25. Oktober

27. Oktober 2009 |

23.30. Frühherbst in Badenweiler. Leuchten die Blätter immer noch im Dunkeln. Ist wahrscheinlich Unsinn und Einbildung. Schauerlich kitschiger Mischwald direkt hinterm Haus. Spätburgunder aus Britzingen. Was aus den Beeren von gestern doch werden kann. Muss zur Ehrenrettung von Michael Kleeberg schnell noch anfügen, dass er mein schlechthiniger Experte in Hypochondrie ist, aber natürlich selber nicht hypochondrischer als jeder andere Mann.
Zurück zur Felsnase. Zurück an meinen derzeitigen Lieblingsliteraturort. „Dies ist die Zeit trügerischer Morgendämmerungen. Die Venus entfernte sich ostwärts von ihnen. Das weichste vorstellbare Licht sickerte in die Wüste“. Marathe und Steeply betreiben Kulturgeschichte. Fernöstliche Mythen, in denen Männer durch Lust in Stasis verfielen, vor Lust tatsächlich vergingen. Gleich müsste die Lorelei kommen. Kommt aber nicht. Dafür die Odaliske Theresa. Oder Medusa. Schönheit, die unerträglich ist. Freudloses Lachen. Und die Männer, selbst die von der tödlichen Gefahr wissen, geben ihrer Lust nach. Joelle ist so eine Medusa, und die ominöse Patrone ist die Büchse der Medusa.
Vielleicht schneide ich irgendwann die Marathe-Partien hintereinander. Großartiges Subbuch.
Wieder bei den Drogisten in Ennet-House. Gately erzählt einen Schwank aus seiner Alkijugend. Wie ein Kumpel platt gemacht wurde und sie alles taten in ihrer bekloppten Bekifftheit, dass er auch wirklich stirbt, als ihm zu helfen. Und dann will er hinter Joelles Schleier kommen. Warum sie ihn trägt und so. Wegen der L. A. R. V. E, der Liga der Absolut Rüde Verunstalteten und Entstellten. Joelle erzählt, wie sie beigetreten ist, warum sie beigetreten ist, um aus dem Verstecken herauszukommen, aus dem Teufelskreis von verstecktem Verstecken, hinein ins offene Verstecken (ist kompliziert, Gately bräuchte auch zwei Bier, darf aber nicht). Der Kollege Blumenbach hat tatsächlich auch noch plietsch in diesen Wahnsinn der immer weniger benutzten Wörter eingebaut. Und dann rutscht es Joelle doch noch raus: „Ich bin vollkommen. Ich bin dermaßen schön, dass ich jeden fühlenden Menschen ganz einfach um den Verstand bringe… Ich bin so schön, dass ich entstellt bin. Ich bin vor Schönheit entstellt.“ Medusa in Ennet House.
Weiter? Noch ein Stück. Abgang Medusa, Auftritt Randy Lenz, der anscheinend auch eher seltsam ist. Er versucht auf besondere Weise mit dem Entzug fertig zu werden. Er fährt rum.
Lenz geht nicht ins Gebirg. Lenz fährt in die Stadt. Und da legt er Ratten um. Er tanzt und tötet mit Lust. Dann arbeitet er sich die Nahrungskette nach oben und spätestens hier hört der Spaß für Kollegin Garbers auf. Lenz meuchelt Katzen. Dann Hunde.
Da hätte man hier auch genug zu tun. Der Hund hat den Diamanten als bester Freund der alten Damen längst abgelöst. Es soll hier auch Schildkröten geben. Aber die – das hab ich vor ein paar Jahren hier tatsächlich gelesen – laufen ihren Besitzerinnen gerne mal weg. Jetzt würden mir noch viele fiese Scherze über alte Leute einfallen. Nein, nein, nein.

24. Oktober

25. Oktober 2009 |

13.30. In der Sonne über dem Rheintal. Meteorologie ist doch nicht Mist. Hier versucht der Herrgott massiv die letzte Süße in den schweren Wein zu schießen. Auf einer Wiese am Ende der Rebreihen über Mauchen. Die Burgundische Pforte verliert sich irgendwo hinten rechts in wohlstandwarmem Dunst. Links im Dunst die Schweiz. Die Vogesen kann man erahnen. Es flirrt geradezu in den Wingerten. So ungefähr stellt man sich das Paradies vor. Wenn man nicht länger als vier Wochen drin bleiben darf. Danach wird’s, glaube ich, stinkend langweilig. Hab angesichts der Wärme die Wüste auf morgen verschoben, sonst komm ich noch mehr ins Schwitzen und ich muss Gnomi (knapper, leider nicht laufender Meter, deutlich über zehn Kilo) noch nach Hause schleppen. Jetzt pooft er.
Fußnoten. Wir sind zurück am 7. November und erfahren, was sonst noch geschah. Mario wird als Archivar der Familie vorgestellt, Hal findet einen Anruf von Orin vor, der bemerkt, dass „sich jede einzelne Zeile der kanonischen Gedichte von Emily Dickinson ohne Verlust oder syllabische Verrenkungen zur Melodie von ,The yellow Rose of Texas’“ singen lässt. Muss ich zu Hause direkt mal ausprobieren. Aber wenn man schon das Ende der Matthäus-Passion wie eine Büttenrede intonieren kann („Wir rufen dir aus dem Grabe zu, ruhe sanfte, sanfte Ruh’“) warum nicht das mit Dickinson. Hal driftet irgendwie ab nach Kodiaktabakgenuss im Dickinsonversuchsrausch.
Ist Lothar Matthäus jetzt tatsächlich Grieneisen-Min… Verzeihung Verteidigungsminister? Interessant.
DFW führt ein ergreifendes Beispiel für den Schneckenpostbriefwechsel von April und Orin vor. Sie schreibt gespreizt wie der Mariannengraben, er antwortet mit Formbrief. Es gibt endlich Fußnoten in Fußnoten. Darauf hatte ich bloß gewartet.
Und dann beginnt mit dem berühmten Mmjallo eines längsten Telefongespräche der jüngeren Literaturgeschichte. In dessen Verlauf die Dickinsontheorie zurückgenommen wird, Orin seine Theorie zum Verliebtmachen interessanter Subjekte ausbreitet, und überhaupt einiges ausgebreitet wird, was höchstens einen angehenden Innen- und Verteidigungsminister der O.N.A.N. interessieren würde. Die pythonesken Strukturen der Quebecanischen Widerstandsunternehmungen werden auseinanderfismatentiert.
Warum werd ich jetzt so müd. Ich lass mich jetzt nach hinten überfallen, den Spaß auf dem Bauch, die Sonne im Gesicht. Da hinten hängt noch eine schwere Traube herum. Nachher. Nachher.

23. Oktober

25. Oktober 2009 |

22.30. Am Fuß des Blauen. Meteorologie ist Mist. 16 Grad hatten sie versprochen und Sonne. Hier hängt der ganze Wald voll hirnrissiger Wolken. Es nieselt wie in einem schlecht eingestellten Dampfbad, leider ist es auch noch kalt dazu. Cabernet Dorsa. Wein aus einer Versuchsproduktion der Ortenau. Muss nicht weiter fortgesetzt werden, der Versuch.
Bin ich eigentlich zur Zeit der Einzige der weiter am Spaß entlang liest? Sind alles Schriftsteller in den Herbstferien? In eine Postmessetotenstarre verfallen? Hallo, aufwachen. Mir jedenfalls fehlen noch siebenhundert Seiten. Ich muss mich sputen, um die Zielgerade punktgenau am Beginn des Adventskalenders zu überschreiten.
Les ich deswegen schneller oder kommt mir alles immer kleinteiliger vor. Ein riesiges Kapitel, alles lokalisiert in der E. T. A. und trotzdem scheint alles wie vom Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom infiziert. Es geht vor allem um Halbonkel Tavis. Charles Tavis. Der, wie alle Quereinsteiger in diesem Tenniscamp, mal was ganz anderes war. Architekt nämlich. Einer von diesen großen Modernen. Stadien hat er gebaut. Gefeuert ist er worden. Weil man nicht nur prima aufs Feld, sondern auch in Hotelzimmer Einblick bekam und als dann ein Kameramann statt abenteuerliche Homeruns ganz andere Einläufe auf die Multimedialgigantoanzeigentafel übertrug… Weniger ein Mensch als eine Aufrisszeichnung eines Menschen sei der Onkel, sagt Orin.
Schichtwechsel. Hal sitzt vor der Onkels Büro. Erinnert sich an eine Neuaufnahme, aus der dann nichts wurde. Einen Neunjährigen, blind mit Schädelproblemen wg. Umweltzerstörung, einem Schädel mit der „Konsistenz der Schale einer Krabbe aus der Chesapeake Bay“, der aber trotzdem Tennis spielte, immer mit Infusionsständer hinter sich her, weswegen es mit der beidhändigen Rückhand selbstredend nix wurde. Was für eine Freakshow dieser Roman doch ist.
Charles Tavis war übrigens, wie „viele begabte Bürokraten“, von niedriger Statur. Steht da wirklich. Und ist unendlich wahr. Trifft aus äußere und innere Statur zu. Und nicht nur das. CT ist auch ein Freak. Rechte und linke Gesichtshälfte passen nicht zusammen.
Hal, der auch eine seltsame Wucherung verspürt, die man aber nicht sieht, begegnet Avril „die Moms“ Incandenza. Und behauptet die ganze Verwandtschaftsmischpoke, der er in der E. T. A. begegnet, gar nicht als Verwandtschaftsmischpoke zu betrachten. Glaubt ja keiner. In diesem Roman steckt der Familienwurm stärker als in jedem anderen Familienroman.
Jetzt ist aber gut. Der Fummel-Check geht weiter. Eine blauschimmelnachtschwarze Neunmonats-Jobberin taucht auf. Und Otis P. Lord, der immer noch das Gehäuse eines Computerbildschirms über der Omme hat.
Morgen geht’s in der Wüste weiter. Und hier hoffentlich in der Sonne.

22. Oktober

24. Oktober 2009 |

20.15. Fencheltee. Zwieback. Kein Wort mehr über den Virus. Es gibt ihn noch. Heute spielt Herta (verdammt, da ist mir die transsylvanische Verwandte dazwischen gekommen), Hertha natürlich. Die spielt seit Monaten, als hätte sie gleich zwei Seuchen. Die Koffer sind gepackt. Morgen früh vor Tau und Tag geht’s weg in den Süden. Fürs Handgepäck gibt’s kein Gewichtslimit. Was schon wichtig ist für Menschen, die mit dem Spaß verreisen. Ich weiß übrigens nicht, was alle haben. So schlimm ist der Umgang mit DEM Buch nun wieder auch nicht. Ich hab nichts gegen gerade Buchrücken. Es ist mir noch nie auf die Füße gefallen. Es ist ein bisschen angeschmuddelt vorne, aber sonst intakt. Und das, obwohl es nun wirklich sehr weit gereist ist. Es ist schwer, sicher, aber daran, dass ich einen leichten Haltungsschaden und einen steifen Nacken hab seit Wochen, hat der Spaß nur halb schuld. Den Laptop muss ich ja auch überall hin schleppen.
Der Ausflug ins elterliche Schlafzimmer von Familie Incandenza ist also beendet (mitsamt der höchst interessanten Überlegungen Jim I.s über rechtwinklige diedrische Dreiecke, die mich nicht sehr interessierten, obwohl ich wenigstens für Geometrie halbswegs ordentliche Noten bekommen hab). Es gab allerdings, das hab ich gestern vergessen noch einen recht heftigen Unfall am quietschenden Bett. Eine Hochintensitätsstehlampe wurde von Jim I. umgerissen, löste eine Kettenreaktion aus und führte unter anderem dazu, dass ein Messingtürschrankknopf einen ebenfalls verunfallten Sechskantbolzen umrundete, und zwar „auf einer sphärischen Umlaufbahn, wobei er zwei vollkommen kreisfürmige Rollkurven auf zwei verschiedenen Achsen beschrieb, ein nicht-euklidisches Gebilde auf einer planaren Fläche, d. h. eine Zykloide auf einer Sphäre…“ Dazu gibt’s noch ein schickes Bildchen. Wenn Erzähler zuviel wissen.
In Ennet House haben wir heute das Thema Marihuana und wie es der Menschen Seele aushöhlt. Kate Gompert, die schwärzestdepressive Figur der Literaturgeschichte, und der sagenhafte Marihuanaverbraucher Ken Erdedy sind dabei. Ein Neuling, Tony Roy oder Roy Tony (irgendwie mein ich, dass der schon mal da war) entwickelt einen heftigen Widerwillen gegen die Umarmerei in Drogenselbsthilfekreisen (sehr verständlich: Zwangsumarmungen gerade in sozialen und kirchlichen Zusammenhängen sollte sowieso schon lang unter Strafe stehen).
Marathe und Steeply erzählen sich was von der Wirkung allein schon von Kopien aus Beständen der Unterhaltung. Da kann einem schon mal der Verstand wegschmelzen. „Als wäre seine Welt zu einem kleinen hellen Punkt implodiert. Innenwelt. Uns nicht zugänglich.“
Noch ein Erzählfaden. Und er ist blau. Wir sind bei Hal. Und jetzt wird uns erzählt, was alles blau ist im Raum. Hals Zimmer möglicherweise. Es soll ja schon Doktorarbeiten zur Bedeutung der Farbe Blau im Spaß geben. Womit sich die Menschen alles beschäftigen. Wir lernen aber auch neues vom sexuellen Missbrauch in der E.T.A., die wir schon geahnt haben (welches Internat zumindest der Literaturgeschichte kommt ohne aus, Hogwarts, okay, aber das ist ja auch Harry Potter). Und dass Hal nicht das einzige Superbrain im Tenniscamp ist. Axhandle nämlich „wiederholt einen mnemonischen Limerick über den Brewster-Winkel für das von Leith geleitete quadriviale Kolloquium mit dem Titel ,Reflektionen über Refraktionen.“ Die Farbe blau spingst in alle Sätze. Michael Pemulis geistert und grantelt herum. Und es begegnet uns ein Tennisspieler, der Jim Courier, dem Bolzenschussgerät für das elegante Tennis, doch sehr ähnlich sieht.
Ein bisschen zäh, der Spaß im Moment. Nichts natürlich im Vergleich zur Hertha. Bevor ich mir jetzt aber wieder aufrege, schnell Koffer zu, Spaß in die Tasche. Gute Nacht.

21. Oktober

23. Oktober 2009 |

19.35. Am Wasser. Merkwürdiges Bier. Eiskalt. Eigentlich sollte ich Salzstangen essen und Cola. Das alte Hausmittel zur Abdichtung von aus den Fugen geratenen Gedärms. Aber erstens ist es noch nicht soweit. Und zweitens bekomme ich allein bei der Vorstellung von Cola das schiere Würgen. Deswegen Bier. Ist eh alles egal. Lucien reread hab ich mir erspart. War eine grandiose Szene. Eine der wahrscheinlich grandiosesten, kaltglühendsten Szenen überhaupt je. Aber das noch mal lesen? Da hat der fiese Virus mit allen fiesen Tentakeln gewunken und mit sofortigem Ausbruch gedroht.
Brauch jetzt was Ruhiges. Wir sind in der Wüste. Steeply und sein Rollstuhlfahrer verbreiten sich über etwas, das ich selbst mit vollständiger Verdauung nicht verstehen würde. Tom Flatto kommt vor. Und irgendwelche Versuche. Und eine Theorie, nach der „der Reiz mit Dichte zu tun hat. Der visuelle Zwang. Die Theorie besagt, dass du bei einer echt ausgebufften Holographie die neurale Dichte eines richtigen Bühnenstücks bekommst, ohne den selektiven Realismus des Bildschirms zu verlieren. Und dass Dichte plus Realismus zuviel sein können.“ Virus und Postmessemelancholie sind auf jeden Fall zuviel. Und über Dichte will ich mich im Moment nicht verbreiten.
Wir sind in meinem Geburtsjahr. Winter 1963. In Sepulveda/Cal. Wieder quietscht was. Sind keine Rollstühle. Ist ein Bett. Und darüber geht es jetzt exakt 16 Seiten lang. Sechzehn Seiten über die Reparatur eines Doppelbettes im Schlafzimmer des Hauses Incandenza. Sechzehn Seiten, die beweisen, dass man vor der Genialität von DFW auch nicht permanent auf den Knien herumrutschen muss. Diese Szene ist wahrscheinlich wahnsinnig wichtig. Sie ist aber auch wahnsinnig langweilig.
Ich koch jetzt was. Kartoffeln mit Leinöl oder so. Sehr berlinerisch. Sehr einfach. Und bringt beim SCH. M. A. Z. sogar Punkte. Dem geht’s auch nicht gut. Aber jetzt genug mit der Krankengeschichte. Sonst bekomm ich noch den Michael-Kleeberg-Preis für aktive Hypochondrie.

20. Oktober

22. Oktober 2009 |

23.30. Fencheltee. Am Wasser. Ist es die Messe oder Biller, was mir im Gedärm sitzt. Ich tipp mal die Messe. So ein verschwiemelter Virus, der sich nicht recht aus der Deckung traut. Der einen halbmalade macht. Und wahnsinnig müde. Meine Augenlider wiegen eine halbe Tonne. Jedes. Und dabei war ich doch so brav in Frankfurt. Hab Häppchen nur bei Suhrkamp… Nee, das glaub ich jetzt nicht.
Gately rast, kleine Wirbel hinter sich lassend, weiter. Durch die Straßen, die Häuserschluchten, den Müll und den Staub der Straßen. An Antitoi Entertainment vorbei. Das hatten wir noch nicht. Antitoi. Da kratzen wir mal unser Restfranzösisch zusammen. Gegendichunterhaltung. Interessant. Ein bis an die Fettbrüste bewaffneter Unterhaltungsnerd steht in einem Laden, in dem Patronen verkauft werden, Unterhaltungspatronen, die andern hat er im Gürtel umhängen. Glasbläsersachen verkaufen die auch, was den Laden natürlich endgültig suspekt macht. Lucien und Bertraund. Lucien stützt sich auf seinen Besen und räsonniert, darüber, dass die US-amerikanische Jugend über das Rückgrat einer Salatschnecke verfügt (da fällt mir Iris Radisch ein, die Herta Müllers „Atemschaukel“ in der Zeit zu extremkleinschnipsligem Konfetti verarbeitet hat, nach dem Nobelpreis und im Fernsehen aber hundertprozent andrer Meinung war, ganz toll). Es quietscht. Das verheißt nichts gutes. Ist ein ganz schlechtes Omen. Draußen rotten sich die Assassins des Fauteuils Rollants zusammen. Umwerfende Szene. Ein Lesefilm. Ein Western geradezu. Und was dann weiter vor sich geht, ist im Kern an Brutalität nicht zu überbieten. Der arme fette Kerl wird gepfählt. Finster und grandios. Fast ein Ballett mit reinrammendem Besen. Nur erträglich durch DFWs equlibristischen Ton, der selbst dem absoluten Grauen noch den absoluten Zauber abgewinnen kann.
Lucien stößt seinen letzten Schrei aus. Ich weiß nicht mehr, was ich gerade gelesen hab. Muss ich morgen nochmal machen. Eigentlich. Aber so gern les ich sterbenden Leuten nun auch wieder nicht hinterher. Schaunmermal.

19. Oktober

22. Oktober 2009 |

16.30. Großraum. Muss Biller noch mal lesen. Soll was drüber sagen. Eine einzige Fettnäpfchenlandschaft. Ein falscher Satz und man ist bei manchen schneller Antisemit, als man „Ungerecht“ stammeln kann. Aber was soll man denn sagen, von einem Buch, dass sich unter zumindest seltsamen Auspizien an Thomas Mann abarbeitet und an „Jakob und seinen Brüdern“ (weiß wer, wer das geschrieben hat), das davon erzählt, dass ich Biller dankbar sein soll, dass es ihn gibt, damit ich weiß er ich bin, und dass die Deutschen neidisch sind auf die Juden, weil die besser deutsch können (hat er schon mal den Berliner Ortsvorsteher gehört? Temps perdu, wie übrigens die ganze Zeit, von der er erzählt). Aber um Biller geht’s hier ja gottseidank nicht.
Hier kommen – als Minderheit – eigentlich nur Quebecer vor im Rollstuhl. Marathe und Steeply erzählen sich weiter was. Davon, was passiert wenn man sich zur vollständigen Befriedigung seiner Lüste etwas in sein neuronales Netz einpflanzen lassen könnte. Ein Glückschip sozusagen. Richard Powers hat daraus gerade einen ganzen Roman gemacht. Verheerende Zustände. Menschen, die nur noch in ihrer Bude liegen und sich sanft ins Nirvana schalten, allerdings in ein glückliches. Das konnte, in der Zukunft, die inzwischen hinter uns liegt, DFW aber noch vor sich hatte, gerade noch verhindert werden. Das Ding wäre zwar tödlich gewesen, hätte aber trotzdem reißenden Absatz gefunden. Die Menschen, so die bittere Wahrheit, sind halt so. Eine katatone Welt. Freiwillig. Und ohne die Patrone. Die kursiert aber jetzt. Die Büchse der Pandora ist offen im „Unendlichen Spaß“, wer reinschaut, lacht sich tot.
Gately gurkt mit Pat Montesians Aventura um den Pudding. Besser gesagt, er fährt wie der letzte Henker. Das fällt aber nicht auf. Weil im Jahr der Inkontinenz-Unterwäsche alle fahren wie die letzten Henker. Er rast durch eine Stadt, die mir ziemlich bekannt vorkommt. Post-Boston muss das sein, liest sich wie ein globales Zersiedlistan. Gately muss man sich wie Javier Bardem in „No country for old men“ vorstellen (könnten sich die Coens nicht überhaupt des „US“ annehmen, in drei Filmen wie „Herr der Ringe“?). Und während er so fährt und fährt, unter einem wie immer merkwürdigen Himmel, der „zeigt durchhängendes, schlierig verfahltes Gewölk“.
Das hab ich hier draußen auch. Und im Hirn auch. Vor allem wenn ich an Biller denke. Himmel hilf!

familiäre Fraktale

21. Oktober 2009 |

Wir treten ein in eine Welt, die uns erst fremd (gemacht) werden muss, bevor sie uns vertraut wird. Ein Glas schien ihm dieses Buch zu sein, so Michael Pietsch, Wallaces Lektor, nach Lektüre der ersten 400 Seiten, das jemand aus großer Höhe herunterfallen lässt. Nicht die Splitter allein sind interessant, ihre zufällige Anordnung nach dem Zerspringen, das Muster, das sie ergeben. Auch die relativ senkrechte Bahn, die das Glas im Flug beschreibt, seine Geschwindigkeit, das, was sich in ihm spiegelt während des kurzen Moments, in dem es fällt, die Reflexionen des Lichts, das möglicherweise von irgendwoher auf die Szene strahlt. Das auf Dauer gestellt: das Synapsenfeuer, das den Unendlichen Spaß entfacht. Nur: es handelt sich nicht um Zufälle. Das Muster, wie es da vor uns liegt, das hat Wallace zumindest wiederholt betont, ist so beabsichtigt. Was, aus literaturkritischer Perspektive, noch nichts darüber aussagt, ob es auch gelungen ist. Nur ist es schwierig, unendlich schwierig, sich das vorzustellen, wenn man 200 oder 400 Seiten gelesen hat. Auch nach 600 oder 800 sieht es noch nicht viel anders aus. Möglicherweise. Vielen geht das so.
Doch ich glaube nicht, dass Unendlicher Spaß ein schwieriges Buch ist. Nicht einmal in dem Sinne, wie Jonathan Franzen vor ein paar Jahren William Gaddis als „Mr. Difficult“ zu charakterisieren versucht hat. Das war, in einem literarischen Kontext, ebenso eine Familien- und Abstoßungsgeschichte, wie Unendlicher Spaß das literarisch und biographisch liefert.
Gefasst in Schönheit und Komplexität, in ihre wechselseitige Bedingtheit, legt Wallace eine vielfach gesplitterte Geschichte vor, die von Familienhölle erzählt, von Einsamkeit und Trauer, von Liebe, die nur unter der Bedingung maximaler Verunstaltung und Versehrung möglich ist (Joelle, Gately), vom verzweifelten Wörterfetischismus eines monströsen Kindes (ich meine nicht Mario), dass nicht nur durch mütterlichen Terror moralischer Wohlgestalt verstummt, sondern mit seinem tief verstörten Komplex aus Begehren und Schuld (der unerreichbare, zerlegte Vater, die promiske Mutter, die es mit John Wayne treibt und – wie es spät einmal relativ versteckt angedeutet wird – auch von Orin erkannt wurde) in einen Weltinnenraum von vollkommener Leere treibt. Hier kann man nun mit Wallace die sorgfältig arrangierten Spiegelsplitter hinzu montieren, die Laertes Gately und Joelle Ophelia bieten oder die Geschichte von Marathes Frau. Oder die zahlreichen anderen Mütter im Buch, wie die von Randy Lenz und Bruce Green. Verstörend an Unendlicher Spaß sind nicht Umfang, Syntax, Struktur oder Vokabular, sondern ihre Destillation in einer fiesen und finsteren, in vielfältig aufgefächerten Echos daherkommenden Familiengeschichte.

Ich verbleibe bei der einmal festgestellten (oder von mir zugewiesenen) Form der Gegensätze als einer Bestimmung des Unendlichen. Dementsprechend habe ich mir, nach Chaos und Kosmos, die nächste Dichotomie vorgenommen: Konzentration und Zerstreuung.

Beide Begriffe lassen sich unter verschiedenen Aspekten betrachten. Zuerst natürlich in der Physik. James Incandenza war in seiner ersten Karriere „mehr oder weniger bester Mann für angewandte geometrische Optik“ (S.92), hat dann mit Straßenlaternen und Hologrammen Geld verdient und ist schließlich zum Filmemacher avanciert. Der Großteil seiner Produktionen scheint schierer Blödsinn. Die Filmographie in Fußnote 24 (S. 1420 ff.) verzeichnet Werke mit Titeln wie „Hennen rennen“, „Das Universum keilt aus“. Selbst der Erzähler ist nicht von der Qualität überzeugt: „allerdings war ein Großteil davon … zugegebenermaßen überheblich, abgeschmackt und grottenschlecht“. Nicht wenige Filme sind unbetitelt, unvollendet, unveröffentlicht und ungesehen (fehlt nur noch ungenießbar). Bis auf seinen letzten: „Unendlicher Spaß“. Der scheint sogar das genaue Gegenteil der anderen zu sein, so faszinierend, dass der Betrachter den Blick nicht mehr abzuwenden vermag.

Selbstverständlich kann man mit den Begriffen Konzentration und Zerstreuung auch Gesellschaftstheorie betreiben und Theorie des Individuums. Wir leben in einer Gesellschaft, so scheint es, in der Zerstreuung und Ablenkung so sehr an der Tagesordnung sind, dass wir manchmal gar nicht mehr wissen, wovon wir uns da ablenken. Gibt es, inmitten dieser unzähligen Möglichkeiten zur Ablenkung, überhaupt noch ein Zentrum? Wenn Genuss und Glück Formen von Konzentration sind, wenn es dabei also einen Kern gibt, dann ist der Spaß womöglich die Ablenkung von diesem Kern. Ist die Vorstellung eines Zentrums, sagen wir, dort, wo der Mensch in sich ruht (ich sage nicht, dass er dort mit sich identisch ist), überhaupt sinnvoll?

Eduard Kaeser beschreibt in einem schönen Artikel in der NZZ das gesellschaftliche Phänomen der Ablenkung oder Dezentralisierung. Technik, heißt es dort frei, aber nicht so frei, dass man ihn nicht noch durchhören könnte; frei nach Adorno heißt es dort „Technik ist das Problem, für dessen Lösung sie sich hält.“ Beispielhaft dafür sei die Arbeit am Computer, die scheinbare Fähigkeit der Nutzer moderner Medien zum Multitasking. Mit zwanzig offenen Fenstern sind wir überall gleichzeitig. Damit beschreibt Multitasking eine zerrissene und zerstückelte Konzentration, für die Eduard Kaeser den schönen Begriff des „cogitus interruptus“ hat. Die für mich zentrale Gedankenfigur dieses Artikels ist die Aufmerksamkeit, die als physisch verstandene Gegenwart beschrieben wird: „Die Erosion der Aufmerksamkeit […] ist im Grunde eine Erosion des erotischen Rumpfs unserer Kultur“. Die so verstandene Erotik ist vor allem Anwesenheit und Gegenwart. Zerstreuung verstehe ich in diesem Zusammenhang nicht etwa als die Unmöglichkeit, sich zu konzentrieren oder als Prokrastination. Sie ist vielmehr eine Art der Wirklichkeit zu begegnen, eine wirklichkeitsadäquate Methode.

Die Erwartung eines klassischen Plots in einer fiktiven Erzählung beschreibt bereits eine geordnete, zentralistische und konzentrische Vorstellung von Kosmos. Das chaotische und mobilierte Arrangement das DFW dem Leser präsentiert, ist dies gerade nicht. Wenn die Diagnose lautet, dass das Individuum zerstreut ist, müsste dann nicht die Behandlung lauten: mehr Konzentration. Aber ich glaube nicht, dass DFW beabsichtigt, der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten. Auch wenn die sich vielleicht in seinem Werk spiegeln möchte. Er ist kein Arzt, der eine Diagnose braucht, um dann die entsprechende Therapie einzuleiten. Wozu auch? Die einen, die Skeptiker, würden nach medusischer Manier erstarren, die anderen, die Hedonisten, nach narzisstischer ertrinken. DFW ist kein Arzt, sondern Künstler. Die Aufgabe des Künstlers ist nicht die Verbesserung eines Zustandes, sondern seine Gestaltung.

Ich möchte die Begriffe Konzentration und Zerstreuung im Folgenden vor allem als Stilmittel und Technik betrachten, als Kompositionsmerkmal dieses Romans. Dazu habe ich mir zwei Beispiele herausgesucht, an denen ich das Gesagte meine herauslesen zu können.

Das erste Beispiel dient der Illustration des allzu frühen Erreichens eines Ziels. Ein Junge kommt nach einem erfolgreichen Tennisturnier nach Hause, trinkt in der Küche Nesquick mit Natriumzyanid versetzt und kippt tot um. Sein Papi hört wie der Junge „aus den Latschen kippt“, rennt in Bademantel und Lederschlappen in die Küche, beatmet ihn und bekommt dabei etwas von dem zyanierten Nesquick in den Mund, kippt ebenfalls aus den Latschen und stirbt. Dann kommt die Mami in Schlammpackung und Flauschpuschen angerannt, beatmet den Papi, bekommt auch etwas von dem Nesquick ab und kippt natürlich auch tot aus den Latschen. Jeder andere Autor würde es vermutlich dabei belassen, nicht jedoch DFW, der fängt hier erst richtig an: „Und da die Familie sechs weitere Kinder in verschiedenen Altersstufen hat, die im Lauf der Nacht von Knutschterminen nach Hause kommen oder in kleinen Pyjamas mit süßen kleinen Stofffüßen unten dran die Treppe herabtappen, angezogen von den Geräuschen des kumulativen Aus-den-Latschen-Kippens, sowie, sollte ich hinzufügen, gelegentlichen qualvollen Gurgellauten, und aber da alle sechs Kinder vierstündige, vom Rotary-Club gesponserte Erste-Hilfe-Kurse im YMCA von Fresno absolviert haben, liegt am frühen Morgen die ganze Familie da, blau angelaufen, und steif wie die Zaunpfähle, die im Todeskrampf verzerrten Münder mit inkrementell kleineren Mengen des tödlichen Nesquick verschmiert“.

Das Komische ist, dass alle neun Familienmitglieder nacheinander „aus den Latschen kippen“, blau anlaufen – außer der Mami, die nur da blau anläuft, wo sie nicht schlammfarben ist – und sterben wie auf einer Theaterbühne, kleine Kinder, die kaum laufen können, aber bereits die Mund-zu-Mund-Beatmung im Erste-Hilfe-Kurs erlernt haben, die immer kleiner werdenden Kinder, die sich nacheinander in der Küche beatmen und dabei immer kleinere Mengen des tödlichen Nesquick an den nächsten weitergeben (orale Tradition im besten Sinne), die dann ebenfalls tot aus den Latschen kippen; das Beschreiben dieser Latschen, von väterlichen Lederschlappen, über die mütterlichen Flauschpuschen zu den Kinderpyjamas mit den kleinen Füßchen unten dran, eine halbe Seite, wo man vor Lachen kaum noch Luft bekommt und genau das Röcheln und Ersticken spürt, das diese Familie ausgerottet hat. Dieses ausufernd Komische wird kontrastiert von kleinen Parzellen, „inkrementell“ kleinen Mengen von tödlichem Ernst: da ist die Rede von „gelegentlich qualvollen Gurgellauten“ und von „im Todeskrampf verzerrten Münder“.

Das zweite Beispiel bilden die Lebensgeschichten zweier Frauen, die anlässlich einer Versammlung der Anonymen Alkoholiker vorgetragen werden. Eine Frau erzählt, dass sie als Kind adoptiert und in der Familie mit einer schwerstbehinderten Schwester konfrontiert wurde. Die „wirbellose Katatonikerin“ (S. 535, ff.) wurde nur „Es“ genannt und war offenbar zu keiner menschlichen Regung fähig. Die Adoptivtochter wurde dennoch gezwungen, die Behinderte bisweilen mitzuschleifen. Wenn die Geschwister, die Sprecherin und ihre „submammale Eskorte“ (Mammalogie ist ein Teilgebiet der Zoologie, das sich mit Säugetieren beschäftigt), dann abends nach Hause kamen, wurde „Es“ vom Vater mit einer Raquel-Welch-Perücke verkleidet – der solchermaßen die bereits Entstellte noch einmal ent-stellte – und Nacht für Nacht vergewaltigte. Sowie er fertig war und lächelnd aus dem Kinderschlafzimmer verschwand, ging das Mädchen ans Bett ihrer missbrauchten Stiefschwester, nahm ihr die Maske ab und schloss ihr „liebevoll“ die gespreizten Beine. So grausam diese Geschichte ist, wird sie von der nächsten noch einmal übertroffen (543 ff). Hier berichtet eine Frau von ihrer Drogensucht und davon, dass sie Geld verdiente, indem sie anschaffen ging. Sie wurde schwanger, nahm weiterhin Drogen und verdiente weiter Geld. Bei der Geburt kam sie dann „mit der Spitze des Eisbergs der Verantwortung in Berührung“. Sie schleppte die Totgeburt, dieses „gesichtslose Etwas“, im brütendheißen August mit sich herum. Sie ging weiter anschaffen „denn alleinerziehende Mutterschaft hin oder her, sie musste trotzdem high werden und sie musste trotzdem tun, was sie tun musste, um high werden zu können, also hielt sie das in Decken gewickelte Baby in den Armen, wenn sie in ihren fuchsienfarbenen Samtminipants und dem passenden rückenfreien Oberteil sowie grünen Pfennigabsätzen auf den Strich ging“.

Beide Male haben wir Momente, die aus dem Fluss der Geschichten herausstehen, auf eine (zumindest mich) absolut verstörende Weise. Im ersten Fall wird das Geschehen von DFW lediglich mit dem Adjektiv „dysfunktional“ bedacht, eine dysfunktionale Familie nennt er das. Im zweiten Fall ist von „alleinerziehende[r] Mutterschaft“ die Rede und dann heißt es lediglich, dass die Frau auf „unglaublich schmutzige und entwürdigende Weise“ anschaffen ging. Gerade so, als wäre Prostitution nicht erniedrigend, sondern eine alltägliche und normale Art der Geldbeschaffung. Das Erniedrigende wird hier nicht einmal genannt: Es entzieht sich, vielmehr DFW entzieht es unserer Vorstellung. Und das bei einem Autor, der sich ansonsten alles vorstellen kann und auch alles benennt – der sogar die Kleidung der Frau beschreibt – und der höchst detailliert das Sterben von Lucien Antitoi schildert, dem ein angespitzter Besenstiel in den Mund gerammt und dann durch seinen ganzen Körper hindurch geschoben wird bis er am Anus wieder austritt.

(Obwohl mir in der Regel gefällt, was Herr Niemann sagt, aber in dieser Situation kann ich das Ironische nicht erkennen, möglicherweise ist das auch, wie soll ich’s nennen?, ein Gewöhnungseffekt. Ich habe nie zuvor eine derartige Szene gelesen. Liest man so etwas häufiger, könnte es als Zitat oder als Übertreibung verstanden werden, was dann möglicherweise ironisch wirkt.)

Mit den Worten „dysfunktional“ und „entwürdigend“ hier und mit „qualvollen Gurgellauten“ und „Todeskrampf“ dort, baut DFW einen deutlichen Kontrast zwischen dem Textfluss und einzelnen herausragenden Worten auf. Diese herausstehenden, verstörenden Worte möchte ich als Inseln der Konzentration bezeichnen. Das ist nicht nur eine kontrastierende Technik. In diesen Worten verdichtet sich etwas, eine Vorstellung die wir haben. In den genannten Fällen hält der Leser kurz irritiert inne. Er wäre kaum irritierter, wenn diese Szenen ausführlich beschrieben würden. Im Gegenteil, die Irritation erreicht durch diese winzigen Parzellen eine erhebliche Dichte. Durch den Kontrast entsteht beim Leser etwas wie ein Schock. In dem komischen Sterben der neunköpfigen Familie sind die Todesqualen der einzelnen Individuen ausgesprochen präsent. Die Knutschtermine und die Pyjamas mit den kleinen Stofffüßen der die Treppe herabkommenden Kinder gehen einem nicht aus dem Kopf.

Eine ähnliche Technik, anders akzentuiert, doch mit demselben Ziel, nutzt DFW in jenem Textstück, das beginnt mit den Worten „Folgende Dinge im Raum waren blau“ (S. 734 ff.). Das lässt er auf den nächsten dreißig Seiten einfach mitlaufen. Bisweilen wird etwas Blaues erwähnt. Es scheint nicht weiter wichtig und dennoch strukturiert er durch diese Beiläufigkeit den gesamten Abschnitt. Hier findet die Konzentration durch ein einzelnen Wort statt: Blau. Beliebt ist auch der Kontrast von elaboriertem Idiom mit Umgangssprache oder Dialekt. Auch das Abbrechen von Sätzen dient diesem Kontrast, usw. etc. pp.

In solchen Kontrasten entsteht eine besondere Qualität. Zerstreuung ist hier nicht als gesellschaftliche oder individuelle Krankheit verstanden und auch nicht als literarische. Die Weitläufigkeit seiner Erzählungen und Geschichten und die Detailliertheit – das Zerstreuende – das hat noch eine andere Ebene. All diese Leute haben eine Geschichte. Nach jedem, dem wir hier begegnen, dreht sich der Autor kurz um. Alles und jedes ist ihm ein Wort wert. Jeder Krüppel, der durch dieses Buch kriecht, und da wird viel gekrochen, hat seine Geschichte. Und diese Geschichten sind erzählenswert. Selbst dann, wenn der Erzähler hinterher kriechen muss. Dies empfinde ich als sehr human. Das mag durchaus einen manischen Zug haben. Aber so wenig wie ich glaube, dass es Aufgabe des Künstlers ist eine Therapie der Gesellschaft einzuleiten, so wenig glaube ich, dass es die Aufgabe des Lesers ist, eine des Autors vorzunehmen.

Auch darin steckt wieder dieser Zug ins Unendliche, ins Unfassbare und Unvorstellbare. Und das hat DFW ja oft, dass er alles steigert, bis ans Unvorstellbare heran, bis an die Grenzen des Erträglichen („unglaublich schmutzig und entwürdigend“) von dem ich in meinem ersten Beitrag gesprochen habe. Das ist vielleicht genau jenes „Zuviel“ von dem Herr Wedler in seinem Beitrag „Nach 800 Seiten …“ spricht. DFW brauche immer dieses „zu viel der splitternden Knochen, der blitzenden Messer, der Augenhöhlen perforierenden Pfennigabsätze. Das Zuviel, das den ganzen Roman durchzieht und immer etwas Distanz schafft zur fiktiven Realität, als ließe sich diese, vielleicht vor allem für den Autor, so besser ertragen: als Groteske, als ein Lächeln bei aller Betroffenheit.“ Möglicherweise reden wir vom selben Phänomen. Das Lächeln in der Betroffenheit, der Ernst im Gelächter oder das Unverstandene und Rätselhafte, das aus der Grausamkeit herausholt. Eine Distanz zum Fluss der Geschichte, in die man gut eintauchen kann. Man kann sich mitreißen lassen von dieser Zerstreuung, es liest sich fast alles sehr locker. Und immer wieder stößt DFW uns dann vor den Kopf. Er rüttelt an seinem Leser, dass der ihm bloß nicht verloren gehe in all der Zerstreuung. Und er verdirbt ihn uns auch immer wieder, diesen nahezu unendlichen Spaß.

(Konzentration, Verdichtung, Zerstreuung: Diese Diskussion wird möglicherweise gerade von Herrn Wedler und Herrn Hamann angefangen; ich hoffe, sie wird angefangen, dann komme ich auch noch dazu. In diesem Zusammenhang ist eine Bemerkung Steeplys interessant, im Zusammenhang mit dem Film „Unendlicher Spaß“. Er vermutet, „dass Dichte plus Realismus zu viel sein könnte“ (S. 709). Eben dies sind, wenn ich richtig verstehe, die Einwände gegen die Maßlosigkeit des Textes.)

„Der erotische Rumpf unserer Kultur“, das waren die Worte von Eduard Kaeser aus dem eingangs zitierten Artikel. Permanente Höhepunkte hält niemand aus. Der größere Teil ist eben Zerstreuung. Das bedeutet aber noch keine Dezentrierung, solange wir uns bisweilen dieser erotischen Konzentration erinnern (und befleißigen). Der Film „Unendlicher Spaß“ ist im Grunde pervers: unendliche Schönheit, unendliche Lust, permanent witzig, permanent brutal oder lustvoll, ununterbrochene Dichte und Intensität: das hält kein Mensch aus. Unendlichkeit übersteigt unser Fassungsvermögen. Unendlichkeit übersteigt, was ein Mensch begreifen kann: wir können nicht unendlich Lust empfinden, kontinuierlich Höhepunkte aneinander reihen, sondern nur bisweilen, als kleine, konzentrierte Punkte in einem ansonsten eher weitläufigen, lustfernen und oft auch lustlosen Raum. Wir halten es nur aus, wenn wir das als kleine Inseln und Parzellen betrachten, in einem allgemeinen Strom der Zerstreuung. Aufmerksamkeit ist von Natur aus selektiv, nicht permanent. Die als Erotik verstandene Anwesenheit ist keine ununterbrochene Aufmerksamkeit, sondern ein Verhältnis von Konzentration und Zerstreuung. Diese Verhältnisse können sich verschieben. Es gibt sicherlich Grund zur Klage, aber geklagt wurde schon immer. Wer sagt denn, dass wir uns von einem guten Zustand wegbewegen, hin zu einem schlechten? Wie ist denn der gute Zustand von gestern entstanden, der ja vorgestern auch schon beklagt wurde? Wenn Wirklichkeit nicht länger als ein Kontinuum erlebt wird, muss sich die Wahrnehmung, um diese Wirklichkeit zu erleben, den veränderten Verhältnissen anpassen. Aber war unser Verhältnis zur Wirklichkeit vor dem Computer und dem Multitasking tatsächlich ein besseres, will heißen, wirklichkeitsadäquateres? Und wer sagt, dass die Übereinstimmung von Wirklichkeit und Erleben gut ist? Vielleicht wäre eine größere Differenz sogar aufregender. Erotischer wäre sie allemal.

Ich habe das vor nicht langer Zeit an anderer Stelle zitiert und ich zitiere es jetzt noch einmal, weil es mir gut gefällt und weil es die Sache, die ich hier verhandele, den Versuch die Unendlichkeit durch zwei Gegensätze zu bestimmen, sehr schön trifft, ein Zitat von John Locke: „Glück und Unglück sind zwei Zustände, deren äußerste Grenzen wir nicht kennen.“

Antichrist

20. Oktober 2009 |

„In Amerika selber gibt es keine Theorie, null, ihre Literatur der Gegenwart steht tief im 19. Jahrhundert, Schinken, Schund, Verblödung, und wo bisschen was Avancierteres und Ambitionierteres versucht wird, muss es mit tausend Fußnoten und lächerlichem Formalkrempel der Frühmoderne zum Eingeweihtenschwachsinn hochstilisiert werden…“ Rainald Goetz: Loslabern, S. 154

In der Nacht von einer anhänglichen Katze geträumt. Irgendwann sprach sie meinen Namen aus: „René…“ Ich war sehr erstaunt. „Das zeugt von hoher Intelligenz, dass du meinen Namen sprechen kannst“, sagte ich. „Was ist Intelligenz?“ fragte die Katze. Ich ging hinunter und saß in der Küche meiner Großmutter, deren Pudel mir auf den Schoß sprang. Auch das war ein angenehmes Gefühl. Trotzdem überlegte ich, ob die Katze nicht eifersüchtig sein könnte, und wollte den Pudel vorsorglich runterschubsen. Dann wachte ich auf und dachte lange über eine Antwort auf die Frage der Katze nach.

„Geht das kürzer?“ (US, S. 771)

Am Abend saß ich in Lars von Triers „Antichrist“. Da sprach ein Fuchs: „Das Chaos regiert.“

„Don, ich bin vollkommen. Ich bin dermaßen schön, dass ich jeden fühlenden Menschen ganz einfach um den Verstand bringe. Sobald man mich gesehen hat, kann man an nichts anderes mehr denken, will man nichts anderes mehr sehen, vernachlässigt man seine sonstigen Verpflichtungen und redet sich ein, wenn man nur jederzeit mich um sich haben könnte, würde alles gut. Alles. Als wäre ich die Antwort auf das sabberndste Bedürfnis, mit der Vollkommenheit auf Tuchfühlung zu gehen.“ (US, S. 775)

Legende:
H= Hetero, S= Schwul, L= Lesbisch, T= Transgender, NX= nicht explizite Sexszenen, X= explizite Sexszenen, D= Dokumentation, FT= Fetisch, SW= Sexwork, F= Frauen – Filme aus weiblicher Sicht, A= Animation.

Schöne Stellen, gute Szenen, besonders auch das Gespräch von Gately mit dem SchMaZ. Die anschließende Randy-Lenz-Episode ist nicht ohne und könnte zu Träumen führen. Andererseits ließe sich konstatieren, dass DFW hier einfach mal Stephen King sein wollte. Die Spirale der Gewalt. Der Antichrist.
(Stand: S. 793)

Über das Buch

1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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