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18.00. Basel Euroairport. Teuerkaffee. Novembriger Nieselregen vor den Fenstern. Kein Flugzeug weit und breit. Vor anderthalb Stunden hätte es losgehen sollen. Jetzt geht noch eine halbe Stunde nix mehr. Zuviele kranke Piloten, heißt es. Der Zwölfkilomann hat Spaß. Immerhin.
Er sitzt in einem Auto. Da ist er immer glücklich. Muss der Genpool sein. Es sieht tatsächlich ein bisschen so aus, wie Gatelys Halbsinner beim Umparken. Draußen in Basel ist es auch mindestens so duster wie drinnen im Buch in Boston. Und irgendwas läuft ganz gewaltig schief vor Ennet House. Lenz entwickelt sich in seiner Bedröhntheit zur olfaktorischen Katastrophe, sein Auge eiert in der Höhle. Den kann man doch nicht mehr an Steuer lassen, der führe wie ein Zwölfkilomann. Gately bleibt nichts übrig. Und ob man Glynns ausgeweideten Käfer auf die andere Straßenseite bekommt, bevor ihn der Abschleppwagen einfängt wie Ernst Jünger seine Krabbler… Alles, was ich je losgelassen habe, hat Krallenspuren. Steht auf Glynns Tür. Sowas kauf ich mir auch. Glaubt mir zwar keiner, hilft aber vielleicht. Doony R. Glynn, mit Divertikulitis im Bett liegend, entspinnt einen voll verpeilten Dialog mit Gately, der bloß die Schlüssel für die Karre, den „Raserati“, „den Kugelporsche, des Doonulators fahrbaren Untersatz“. Da schreits und draußen ist die Hölle los. Die Autos parken wild und ein paar ausländerigen Typen halten die Insassen mit einer Wumme in Schacht. Sie wollen Rache für den geschächteten Köter, den Lenz auf dem Gewissen hat. Wie in Zeitlupe gleitet jetzt alles ins tödlich Chaos. Lenz redeschwallt sich in Gatelys Rücken. Gately weiß nicht, was er tun soll. „Immer beschleunigt und verlangsamt sich alles zugleich.“ Gately bricht mehrere Knochen, wird halb aufgeschlitzt. Der will uns doch nicht von der Fahne gehen, den brauchen wir doch noch. Echt, sehr echt diese PrügeleiMesserstechereiSchießerei. Ein einschlägiges Ballett. Eine Schlägerei alle gegen alle. Es wird gekotzt. Schädel werden gespalten. Der Blutverlust ist nicht gering. So schön hat noch kaum einer übers Zufügen massiver Verletzungen geschrieben. Es wird alles immer noch schlimmer. Früher endete der Tag mit einer Schusswunde. Keiner will die Pullizei rufen, weil sie irgendwie alle Bewährung haben. Ein Wachmann hilft, der ist aber hackedicht. „Ich befehl der gansen Sitatschon sofodd Halt und Cheine Beweung.“ Das hätte Erich Honecker nicht schöner sagn können.
Man weiß nicht, ob man weinen oder lachen soll. Eher weinen. Ist alles so traurig. November. Ich will nach Hause.
13.30. Über Schalsingen. Der Sommer endet hier. Picknick in den Obstgärten mit Blick auf die Vogesen. Blauer Himmel. Duft von sanft faulenden Birnen. 20, in Worten: Zwanzig Grad in der Sonne. Leiser Wind aus der Provence. Ein leichter Gut… Jetzt hör ich aber auf. In Berlin blasen schließlich alle Trübsal, die ich kenne. Falls jemand übrigens wandern will mit dem Spaß: Er passt auch ins Fach eines Kindertragerucksack. Führt allerdings im Zusammenwirken mit einem kleinen Zwölfkilomann zu üblen roten Streifen auf den Schultern.
Wie komm ich von diesem bukolischen Mittag in die emotionale Kälte von Orin Incandenza? Am besten ansatzlos. Orin liegt mit dem halbschweizer Handmodell, einer fremdgängigen Mutter, im Hotelbett und quält sich maschinell durch die postkoitale Phase. Eigentlich ist der Mann frigide, wenn das Männer sein können. Lustempfangsgestörter Lustspender. „Es verschaffte ihm echte Lust, in dieser Phase den Eindruck von Zuwendung und Intimität zu vermitteln“, nur falsch halt. Echt ist da auch nix. Es klopft und Orin grinst sich eins über die Panik seines „Subjekts“. Ihm ist das wurscht. „Schweizer Hahnreie, heimlichtuerische Gesundheitsattachés aus dem Nahen Osten, mollige Zeitungsjournalistinnen: Er war auf alels gefasst.“ Wie kommt der auf den Gesundheitsattaché? Das ist unter DFWs normalem Niveau. Das Gespräch, das Orin dann mit dem Rollstuhlfahrer hat, der vor der Tür steht und eine Umfrage zu machen vorgibt, während sein Schweizsubjekt versteckt unter der Bettdecke um Luft ringt, ist allerdings nobelpreisverdächtig. Abgefahren (ist das jetzt schon minderheitenophob?).
Hätte ruhig länger sein können. DFW sperrt uns schnell wieder in Ennet House ein. Zu Gately. Wir sehen ihn beim allnächtlichen Beschließen zu. Die Frage, warum das so elend lang dauert, bis die Nacht tatsächlich über das Drogistenseelensilo hereinfällt, muss noch, habs gerade nachgeschlagen, dreißig Seiten auf Beantwortung warten. Irgendwas Finsteres bereitet sich vor. Im Moment allerdings erzählt DFW von einer finsteren Abzocke, auf die auch das Berliner Ordnungsamt hätte kommen können. Vielleicht sollte ich das nicht zu laut schreiben. In Boston, selbst in der Sponsorenzeit noch arm und nicht sehr sexy, dürfen Autos nur auf jeweils einer Straßenseite parken. Und die Straßenseite wechselt punkt 0.00 Uhr. Und punktum 0.01 fallen Streifenwagen und Abschleppdienste über ihre Beute her. Was für Gately bedeutet, dass er die motorisierten seiner sackflöhigen Insassen auf die Straße scheuchen muss.
Viel Spaß. Muss jetzt Schluss machen. Der Zwölfkilomann stolpert, blutigrot vor Marmelade um den Mund, auf meinen Spaß zu, bewaffnet mit Wachsmalstift. „Maln! MAHLN!“ In Bücher malen, darf aber nur ich. Quod licet jovy, non licet… Jetzt red ich schon wie Vatern, furchtbar.
Was ist denn hier los? Wird der Spass plötzlich narrativ? Da spinnen sich doch tatsächlich Fäden durch die sonst so voneinander abgelösten Szenen. Lenz lockt die „Nucks“ zum Ennet House und bei Gately rastet das CowboyGen zurück in die Schiene. Zudem wird nun dramaturgisch zugespitzt, so massiv, dass ganz jäh tatsächlich ein echter Pageturner aus dem US wird. Mit Cliffhanger!!! Es könnte jetzt durchs Dach regnen, ich würde weiterlesen. Tatsächlich aber, im Zuge der erlesensten Prügelszene, dich ich je gelesen und bei der Fight Club Lektüre vergeblich gesucht habe, verpasse ich meine Haltestelle und komme zu spät zur Arbeit. Erst beim Cliffhanger (der angeschossene Gately muss ins Haus, kann aber nicht, weil angeschossen) tauche ich wieder auf, da bin ich schon am Savignyplatz.
Außerdem wird der Spass persönlicher. Aus der Vielzahl der Stimmen schält sich ein Ton, der gleichzeitig Bass und Falsett ist. Als lägen Pergamente zwischen den Seiten, auf denen ein ganz ungefilterter Furor tobt.
Es ist alles nicht mehr so mikroskopisch und der Humor, der sich vorher als massives Plateau über den Abgrund gespannt hat, wird brüchiger.
Alle sitzen in leicht verschobenen Winkeln zu Hal, der in der vorletzten Reihe drüben an der Wand in sich zusammengesackt ist, aber nach einigem subtilen und beiläufigen Halsverrenken zeigt sich, dass tatsächlich alle diese Mittelschichtmänner, die mindestens in den Dreißigern sind, Teddybären an die Pulloverbrüste drücken – und zwar identische Teddybären, mollig, braun, mit abgespreizten Gliedern und kleinen roten Filzzungen, die ihnen aus den Mündern hängen, als würden sie gerade erwürgt. Der Raum ist jetzt bedrohlich ruhig bis auf die Zischlaute der Heizungsventile und den schluchzenden Kevin, und das Plip von Hals Speichel auf dem Boden des leeren Glases ist lauter, als ihm lieb wäre. Der Nacken des weinenden Mannes wird immer röter, er umklammert seinen Teddy und wiegt sich auf den Pobacken hin und her.
Andrea Köhler, wurde 1957 in Bad Pyrmont geboren. Nach dem Studium der Germanistik und Philosophie in Braunschweig und Freiburg im Breisgau begann sie 1984 als freie Journalistin mit dem Schwerpunkt Literaturkritik. Von 1991 bis 1994 arbeitete sie als Kulturkorrespondentin in Paris. Seit 1995 Feuilletonredaktorin der NZZ mit Zuständigkeit für die deutschsprachige Literatur. Heute lebt sie als Kulturkorrespondentin für die NZZ in New York. Sie ist Mitglied in zahlreichen Jurys. 2003 erste Preisträgerin des Berliner Preises für Literaturkritik.
23.30. Cabernet mitos, anscheinend noch so ein önologischer Testbetrieb, dunkelschwarz, knapp unterhalb der Schnapsgrenze, ein verschladererter Wein sozusagen. Aber großartig. Noch ein bisschen Zelenka, der war auch ein bisschen verschladerert, aber noch großartiger als der Wein. Familie schläft. Draußen bellt ein Hund gegens Blätterrauschen an. Es ist nachtschwarze Nacht. Schritte. Ein Mann im Mantel.
Ach nee. Der ist im Buch und heißt Randy Lenz. Schon fast vergessen. Jetzt latscht er mit seinen Loafern durch vermülltes Suburbia. Es ist nachtschwarze Nacht. Bruce Green sieht ihn. Folgt ihm. Beobachtet ihn. Sie sind in einem heruntergekommenen Viertel, in dem Musik läuft, die Marsianer in die Flucht schlagen würde. Ukululelehawaiihemdmusik. Das ist noch großartiger als der Wein und der Zelenka. Wie DFW hier zwischen magischer Nachtbeschreibung, Bewegungsbeobachtung und neuem aus der Innenerinnerungwelt des Bruce Green hinundherrast, welchen Zug diese total simple Geschichte bekommt bis zum horrorfilmhaften Nichtaufblitzen des Messers, das Lenz dem gigantischen Hund durch die Kehle zieht. Die Verdichtung von Atmosphäre und Musik. Lenz sagt es etwas, das „wie ,Da hast du’s’ klingt, er stößt den Hund von sich in dne Vorgarten, die Gestalt oben am Fenster gibt einen schrillen Männerlaut von sich, der Hund geht zu Boden und prallt mit dem fleischigen Knirschen eines 32-Kilo-Sacks Mini-Eiswürfel auf die Seite“. Das ist alles nicht nett. Aber eine von diesen finsterbergmadigen Szenen, die einen durchhalten lassen.
Noch 30 Tage.
Randy Lenz läuft weg, verfolgt von einem Montego und berollschuhten Quebecoisnanern. Mario Incandenza eiert herein. Der nachtwandelt, hat seltsamerweise den Kontakt zu Hal verloren und fühlt sich wohl in Ennet House, weil das ganz echt ist. Echt ist auch so eine Kategorie im Spaß, über die man eine Doktorarbeit schreiben könnte. Was Mario in dieser Sequenz aber besonder offenbart, ist seine Begeisterung für Madame Psychosis und ihre Rundfunksendungen. Gerade die frühen, an denen noch was echt war, mit Sachen, die echt sind. Pemulis erzählt, er hätte da eine Idee für einen telefonischen Gebetsservice für Atheisten, wo der Atheist die Nummer anruft und am anderen Ende klingelt es nur endlos. Aber keiner geht ran. Kann keiner lachen in der E. T. A.
Das unendliche Geschehen dieses Tages setzt sich dann tatsächlich in Ennet House fort, wo Gately einen klitzekleinen Einblick in die bürokratischen Aufgaben eines Betreuers in Ennet House gibt, was beweist, dass es da auch nicht besser ist, als einem gottverlassenen kleinen Krankenhaus in Wanne-Eickel. Kate Gompert, erfahren wir immerhin, sitzt wieder tief in ihrem schwarzen Loch, zu dessen Aufhellung nicht unbedingt beiträgt, dass sie Sylvia Plate liest. Steht da so. Kennt Gately wohl nicht. Sonst hätte er der Suizidalen das Buch der Suizidistin weggenommen.
Gately betritt die Frauenabteilung. „Mann im Anmarsch“ muss er rufen. Wenn ich das gleich mache, werde ich mit William Boyds „Einfache Gewitter“ beworfen. Ist zwar leichter als der Spaß, tut aber trotzdem weh. Am Kopf.
Der Übersetzer dürfte (mit Walter Benjamins Unterscheidung in der „Wahlverwandtschaften“-Arbeit) eher für die Sachgehalte als für den Wahrheitsgehalt eines Romans zuständig sein, aber ich möchte mal einige Eindrücke zusammenfassen, die hier in letzter Zeit geäußert worden sind: Wallace manipuliert den Fokus sowie das Verhältnis von Erzählen und Erzähltem oder verfährt damit unkonventionell. Den Fokus stellt er überscharf ein, so dass der Leser wie beim Aufsetzen einer falschen Brille ob der Überfülle der (fachsprachlich) geschilderten Details Augen- oder Kopfschmerzen bekommt. Und bei den Rednern der AA-Treffen liefert Wallace zum einen mehr an Biographie und gegenwärtigem Leidensdruck, als man sich beim Lesen wünschen würde, zum anderen blendet er in genau dem Augenblick ab, in dem die Sache interesssant werden könnte: am Umschlagpunkt, an dem Hoffnung auf Besserung des Zustands (des Individuums? der Verhältnisse?) aufschimmert: Nach dem Aufschlag am Nullpunkt der eigenen Existenz kann man anfangen, sich wieder aufzurappeln, kann auf einen festen Stuhlgang hoffen wie in der kleinen Groteske auf S. 507f. oder auf ein Wiederzusammenkommen mit Frau und Tochter (S. 1020f.). Das Verfahren entspricht geradezu perfekt Adornos Ästhetik der negativen Utopie: Nur das Grauen der Existenz kann beschrieben werden, nicht aber ein Zustand, der anders wäre.
Nach fast 400 Seiten Spaß am Stück, starre ich den Videothekar mit leerem Blick an und kehre unverrichteter Dinge wieder zum Sofa zurück. MUSS. WEITER. LESEN.
Das Subjekt hat Kaffeeflecken und Asche zwischen den Seiten, wir haben uns aneinander gewöhnt. Ich frage mich, wie Wallace es schafft, eine Stille herzustellen, wo eigentlich Getöse sein müsste. Feiner kann man emotionale Schräglagen nicht beschreiben, der US bohrt sich wie ein Holzwurm ins Gehirn.
Der Großvater Incandenzia erbricht sich über dem staubigen Skellett des Ehebettes, Hal tänzelt solange hungrig in einer Höflichkeitschoreographie mit der Moms herum, bis er ihren vom Mund abgesparten Apfel, der zudem nach ihrem Parfum riecht, essen muss. Dabei wird er Zeuge, wie nebenan ein tennisschlägergroßes Mädchen psychisch fachgerecht zerlegt wird.
Überhaupt wird es immer gewalttätiger im US. Vom Besenstiel möchte ich hier gar nicht sprechen, aber wenn brennende, rasende Katzen ihren flüchtenden Mörder Lenz beleuchten, wenn erstickende Katzen „Geräusche“ machen, wenn sie in ihren Plastiksäcken gegen Laternenpfähle geschlagen werden, dann bin ich fast froh, wenn Hunden mit einem guten alten Messer einfach die Kehle durchgeschnitten wird.
Aber dann spricht Lenz mit Green und Green schweigt und hört zu. Man glaubt fast, Lenz können das Katzentöten gegen das mitGreensprechen eintauschen. Aber während Lenz vom grotesken Mästungstod seiner Mutter berichtet, hat Green eigentlich mehr zu sagen. Man hätte schon misstrauisch werden können, wie angemessen und ausgeglichen der schweigt. Green hat nicht nur seine Mutter auf dem Gewissen, die sein, vom Vater untergejubeltes Scherzartikelgeschenk nicht überlebt, der Vater wird zudem hinterher zu einer selbstzerfleischenden Fratze und versetzt Scherzartikel seiner Firma mit Sprengstoff, wird also bald nach dem Tod der Mutter hingerichtet. Uff. Jetzt vielleicht doch noch mal zum Videothekar?
„Technisch großartig, dieses Werk, die Ausleuchtung und die Winkel bis in die Details der Einzelbilder geplant. Aber seltsam hohl und leer, ohne Gespür für ein dramatisches Telos – keine narrative Entwicklung auf eine richtige Geschichte hin; keine emotionale Entwicklung auf ein Publikum hin … Für Joelle waren diese Filme eher die Selbstgespräche eines hochintelligenten Menschen.“
Joelles Beschreibung ihrer ersten Eindrücke von den frühen Filmen des J.O. Incandenza (S. 1063) klingt so, als charakterisiere DFW seinen eigenen Roman. Und wie zur Bestätigung meiner Anmerkungen vom 17.10. („Nach 800 Seiten …“), dass das im ganzen Buch spürbare, Distanz schaffende Zuviel vor allem für den Autor notwendig sei, um die Realität besser zu ertragen, heißt es kurz darauf über Hals verstorbenen Vater: Es sei so, als habe „er nicht anders gekonnt, als aufblitzende Menschlichkeit zu zeigen, nur um sie dann so kurz und unanalysierbar wie möglich zu halten, weil sie ihn sonst irgendwie kompromittiert hätte“.
Dass DFW letztlich doch eine moralische Wirkung des US intendierte, zeigt eine anschließend kurz beschriebene Filmsequenz des J.O.I., eine vierminütige „reglose Aufnahme“ von Gian Lorenzo Berninis „Verzückung der heiligen Theresa“. Die „Stasis der klimaktischen Statue“ präsentiere „in einer verborgenen Geste, die geradezu etwas Moralisches hatte, … die Selbstvergessenheit im Alkohol als der in Religion/Kunst untergeordnet“. Satire hingegen wird eine klare Absage erteilt. Satire stamme in der Regel von Menschen, „die selber nichts Neues zu sagen hatten“.
Was DFW Neues zu sagen hat, findet sich (vor allem) zwischen den Seiten 800 und 1100, die ich als bisherige „Klimax“ des Buches erlebt habe, Seiten, in denen über weite Passagen hin dieses Zuviel wie weggeblasen und die Distanz nahezu aufgehoben ist. Es geht um eine Beschreibung der in allen ihren Winkeln ausgeleuchteten Depression. Das so viele Buchseiten einnehmende Suchtproblem und die sadistischen Grausamkeiten erscheinen hier nur als deren Teilaspekte.
Nach einer Darlegung des stumpfen bis verzweifelten Erlebens der „Anhedonie“ als depressives Symptom (S. 994 ff.), das Wallace auch als Folge der indoktrinierten Fehlerwartung beschreibt, persönliche Leistung und „Erfolg“ stabilisiere das Selbstwertgefühl, kulminiert sein Bericht in der absoluten Einsamkeit, die ein Mensch in den schwersten Phasen der Depression erleidet, eine Einsamkeit, die sich am schmerzhaftesten im Zusammensein mit den Nächststehenden zeigt. Hals Mutter, heißt es, „hört ihr eigenes Echo aus ihm heraus, glaubt aber, ihn zu hören, und das gibt Hal das einzige Gefühl, das er seit einiger Zeit bis Oberkante Unterlippe fühlt: Er ist einsam“.
Es ist die gleiche abgrundtiefe Einsamkeit, wie sie von DFW in den letzten Monaten vor seinem Suizid – und übrigens auch von Heinrich von Kleist – dokumentiert ist. Wallace´ Schilderung der Depressionsstadien würde jedem medizinischen Lehrbuch zur Ehre gereichen.
Ausdrücklich stellt DFW das depressive Erleben des Individuums in einen gesellschaftlichen Rahmen. „Anhedonie und innere Leere“ würden in der amerikanischen (man könnte auch sagen: in der westlichen) Gesellschaft als „hip und cool“ behandelt. Der daraus resultierende „missmutige Zynismus“ sei nach der Pubertät, die dafür besonders anfällig sei, „nicht mehr wegzukriegen“. Gefühl sei in Amerika gleichbedeutend mit Naivität. Und Naivität sei „in der Theologie des millenialen Amerika die letzte wahrhaft schreckliche Sünde“.
Wallace stellt auch die Frage, warum untadelige, liebevolle und geduldige Eltern so viele „emotional zurückgebliebene“, „egozentrische“, „chronisch depressive“ und „von narzisstischem Selbsthass verzehrte“ Kinder aufziehen. Sie findet sich in dem Bericht des einst engsten Freundes von Orin, Marlon K. Bain, gegenüber einer gewissen „Ms. Helen Steeply“ (in der Endnote 269) und ist auf Avril Incandenza gemünzt, Hals Mutter. Das gleiche Thema hat DFW in fast identischer Form in der späteren Erzählung „Suicide as a Sort of Present“ verarbeitet.
Am eindrücklichsten aber stellt DFW das Erleben der Depression in einer nächtlichen Beichte (S. 934 ff.) des Ennet-House-Insassen Geoffrey Day dar: als das absolute Grauen. „Es stieg auf und wuchs und verschlang alles und war grauenvoller, als ich es je ausdrücken könnte… Seit jenem Tag verstehe ich intuitiv, warum Menschen sich umbringen.“ Ein Suizid erfolge nicht etwa aus nüchtern bilanzierendem Abwägen oder „weil der Tod plötzlich reizvoll erscheint“, sondern weil er „der etwas kleinere Schrecken zweier Schrecken“ sei. Deshalb auch seien die bei Therapeuten so beliebten „Nicht-Suizid-Verträge“ schlicht „grotesk“ – sie verstärkten nur die Einsamkeit des Depressiven.
Knapp 200 Seiten bleiben mir noch zum Lesen bis zum Ende des Buches. Mehr an Kulmination abgründiger Verzweiflung aber bedarf es eigentlich nicht.
16.30. Staufen. Viel Wasser, viel Alkohol. Pilgerstätte für St. Obstler. Welche Folgen C2H5OH-Abusus haben kann, sieht man im Angesicht des Rathauses. Sie wollten die Wärme der Erde nutzen, bohrten in wahrscheinlich angeschladerertem Zustand so für sich hin. Und jetzt muss alle naslang ein Statiker durchs Rathauscafé toben und erklären, ob man da noch Kuchen verkloppen kann oder nicht. Alles über 14.5 % ist Verbrechen.
Zurück zu Herrn Röttgen. Sieht man mal von Blumenbachs Arslanian-Leistung ab, die wunderbar verknäueltes Deutsch aufs Papier bringt, ist der Dialog eher enden wollend, es wird modernmythischer Stoff durchgejagt. Was mit atomarer Müllverstrahlung in Flora und Fauna entstehen kann. Die gigantischen Hamster zum Beispiel. Seltsame Wälder. Ein Regenwald auf sterabolischen Anoiden, wie das dann da heißt.
Pemulis findet in der Muslima immerhin eine neue Urinlieferantin, weil sie ja so rein herumlebt in der unreinen E. T. A. Welt. Orin sieht einen Rollstuhlfahrer (hat unser Finanzminister… nee, das verbitt ich mir). Und ist einem „skalpskrakelierenden Wind“ ausgesetzt.
Es geht mal wieder wild durcheinander in diesem Abschnitt. Jetzt ist der Lenz wieder da. Und wieder eine der Geschichten aus der Geschichtenbaumschule des verunfallten, vertrottelten Baufacharbeiters. Lenzens Mutter, fett wie eine Tonne oder zwei, sitzt im Busklo. Das Fenster ist offen, weil – naja, wieso schon. Da holpert der Bus massiv über eine Baustelle und Frau Lenz hängt mit nackten vier Buchstaben an der frischen Luft. Sie bekommt eine ultrasatte Abfindung, an der sie sich final überfrisst. Toll, aber wahrscheinlich genauso aus dem Netz geklaut wie der Baufacharbeiter. Wg. Erbschaftsstreitigkeiten im Hause Lenz erfindet Herr Blumenbach erfindet die Winkelavocados. Das muss man sich einfach merken, wenn man wieder mal einen Anwalt beschimpfen will.
Es stirbt noch eine Mutter. Unter gruseligen Umständen. An einem Scherzartikel. Wenn DFW keinen Mutterschaden hatte, weiß ichs nicht. Und Frau Mama fährt immer noch brav zu allen Gedächtnisveranstaltungen. Familien sind was Wunderbares.
17.30. Burg Baden. Übers Rheintal fällt der Dunst herein wie eine der Ado-Gardinen von früher. Die Lichter der französischen Chemiefabrik direkt hinter Grenze beginnen orange zu flackern. Und am Horizont geht allmählich die Sonne unter, leuchtet wie Saurons böses Auge über die Berge.
Mr. Dooney R. Glynn erzählt gerade, dass er im Jahr des Herrn, pardon, im Jahr vor der Sponsorenzeit 1989 sich eine etwas übertriebene Menge einer Droge reingepfiffen habe, die er nur „die Madame“ nannte. Als Folge habe er, sagt er, mehrere Wochen lang unter einem Bostoner Himmel gelebt, der keine sanftgekümmte blaue Kuppel mit Schäfchenwolken, Sternen und Sonnen mehr war, sondern ein flaches, rechteckiges, kaltes euklidisches Raster mit schwarzen Achsen und eienm fadenfeinen Linienréseau“. Dafür zu wissen, was ein Linienréseau ist, bin ich wieder zu doof. Was mich aber viel mehr reizen würde, als die Lektüre der Doktorarbeit über das Blau im Spaß, wäre eine Arbeit über den Himmel im Wallace’schen Gesamtwerk. Meine Einstiegsdroge war jedenfalls die Formulierung „ein Himmel wie Hirnmasse“ am Anfang von „Kleines Mädchen mit komischen Haaren“ (dessen Setting mit den verlassenen Kindern auf der Kuhweide mich fatal an einen Shortlistroman dieses Jahres erinnert).
Glynn, stellt sich übrigens raus, muss wohl der fatale Arbeiter gewesen sein, dem gleich am Anfang die Ladung Ziegel durch unglaubliche Blödheit seinerseits auf den Schädel geplumpst ist. Er soll, steht da, derart geschielt haben, „der konnte mitten in der Woche stehen und beide Sonntage sehen“. Herrlich.
Bewiesen ist jetzt auch – schnell noch, bevors hier zu dunkel und zu kalt wird – dass der Kollege Blumenbach und Walter Moers geistesverwandt sind. Es geht wieder einmal um Drogentests und darum, wie man sie umgehen, fälschen kann. Es könne jeder einen E. M. I. T.-Urintest finkeln. Leitet sich wohl von fingieren ab. Finkeln kenn ich aber als Tunwort vor allem aus den Gimpelgesetzen. Die wiederum finden sich in den „13 ½ Leben des Kapitän Blaubär“, weswegen wir kurz das darin sich befindende „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Professor Abdul Nachtigaller zitieren. Unter „Gimpelgesetze, die“ findet sich unter Punkt 9: „Du sollst nicht rückwärts finkeln!“ (und unter 10: Du sollst nicht vorwärts finkeln!). Kein Mensch weiß übrigens und auch kein Gimpel, was finkeln ist. Man muss es halt nur lassen.
Punkt 12 heißt übrigens: Du sollst nach der Stadt mit dem Namen Anagrom Ataf gehen, und wenn du sie gefunden hast, sollst du sie fangen und zu deiner Heimstatt machen für immerdar! Da geh ich jetzt hin. Sieht mir inzwischen sowieso alles sehr nach Fata Morgana aus hier.
1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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