, „hastig zusammengestoppelt“ (144) von den Institutionen im Entertainment-Staat. Die einen Platz im System haben, leben in geschlossenen Expertenuniversen (Sport (Tennis), Medizin, Unterhaltungspolitik etc.). Die anderen sind drogenabhängig und suizidal. Alle zusammen kommunizieren generell aneinander vorbei (oder ihre Kommunikation ist restlos instrumentalisiert – wie die „Großer-Kumpel-Systeme“, die Betreuung der jungen Tennisschüler durch ältere Tutoren). Und alle sind süchtig.
Wie ist das gebaut? Wie hängt das zusammen? Als Roman? Da ist dieses E.T.A.-Gebäude mit seinem unterirdischen Röhrensystem, in denen sich die Tennismonster bewegen, auf der einen Seite, auf der anderen Seite das Draußen der Sucht- und Selbstmordhölle. Alles zusammengenommen ist wieder eine einzige Systemhölle („Ich bin hier drin“ – denkt Hal Incandenza auf der ersten Seite und meint die University. „Ich bin da drin“, sagt Kate Gompert (113) und meint die Hölle ihres Depressionshorrors).
Für den Plot scheinen Hal und die Tennis-Academy einerseits, andererseits die Pynchon-mäßige Agentennummer um Marathe und Steeply, die „Attentäter auf Rollstühlen“, das Einschleusen von ‚Anti‘-Unterhaltungs-Samisdats „zur Bekämpfung der Tödlichkeit“ zentral zu sein. Dazwischen stehen zahllose Geschichten über Beschaffungskriminelle mit ihren Drogensuchtkarussellen in den Köpfen, über die Selbstmörderin Kate, über das mißbrauchte Mädchen Wardine und so weiter.
Das Ganze ist ein Comic-Albtraum, der nie aufhört, wahrscheinlich auch für den Autor nicht. Das hier ist kein Spaß, genauer gesagt, es ist Anti-Spaß. „Ich bin da drin“ gilt auch für die Erzählhaltung. Und ihre einzige Rettung besteht offenbar darin, selber Aktivist in der Anti-Unterhaltung-Terrorgruppe zu sein, die den arabischen Gesundheitsattaché mit einer subversiven Unterhaltungs-Patrone(sic!) zur Strecke bringt (oder vielleicht Mit-Aktivisten rekrutiert?).
Der Traum vom überkomplexen Tennis-Court auf Seite 98 könnte vielleicht für so etwas wie den Bauplan des Romans stehen: „Die Linien, die das Spielfeld begrenzen und definieren, sind so komplex und verschlungen wie eine Drahtskulptur (…) bilden Kästchen, Flüsse, Nebenflüsse sowie Systeme in Systemen (…) zu kompliziert, um sie auf einen Blick zu erfassen.“ Entsprechend wäre die Schreibhaltung der Versuch „herauszubekommen, wo in diesem Liniengewirr ich den Aufschlag bloß platzieren soll.“
„Wir beginnen ein Spiel. Aber irgendwie bleibt alles spekulativ. Selbst das ‚wir‘ bleibt Theorie.“ Demnach wäre auch der Roman in seiner Grundstruktur autistisch-monadisch-albtraumhaft. Vorübergehende Ausbrüche sin nur durch Grenzüberschreitungen möglich (als Ersatz für Kommunikation). Großartig verdichtet in der Szene mit dem Schimmelklumpen gleich am Anfang: Das Kind Hal, das davon gegessen hat, streckt es seiner Mutter („die Moms“!) hin, worauf diese hysterisch im Kreis herumläuft, draußen im Garten, Hilfe! Hilfe! schreiend. Für mich das absolute Glanzstück bisher. Das ist die Geste, um die es mir bisher zu gehen scheint in „Infinite Jest“.
P.S.: Ich hatte noch keine Zeit, die Beiträge hier auf der Seite genauer zu lesen, ich hab sie nur überflogen. Doch hat mich die Frage von Georg M. Oswald nach dem ästhetischen Veraltetsein beschäftigt. Es gibt Sachen, die mich nerven in diesem Roman, wie die Stelle mit dem Herzen, das „wie ein Wäschetrockner mit Schuhen drin“ schlägt. Klischees aus dem Creative-Writing-Mainstream. Oder die Herrentoiletten-Szene relativ zu Beginn, die ich beim Lesen als „South Park“ – Szene vor mir sah (ich mag „South Park“! Aber al „South Park“). Es stimmt schon, es gibt etwas, das schwer an die Atmosphäre in den Neunzigern erinnert, an die halbherzige Revolte damals gegen die feindliche Übernahme der Kultur durch den „heroischen Stillstand der Rundfunk- und Fernsehunterhaltung“. Die Revolte ist niedergeschlagen, der Kampf verloren. Heute also die Bedingungen der Nuller Jahre. Aber große Bücher stehen immer mit einem Pfeiler in ihrer Entstehungszeit …
P.P.S.: Das „Deutsche“ scheint ja ein Steckenpferd von DFW in „Infinite Jest“ zu sein. Kleine Hinweise: die dealende Bühnenbildnerin, die nur für deutsche Stücke „dunkle und verschmierte“ Bühnenbilder produziert (S.30); die Tätigkeit beim „Wedekind-Festival“ (31), der deutsche Cheftrainer Schtitt und seine Philosophie des Tennis (115ff). Die Abkürzung E.T.A. für Hoffmann? Deutscher, romantischer Idealismus? Erweitert um Niklas Luhmanss Systemtheorie? Friedrich Schlegels Identitäten, die „von der Welt ganz abgesondert und in sich selbst vollendet wie ein Igel“ sind? Der Roman als Spiegel einer nur in Fragmenten von fragmentierten Subjekten wahrgenommenen Wirklichkeit? Ironisch-chaotisch? Antiepisch? Die Traditionslinie „Tristram Shandy“?
Norbert Niemann, 1961 in Niederbayern geboren, studierte Literatur, Musikwissenschaft und Geschichte. Seit 1997 lebt er als freier Schriftsteller in Chieming am Chiemsee. Für seinen ersten Roman Wie man’s nimmt (Hanser, 1998) erhielt er den Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Preis. 2001 erschien sein zweiter Roman Schule der Gewalt, 2003 Inventur (Deutsches Lesebuch 1945–2003, mit Eberhard Rathgeb) und zuletzt Willkommen neue Träume (2008).
1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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2 Kommentare zu There is no off-switch on the genius-button
T-Man
6. September, 2009 um 22:46
Unendlicher Spaß auf der IFA. Heute sah ich dort ein Konzert von U2 (naja, weil: Keith Jarrett war mal wieder nicht im Angebot) in 3D-Technologie mit der Brille in der Karte: alles zum Greifen nah, aber doch nicht wirklich, weil so noch nie in freier Wildbahn erlebt, also ÜBERWIRKLICH, mit diesen Proportionen und Perspektiven. Wenn das die Zukunft ist, wird irgendwann jemand in den Wald gehen und sich fragen: DAS soll HOLZ sein?! Das hab ich im Display meines Smartphones, Netbooks, TVs aber schonmal überzeugender gesehen, Alter!
Dazu passend die aktuellen Werbeslogans der großen Entertainer:
Sony: make.believe
Samsung: life in hyperreal
JVC: mobile entertainment. go ahead – come alive
Zusammengeführt und übersetzt: Tu so, als sei den Leben mehr als real und werd endlich lebendig, du analoges Arschloch.
mischa gerloff
6. September, 2009 um 23:38
Das ist für mich ein sehr schöner Beitrag, Herr Niemann.
Kleine Lese-Portionen? Das ist (auch?) mein Leseverhalten. Nach dem Drogen-Erwartungs-(Bernhard)-Abschnitt mußte ich auch mal eine Pause einlegen und das sacken lassen.
„Die Abkürzung E.T.A. für Hoffmann? Deutscher, romantischer Idealismus?“
Schön, daß Sie das erwähnen. Ich habe mich gar nicht getraut, und jetzt muß kann ich das erst mal beiseite legen.