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Dieser Satz, den der jugendliche Hal Incandenza im Morgengrauen aus dem Telefonhörer hört, kann Drohung oder Versprechen sein. Denn Gedankenfülle und aufgestauter Rededrang stehen für beide, den Anrufer und den Angerufenen, in einem ebenso verheissungsvollen wie risikoreichen Verhältnis.
Hal und sein älterer Bruder Orin am anderen Ende der Leitung sind nicht die einzigen Gestalten, die auf den ersten 100 Seiten von „Unendlicher Spass“ unter dem Druck des Gedachten und dem Zwang zur Rede leiden. Und oft genug kennen die Figuren beide Seiten der Medaille: den hellen Überschwang, mit dem das Gewusste und spontan Ersonnene hin zu einem Anderen will, und die dumpfe Überwältigung, die einem durch den Wortstrom eines Gegenübers widerfährt.
„Wenn Sie mich ließen, könnte ich in einem fort reden.“; droht uns Hal, nachdem er, unter dem qualvoll klaustrophobischen Geschwafel einer Universitätskommission und der Last der eigenen unartikulierten Gedanken zusammengebrochen, auf dem Boden einer Herrentoilette fixiert wird.
Sehnt sich dieser Roman unter Schmerzen nach einem gleichwertigen Gegenüber, nach seinem „fernen Gegner“ (S.99)?
Lässt er womöglich dennoch bloß zwei Formen von Kapitulation zu: ermattetes Aufhören oder die ohnmächtige Anbetung durch einen Fan, der sich rückhaltlos mit der Figur des Autors und der Machart des Textes identifiziert?
Wie könnte ein Lesen aussehen, das nicht vor der Fülle und Dichte des Gesagten in die Knie bricht?
Wo gehen Lücken auf, die uns zu eigenem Gedanken- und Phantasiespiel provozieren?
Gibt es Widerhaken, die der Selbstentwertung der Rede durch ein manisch enges Texten entgegenstehen?
Besteht also Hoffnung?
Oder ist es eine ausgesprochen sinistre Drohung, dass die Droge Marihuana, die weltweit Millionen von Schlaumeiern und Dummköpfen die Zunge löst, im Roman den Nachnamen „Hope“ trägt?
Georg Klein, geboren 1953 in Augsburg, lebt mit seiner Familie in Berlin und Ostfriesland. Sein Roman „Libidissi“ wurde als eine der wichtigsten Neuerscheinungen des Jahres 1998 gefeiert und in mehrere Sprachen übersetzt. 1999, im Erscheinungsjahr des Erzählungsbandes „Anrufung des Blinden Fisches“ wurde ihm der Brüder-Grimm-Preis verliehen und im Jahr 2000, für einen Ausschnitt aus „Barbar Rosa“, der Ingeborg-Bachmann-Preis. Zuletzt erschien 2007 „Sünde, Güte, Blitz.“
Als heute Ulrich Blumenbachs Übersetzung eintraf, kitzelte mich mein innerer Arno, und fing ich beim Anblick der Bände gleich zu berechnen an. Auffällig ist ja, dass die Übersetzung, trotz der merklich höheren Seitenzahl (+462 S.), nicht dicker ist als das Original, zumindest nicht als mein überdimensionales, als Paperback geleimtes Hardcover:
Unendlicher Spaß ist auch kleiner als meine amerikanische Ausgabe, doch nicht viel (-1 x -1 cm), obwohl es etwas mehr wiegt (ca. +155g); wahrscheinlich, so sagt mir mein Gefühl, liegt das am Einband eher als am Textblock. Ein Grund für die gleiche Dicke dürfte selbstverständlich das dünnere Papier sein, das dem deutschen Buch das Fingerspitzengefühl einer modernen Klassikerausgabe verleiht.
Doch diese technische Erklärung sollte die Frage, ob der Text denn auch wirklich satte 450 Seiten ‚länger‘ ist, nicht verheimlichen. Denn:
Die alleräußerlichste, jedem Leser bei der Beurteilung von Übersetzungen aus dem Angelsächsischen anzuempfehlende Klugheitsregel, ist die Vergleichung des Umfangs des Originals mit dem betreffenden deutschen Buch.*
Erfreulicherweise aber ist es vor allem der unterschiedliche Satz (max. -760 Zeichen pro Seite im ‚Haupttext‘, max. -1281 in den „Anmerkungen und Errata“), der zur gesteigerten Seitenzahl geführt hat. Auch die Anwendung, nach altbewährter Tradition, des sogenannten Schmidt’schen Vergrößerungsfaktors, den Arno Schmidt in seinem Verriss der deutschung Übersetzung eines anderen ‚Mammut=Bandes‘, James Jones‘ Some Came Running (1957), eingeführt hat, eingedenk der ’sattsam bekannt[en] … „Einsilbigkeit“ des Englischen, und noch mehr des Amerikanischen‘, lehrt uns im Falle Blumenbachs, dass die Übersetzung schon rein quantitativ besonders gut abschneidet.
‚Bei sehr sorgfältig gearbeiteten Übersetzungen‘, so Schmidt, dürfte der Vergrößerungsfaktor ‚immer noch 1,1 betragen‘, doch es gebe auch ‚Bücher – ich besitze eine deutsche JANE EYRE – wo er 1,4 ist; da kann man auf Anhieb sagen, daß der Übersetzer „umschrieben“ hat, also geschwatzt.‘ Ich habe einmal nachgezählt, und während Infinite Jest ungefähr 3.600.000 Buchstaben zählt (= ca. 14 Goethe’sche Werther**), hat Unendlicher Spaß ungefähr 300.000 mehr.*** Das heißt, dass Herr Blumenbach mit einem Vergrößerungsfaktor von nur 1,084 aufwarten kann, sogar mehr als eine ’sorgfältig gearbeitete‘ Übertragung also: zumindest die Berechnung verspricht eine Glanzleistung.
Ob die Lektüre das Versprechen einlöst, werde ich in den nächsten Wochen erfahren können. Ich freue mich, dabei zu sein.
_____________
* Arno Schmidt, „Von deutscher Art und Kunst (James Jones und der Text der ‚Entwurzelten'“ (1959). Bargfelder Ausgabe: Werkgruppe III: Essays und Biographisches. Band 4. Ed. Arno Schmidt Stiftung. Bargfeld/Zürich: Arno Schmidt Stiftung; Haffmans, 1995. S. 9-16, hier: S. 9.
** Theoretische Buchstabenzahl mit Ganzseiten: 76 x 42 x 978 + 87 x 55 x 96 = 3.581.136, oder ca. 200.000 Zeichen weniger als Jones‘ Some Came Running, das Äquivalent von ’15 Goethe’sche WERTHER; oder 21/2 Stifter’sche NACHSOMMER‘, so Schmidt.
*** Theoretische Buchstabenzahl mit Ganzseiten: 64 x 38 x 1403 + 73 x 48 x 134 = 3.881.632.
Dr. Iannis Goerlandt, geboren 1980, studierte Germanistik, Anglistik und Amerikanistik in Gent, Rostock und Antwerpen. Mit einer Arbeit zur utopischen Prosa Arno Schmidts promovierte er 2006 an der Universität Gent („Schulen zur Allegorie“, Aisthesis 2008). Weitere Veröffentlichungen zum Werk von u.a. Kurt Vonnegut, Max Goldt und David Foster Wallace. Er unterrichtet an der K.U.Leuven und arbeitet als freier Übersetzer. Im Herbst erscheint seine niederländische Übersetzung des Essays „A Supposedly Fun Thing I’ll Never Do Again“.
Schon der Titel klingt ja nicht gerade einladend. Auch wenn die prodromalen Zeitungsberichte vor Erscheinen der deutschen Ausgabe von „Infinite Jest“ den startbereiten Leser über die zentralen Vorkommnisse im Buch bereits gut informiert hatten, denkt dieser doch zunächst unweigerlich an die von DFW in seiner Kreuzfahrt-Reportage beschriebenen drei klassischen Spielarten der Todesverdrängung in der modernen Gesellschaft: die „Ertüchtigung“ (zum Übertünchen des Verfalls), die „Entspannung“ (i. S. von Abschalten aller Wahrnehmung) und eben das „gnadenlose Vergnügen“. Dahinter aber lauern, heißt es dort, Traurigkeit, Verzweiflung und Todessehnsucht.
Immer wieder musste ich in diesen Tagen an die Ausstellung von Richard Long (derzeit in der Tate Britain) denken – als diametralen Gegenentwurf zu der Welt, wie Wallace sie uns vorführt. Long, der Wanderer auf vorher erdachten geometrischen Figuren, mal einige hundert Meilen schnurgeradeaus, mal in immer größer werdenden konzentrischen Kreisen um einen markanten Punkt herum, in Kanada, der Mongolei, in der Sahara oder in Mittelengland, Steine sammelnd, Wege markierend – er setzte sich schlicht der Natur, dem Kosmos aus und reflektierte dabei, was geschah: nichts weiter, als dass sein Wandern die Landschaft und die Landschaft zugleich ihn veränderte. Das Bewusstsein der Endlichkeit und die Todesnähe selbstredend inbegriffen. Alles andere als ein „unendlicher Spaß“, wenig Humor, auch keine Entspannung und erst recht keine Geschäftigkeit.
Vielleicht ist Richard Long so etwas wie ein Pionier und Wallace als Schriftsteller dann einer, der dem Pionier hinterher schaut.
Nachdem der Postbote, pünktlich am 20. d. Monats, den Backstein mir ins Haus getragen hatte, fand ich mich sogleich wieder eingefangen. Zunächst mit starrer Miene an einem blanken Konferenztisch sitzend, dann auf den Fliesen einer öffentlichen Toilette am Boden liegend, stundenlang beschäftigungslos wartend in einer ziemlich eintönigen Wohnung. Als kleiner Lichtblick auf Seite 36 die erste der herbeigesehnten, bei DFW so markanten Fußnoten, die in diesem Buch Endnoten sind; diese erste noch ein bisschen unspektakulär. Eines der zwei zuvorkommenderweise vom Verlag eingelegten Trauerbänder markiert nun die Seite 1411.
Erst jetzt wird mir deutlich, dass auch in DFW´s Erzählbänden von körperlicher Bewegung wenig die Rede ist, dass die Protagonisten meist in Statik verharren. Wenn überhaupt Bewegung, dann wird mit dem Auto gefahren, bis auch das (in The Suffering Channel) während eines Regengusses im Matsch stecken bleibt und versinkt. In der Tristan-Erzählung führt der einzige dokumentierte Gang den Mörder Reggie Ecko durch den Strandsand zu seinem Isolde-Opfer, und auch der gute alte Neon hat bei seinen Versuchen, das Heucheln zu verlernen, zwar Rennradtouren und Joggen erprobt, aber eben nicht das Wandern. Nur in Wallace´ erstem Roman, dem Besen im System, wurde noch veritabel gelaufen, mal auf dem Campus eines College, gegen Ende sogar bei einer ausgedehnten Exkursion durch eine Freizeit-Erholungs-Wüste.
Vergeblich fahndete ich übrigens vorn und hinten im Unendlichen Spaß nach dem doch eigentlich obligatorischen Hinweis des Verlags auf mögliche gesundheitliche „Risiken und Nebenwirkungen“ der Lektüre von mehr als 1500 Seiten. Als (einziger?) Banause unter lauter Philologen und Literaten sehe ich mich, sozusagen professionell, veranlasst zu einer entsprechenden Info über lauernde Gefahren: Kopfschmerzen infolge Genickstarre, gestörter Schlafrhythmus, Angstträume (die Warnung kommt leider bereits zu spät: siehe Beitrag von Georg M. Oswald von gestern!), Adipositas infolge Fehlernährung, Fettleber nach unkontrolliertem Alkoholkonsum, Inaktivitätsarthose aller vier Sprunggelenke, Unterschenkelthrombose, Ulnarisparese (bei einseitiger Buchhaltung), Obstipation mit nachfolgenden Hämorrhoiden, Depression (aus vielfältiger Ursache).
Was man dagegen tun kann? Bewegung, natürlich! Aber nun nicht gleich ins Fitnessstudio, denn das wäre – tiefenpsychologisch betrachtet – eine Form des Mitagierens, da die Welt des DFW ja leider mehr oder minder auch die unsrige ist und Mitagieren die Distanz aufhebt und den Blick fürs emotionale Ganze trübt. Es reicht auch, alle zehn Seiten mit straffem Gang dreimal durch alle Wohnräume zu laufen oder einmal ums Haus. Oder eben wandern. Zehn Kilometer geradeaus, wenn zufällig vor Ihrer Tür eine Wüste liegen sollte. Eine Steppe tut’s auch. (Nur nicht in einem Moor!) Oder auf der Direttissima hinauf auf Ihren Hausberg und in weiten Spiralen wieder bergab. Á la Richard Long. Versuchen Sies mal! Viel Spaß dabei!
Prof. Dr. med. Hans Wedler, Facharzt für Innere Medizin, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Ehem. Ärztlicher Direktor der 2. Medizinischen Klinik (Klinik für Internistische Psychosomatik) Bürgerhospital Stuttgart. In den Heilbronner Kleist-Blättern wird demnächst ein Aufsatz von ihm über Kleist und Wallace erscheinen.
Erst einmal das physische Unbehagen. Das Buch liest sich im Liegen (auf dem Rücken) äußerst schlecht. In der rechten Hand: 1, 6 Kilo. In der linken: gerade mal 100 Gramm. Wenn ich einen Zug von der Zigarette nehmen will, muss ich das Buch ablegen, was dem Rauchen eine merkwürdige Überbetonung verleiht. Es ist, als würde ich jemanden imitieren der raucht, und schlimmer noch: jemanden imitieren der liest.
Also sitzend. Im Café. Nur ist es an diesem Augusttag, an dem die Sonne sich über der Stadt ausschüttet, als hätte man ein Ei auf dem Pfannenrand aufgeschlagen, unmöglich, ein stilles Café zu finden. Ein freier Tisch ist nicht zu haben, also suche ich mir einen Platz gegenüber einem anderen Leser. Er liest 8 ½ Millionen. Unsere Bücher berühren sich in der Mitte des Tisches.
Da ich 8 ½ Millionen gerade zu Ende gelesen habe, ist es fast so, als würden unsere Köpfe sich an der Stirn berühren. 8 ½ Millionen legt sich wie eine Schablone über die ersten Seiten, die ich jetzt lese. Vor allem weil ich durch unser gemeinsames Lesepult gleich wieder in das Problem rutsche, dass ich seit der Lektüre von 8 ½ Millionen verschleppe. Die Überbetonung der Tätigkeit macht sie zum Fake. (als würden wir jemanden imitieren…ect)
Mein Lesegegenüber liest so dermaßen konzentriert und ungehemmt, dass ich annehme, die mangelnde Irritation über eine Stirn an Stirn Lesende, muss gespielt sein.
Kopfüber versuche ich mitzulesen. Mein Gegenüber scheint jetzt ungefähr dort zu sein, wo der Nachbau des Mietshauses abgeschlossen, die Nachspieler in der Endlosschleife Alltagssequenzen wiederholen und der Ich-Erzähler im obersten Stock über einem Modell des Ganzen hockt. Ich bin erst eine halbe Seite weit und denke mehr über McCarthy nach als über Wallace.
Aber dann der erste schöne Fund:
„Er sitzt auf dem Stuhl, so hoffe ich, gleich neben mir“. Also halte ich das Buch, so hoffe ich, in der Hand, während ich umblättere.
Svealena Kutschke, geb. 1977 in Lübeck, studierte Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis in Hildesheim und lebt heute in Berlin. Sie erhielt 2006/2007 das Werkstatt-Stipendium der Jürgen-Ponto-Stiftung und ist Preisträgerin des Open Mike der Berliner Literaturwerkstatt 2008. 2009 erschien ihr erster Roman Etwas Kleines gut versiegeln (Wallstein).
Heute, am denkbar heißesten Tag des Jahres, ist das Buch gekommen. Ein Ziegel. Er fiel auch gleich runter und hat seine erste Katsche, links oben. Heute Morgen, beim Basketball, fühlte ich mich kurz nackt. Unter der Sporthose trug ich eine weite Unterhose. Später hatte ich ein Déjà-vu. Der Ziegel macht keinen Eindruck auf mich, vor zehn Jahren habe ich schon „Ulysses“, „Die Ästhetik des Widerstands“, und vor fünf „Jahrestage“ gelesen. Nein, Proust nicht. Allerdings hat er zwei Bändchen. Ich lese an, „Jahr des Glad-Müllsacks“, das erste Kapitel, die ersten beiden Sätze lauten: „Ich befinde mich in einem Büro, umgeben von Körpern und Köpfen. Meine Haltung kongruiert bewusst der Form des harten Stuhls, auf dem ich sitze.“ Die Kunst des zweiten Satz, obwohl ich ihn niemals so formuliert hätte. Ich gehe raus und kaufe Zigaretten, die Gitanes Blondes kosten jetzt schon 5 Euro, für 20 Zigaretten, der ursprüngliche Plan war ja, während der Lektüre von „Unendlicher Spaß“ das Rauchen aufzugeben. Ich weiß, ich bin vorschnell, ich habe noch vier Tage. Nächster ins Auge springender Satz: „Ein leicht digestiver Geruch liegt im Zimmer.“ Vorher war mir bereits aufgefallen, dass mich die virtuelle Anwesenheit des Übersetzers leicht befangen macht. Der Satz „Der Übersetzer dankt… seinem Vater Arnold Blumenbach, ohne dessen mäzenatische Zuwendungen er die Übersetzung nicht hätte abschließen können“ klingt schön und wohlverdient und erinnert mich an die Maxime „Reiche Eltern für alle“. Die Exposition ist geschickt, aber auch typisch: „Auf der anderen Seite des Konferenztischs aus poliertem Kiefernholz, der im spinnfädigen Mittagslicht von Arizona…“, gute Einführung des Orts. Ab Seite 11 bin ich drin. Es ist fantastisch. (Stand: Seite 28.)
René Hamann, geb. 1971 in Solingen, lebt in Berlin als Journalist und Schriftsteller. Zuletzt erschienen: „Das Alphabet der Stadt“, Berliner Szenen, Verbrecher Verlag 2008; „Berge und Täler, davor Männer und Frauen“, Gedichte, Gutleut Verlag 2009.
Anmerkungen des Übersetzers Ulrich Blumenbach (pdf)
»Der Roman ist eine Schatzkiste, in der man Wörter findet, die man im ganzen Leben nicht noch einmal lesen wird… Die folgenden Anmerkungen erhellen zum Einen die schiere Sachhaltigkeit dieses fest in Naturwissenschaft, Geschichte und Kultur wurzelnden Romans. Sie wollen zum Anderen dabei helfen, Wallace’ trojanischen Humor besser auszukosten. Der Anspielungsreichtum steigert die Fallhöhe seiner Pointen, diese zünden aber nur, sofern die Bedeutung von Wallace’ Wort oder Verweis auch erkannt wird.«
Ulrich Blumenbach, im Vortext zu seinen 60-seitigen Anmerkungen
Letzte Nacht habe ich geträumt, unser Haus sei einsturzgefährdet wegen der vielen Bücher, die sich darin befinden. Die sich weitenden und vertiefenden Risse in den Wänden hinter den Regalen bewiesen es. Meine Frau bestellte ein Umzugsunternehmen, das die Bücher abholen und einlagern sollte. Leider war das Unternehmen, wie sich herausstellte, nicht zertifiziert. Als es mit mehreren Lastwagen anrückte, zeigte sich, dass das ganze Viertel, in dem wir wohnen, auf schwankendem Boden stand. Gerade noch rechtzeitig gelang es uns, aus dem Haus zu laufen, bevor es einstürzte, wie kurz darauf der komplette Straßenzug. Alle Nachbarn waren tot. Ich beschloss, die Tatsache, dass meine Bücher daran Schuld waren, fein säuberlich für mich zu behalten, hatte aber ein sehr schlechtes Gewissen. Vor dem Einschlafen hatte ich das Zusatzmaterial zu „Unendlicher Spaß“ gelesen, (erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch, Schutzgebühr 5,00 Euro, ISBN 978-3-462-04175-0) in dem unter anderem Ulrich Blumenbach, der Übersetzer, etwas über seine Arbeit erzählt.
Georg M. Oswald wurde 1963 in München geboren, lebt dort als Schriftsteller und Rechtsanwalt. Mit seinem Roman „Alles was zählt“ gelang ihm auch international der Durchbruch. Für sein Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.
Bevor es losgeht, die simple, aber entscheidende Frage an sich selbst: Warum machst du hier mit? Antwort: Weil ich mir immer weniger Zeit nehme, genau zu lesen – was auch daran liegt, dass ich das Gefühl habe, dass seit ein paar Jahren Bücher immer schnell produziert werden und gar nicht mehr auf Dauer bzw. Langfristigkeit angelegt sind. Jedes Halbjahr kommt ein neues Programm, kommen hunderte von neuen Büchern – welche davon bleiben? Antwort, für mich persönlich: Ganz wenige. Es passiert mir immer seltener, dass ich das Gefühl habe, dass ich ein Buch wirklich ernst nehmen sollte.
Warum habe ich also dieses Gefühl bei „Unendlicher Spaß“ und nehme ich mir jetzt die Zeit, über 1500 Seiten zu lesen? Z.B. deshalb: Wallace entspricht so perfekt dem Bild eines coolen Autors, dass man „geneigter“ als sonst ist, sein Werk als interessant einzustufen. Vom Slacker mit sexy Look zum hochintelligenten Medienliebling, in den wenigen Youtubevideos, die es gibt, angenehm bescheiden und ehrlich, extrem tragisches Schicksal usw. Und dann die Vorschusslorbeeren von Leuten wie Franzen oder Delillo. Nicht zu vergessen seine Erzählbände, die alle für mich, ich gebe es zu, wie ein Versprechen klingen, aber noch nicht der große Wurf sind (für mich). Etüden, Spiele, manchmal zu angeberisch und selbstverliebt – aber immer ziemlich originell. Löst „Unendlicher Spaß“ dieses Versprechen ein? Der Gleichung Umfang = Anspruch nach zu urteilen jedenfalls mal schon. Oder ist das alles, inklusive, Entschuldigung, auch dieser Blog, ein Hype, ein Marketinggag, dem ich gerade erliege?
Denn dieses Paradox ist doch spannend: In einem Hauptseminar an der Uni bissen wir uns alle die Zähne aus an Wallace’ „Interviews“; manchmal war gar nicht klar, worum es inhaltlich eigentlich geht – nur eben soviel: dass das extrem effektvolle, scheinbar komplexe Literatur ist. Wie kommt es also, dass solche Texte, die mit zum schwierigsten gehören, was man zur Zeit lesen kann, eine regelrechte Jüngerschar nach sich ziehen und tausendfach verkauft werden? Liegt das allein am Text oder eben doch zu einem guten Teil an dem vom Leser, also von mir selbst, hineinprojizierten Umfeld? Wir werden sehen.
Thomas von Steinaecker ist ein deutsch-österreichischer Schriftsteller und Journalist. Bisher erschienen von ihm neben dem Hörspiel „Meine Tonbänder sind mein Widerstand“ (BR 2007) und dem Feature „Gescheiterte Existenzen oder Glückliche Erben?“ u.a. zwei Romane, „Wallner beginnt zu fliegen“ (2007) und „Geister“, beide mit Comics von Daniela Kohl. Am 10. August sendet ARTE seinen Dokumentarfilm „Stockhausen – Musik für eine neue Welt“. Auszeichnungen, u.a. Aspekte-Preis 2007, Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2007, Bayerischer Kunstförderpreis 2007, Förderpreis des Kulturkreises der Deutschen Wirtschaft 2008.
24.08. bis 01.12.2009
Ein paar tausend Leser auf infinitesummer.org haben bereits vorgemacht, wozu es nun auch im deutschsprachigen Raum Gelegenheit gibt: den Unendlichen Spass miteinander teilen!
Das Projekt:
Ein 100tägiger öffentlicher Lesezirkel in Form eines Weblogs: www.unendlicherspass.de.
Es geht allein um David Foster Wallaces Roman Infinite Jest, den Ulrich Blumenbach jetzt ins Deutsche übersetzt hat: Unendlicher Spass.
Am 24. August 2009 erscheint das Buch im Verlag Kiepenheuer & Witsch und von da an für 100 Tage, bis zum 1. Dezember 2009, stürzen sich Schriftsteller, Übersetzer, Kritiker, Wissenschaftler und andere Leser auf die gemeinsame Lektüre dieses 1600seitigen brainwashers.
Sie berichten von ihrer Lektüre, wie sie vorwärts kommen oder eben nicht, notieren Bemerkenswertes, Aha-Momente, Kapitulationen, Erkenntnisse. Sie interpretieren, stellen Fragen, diskutieren mit den anderen, erstellen Listen und Links, kommentieren in Ton und Bild. Leser des Blogs können sich anmelden und (moderierte) Kommentare zu Beiträgen abgeben und so im Austausch mit den Autoren des Blogs eine weitere Diskussionsebene eröffnen.
Wie umfangreich und wie geartet ein Beitrag (oder wie viele Beiträge auch immer es dann tatsächlich werden) aussehen soll, liegt ganz im Ermessen jedes Einzelnen. Es geht nicht um Experten- oder Insidertum (wobei: wer will, soll auch das tun), sondern um eine entspannte, verzweigende, begeisterte oder verzweifelnde Lektüre all der orientierungslosen und neugierigen Leser von Unendlicher Spass.
Alle, die in 100 Tage unendlicherspass.de einsteigen, können sich an einem Fahrplan orientieren, in dem ein Lektürepensum von wöchentlich ungefähr 100 Seiten vermerkt ist.
Das Pensum ist ein Richtwert. Denn ganz haut das ja nicht hin mit dem Zeitraum: hielte man sich strikt an 100 Seiten, würden am Ende noch 200 Seiten Endnoten fehlen, die man sich auf keinen Fall entgehen lassen sollte.
Natürlich wird es den einen oder die andere Leser/in geben, die zwischendurch mal vorpreschen oder dann wieder ermattet zurückbleiben, um dann ruhig mal von den Anstrengungen der anderen zu profitieren. Kommentare und Diskussion sind also willkommen!
Herausgeber von www.unendlicherspass.de ist der Verlag Kiepenheuer & Witsch. Redaktionell betreut wird die Website vom Autor und Kritiker Guido Graf.
100 Tage: 24.08.–01.12.2009
24.08.–30.08. | Kapitel 1 – 9, Seiten 7-99 |
31.08.–06.09. | Kapitel 10 – 12, Seiten 99-194 |
07.09.–13.09. | Kapitel 13 – 16, Seiten 195-315 |
14.09.–20.09. | Kapitel 17 – 20, Seiten 316-441 |
21.09.–27.09. | Kapitel 21 – 22, Seiten 441-548 |
28.09.–04.10. | Kapitel 23, Seiten 549-639 |
05.10.–11.10. | Kapitel 24 – 25, Seiten 640-776 |
12.10.–18.10. | Kapitel 26, Seiten 776-893 |
19.10.–25.10. | Kapitel 27-1 – 27-11, Seiten 893-993 |
26.10.–01.11. | Kapitel 27-12 – 27-36, Seiten 993-1104 |
02.11.–08.11. | Kapitel 27-37 – 28-03, Seiten 1104-1216 |
09.11.–15.11. | Kapitel 28-04 – 28-13, Seiten 1216-1316 |
16.11.–22.11. | Kapitel 28-14 – 28-24, Seiten 1316-1410 |
23.11.–29.11. | Anmerkungen und Errata |
30.11.–01.12. | Anmerkungen und Errata |
1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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