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Das sitzt so sehr, daß sofort weiterzulesen unmöglich ist.
(185).
Ein von einer berüchtigten Berliner Kette schändlich instandbesetztes Kult-Café am Checkpoint Charlie. 14.30 Uhr. Gigantischer Milchkaffee, unbequeme Hocker. Hinter mir an der Wand singt Elton John. Er hat einen flachgelegten Flokati als Haare auf dem Kopf. Immerhin spielt er tatsächlich Klavier, was er ja – wie man im letzten liveübertragenen Konzert gesehen hat – längst nicht mehr immer tut. Wünsch mir meinen Bach zurück. Der würde zwar nicht mehr zum Wetter passen (indiansummerfarbene Welt), aber besser als dieser Kolossallärm wäre es auf jeden Fall.
Heute hoult erst mal der geschätzt drei Meter große Neger weiter seinen Arno-Schmidt-auf-Drogen-Hiphop. Nichts für gefüllte Mägen, das Zeug. Da spritzt sich einer tot und wird von seinen Kumpels nicht sehr elegant beseitigt. Blumenbach hat wieder Schwerstarbeit geleistet, obs diesmal wirklich überzeugt, weiß ich aber nicht. Es stehen mehrere Rätsel im Raum, mal sehen was mit ihnen passiert.
Hal und Orin telefonieren und lügen sich die Hucke voll. Dass Telefone nur bedingt zur Kommunikation taugen, wird schön vor Augen geführt und vorbereitet, was später kommt, nämlich die Frage, warum so wenig Menschen vom Tele-, auf das Videofon umgestiegen sind in unserer nähereren Zukunft (weil man sich dann nicht mehr verstecken kann beim Kommunizieren).
Wir wechseln wieder einmal den Ort und die Person und den Ton (führt eigentlich irgendeiner Buch, gibt es im Buch sowas wie ein Organigramm, hatte Foster Wallace eins wie Uwe Johnson welche hatte?). Das Ennet House Drug and Alcohol Recovery House. Von einem epiphanisierten Ex-Junkie gegründet, der als „der Mann ohne Vornamen“ firmiert und im (ganz toll) „Jahr des Yushityu 2007 Mimetische-Auflösung-Patronensicht-Hauptplatine- Leicht-Zu-Installieren-Upgrades Für Infernatron/InterLace TP-Systeme Für Heim, Büro oder Unterwegs“ (Uff!!!) starb.
Jetzt muss in DFWs Festplatte wieder irgendein Kurzer zugeschlagen haben. Und wir finden eine besonders lustigen Fall von dusseligem Unfall am Bau, Hal Incandenzas Schulessay, in dem er „Hawaii fünf null“ und „Polizeirevier Hill Street“ vergleicht – und prophezeit den katatonen Detektive der Zukunft (was mich an Walter Moers „saloppe Katatonie“ erinnnert, in die ich allmählich falle), eine alphabetische Liste separatistsicher/anti-o.n.a.n.istischer Gruppen und eben einen Rückblick auf die Entwicklung der Videofonie. Ich verleihe dem Buch hiermit den Ben-Schott-Preis für herausragende Sammelsurienliteratur.
Es gibt genreetablierende erste Sätze wie „Captain Johnson verließ als erster das Raumschiff“ (Philip K. Dick) oder „Treddleford hatte es sich in einem Armsessel vor dem heimeligen Kaminfeuer bequem gemacht, mit einem Gedichtband in der Hand und in dem wohligen Bewußtsein, daß draußen ein beharrlicher Dauerregen gegen die Fenster des Clubs prasselte.“ (Saki) Und es gibt figurenetablierende erste Sätze. Das „Jim, doch nicht so, Jim“ des alten Incandenza ist so ein Satz. Unter all den furchterregenden Vaterfiguren, die „Unendlicher Spaß“ bevölkern, ist der Großvater von Orin, Mario und Hal, der seine Enkelsöhne immer in die Dornen schmiss, für mich der furchterregendste. Das „Jim, doch nicht so, Jim“ durchdröhnt den Roman wie ein Gong und hallt noch in Pemulis’ Warnung nach „Trau nie dem Vater, den du sehen kannst.“ (S. 1535 – und Pemulis und sein Bruder haben alle Gründe, Vätern mißtrauisch zu begegnen; vgl. S. 980 ff.) Jedes Fünkchen Zärtlichkeit ist diesem Mann fremd, und Erziehung verwechselt er mit einem Schraubstock.
(gestern nacht geschrieben; dann sah ich, >>>> daß Niemann sich gemeldet hat und stellte den Beitrag noch nicht ein, um ihm den Raum zu lassen. Jetzt stehen aber bereits Krekeler und Gröschner dazwischen, also „darf“ ich.)
Zur >>>> Lesung hin, von der Lesung zurück. Auf der Hinfahrt, ich hatte doch lesen wollen, nur vor mich hingedämmert, dann sogar eingeschlafen, aufgewacht, weitergedämmert. Vor mir der Laptop, der je nach Landstrich, mal ins Netz ging, mal wieder rausflog; dadrauf US, sogar aufgeschlagen, aber wenn ich’s versuchte, verschwammen die Zeilen. Man wird a) älter, b) sind längerdauernde Zahnbehandlungen, auch wenn man viel dabei lacht, offenbar kraftzehrend. Abends den Roman neben mich gelegt, aber über Magenattacke und Wallander eingeschlafen (den ich eigentlich nie mehr ansehen wollte, weil ich auf Mankell sauer bin und seine Urherberrechtlerei; er bleibt aber gut); egal. Doch die Rückfahrt… ich gehör zu den Leuten, die nix überspringen können, also auch keine Fußnoten, und vergnüglich, doch auch schluckend, ließ ich mich von der Note 45 zur Note 304 weiterleiten, die indirekt und (als Dissoziation gemeint:) ausschweifend Marathes Vorgeschichte erzählt. Sie ist von einer solch absurden, nein: bizarren – bizarr wie Reißnägel sind, wie die winzigen Tausende Widerhaken sind auf Haihaut – Wahrheit, daß das Buch hier, bislang aber wirklich n u r hier, pynchonsches Format erreicht – nämlich weil das Geschehen zugleich konkret und metaphorisch, gleichzeitig amoralisch, aber unbedingt ist, unbedingt wie die Wahrheit einer mathematischen Formel; ich will Lesern nichts verpetzen, lesen Sie das selbst, bitte; es hat den ( hier freilich nicht-sexuellen) Ästhetizismus der cronenbergschen Interpretation von Crash (Ballard)… Was dabei auffällig wird und viel, glaube ich, über die nicht Beweg-, sondern Bewegungsgründe des Romans aussagt, ist nicht etwa, wie haarsträubend das erzählte Spiel an sich ist (es bleibt dabei immer jugendrealistisch, auch das ist hier wichtig, dreht also nicht ab), sondern daß per Hals quasimoralischem Kopfschütteln erzählt wird, er wundere sich darüber, daß manche Leute mehr Energie auf ein Plagiat anwendeten, als es sie kosten würde, einfach selbst zu erzählen. Diese Art der vorgeführten Uneigentlichkeit gegenüber einem Skandalon, dieses Überhaupt nicht mehr an ein „Eigentliches“ rückgebundenzu sein, ja imgrunde weder Kenntnis noch auch Ahnung davon zu haben, was das denn sein könne… – das beschäftigt mich. Es geht, merke ich, um eine Entfremdung, von der nicht mehr gefühlt wird, w a s fremdgeworden ist.
Unterdessen stört mich auch gar nicht mehr die vorgebliche Disparatheit, auf diesem Blog von ein paar Mitschreibern „Geschwätzigkeit“ genannt; da ist nichts Geschwätziges, und zwar, je mehr Wallace „einfach“ durcherzählt. Dazu kommen Sinn-Verleser, zu denen W’s Stil verführt (etwa bei „aber vom Sonnenuntergang (war) nur noch ein Schnäuzchen über Newton übrig“; ich las nämlich erst nicht Newton-als-Stadt, sondern Newton-als-Figur-als Symbol; die Stadt folgt dann sofort, so daß ich auflachen mußte; dazu ist die doppelte Umlaut-Anlautung entzückend; das geht jetzt an Herrn Blumenbach.), und im Zusammenhang einer Semi-SF ziemlich geglü(!)ckte Verballhornungen: Imperiale Müll-Entsorgung; irgendwie paart das Spielbergs Star Wars mit Adams‘ Erdsprengung für eine interstellare Durchgangsstraße. Danach dann die ziemlich notwendigerweise scheiternde Verführungsszene im Wald. Ein bißchen schade nur, daß Wallace seinen Wayne des Chus „Plato“ in „Plateau“ korrigieren läßt; wir haben’s doch selbst gemerkt, sogar sofort; jetzt nimmt uns das den Doppelsinn. Aber das sind Kritikchen. Fein auch, davor, die Passionsbilder als Notdurft, 148 ff., vielleicht um die Leute im Fell um zwei Sätze überzogen. Weiters habe ich gar nichts dagegen, daß „Magenausheberung“ (101) ein Druckfehler sein könnte; er könnte es nämlich auch nicht sein, und ich möchte darüber bitte keine Aufklärung haben. Das Konzept des Romans, soweit ich es bisher beurteilen kann (ich will gar nicht beurteilen, so’n Quatsch… soweit mir mein Instinkt das sagt, das ist besser), w i l l solche Ungeklärtheiten erzeugen, vielleicht einfangen, sie jedenfalls n i c h t festschreiben.
Über etwas anderes dachte ich noch nach, nämlich über die von Bender >>>> dort fortgesetzte theoretische Interpretation. Viele Beiträge klingen oft so, als hätte Wallace all das tatsächlich gewollt. Ich bin mir da unsicher. Er mag einiges davon gewollt haben, aber vieles schreibt sich unter dem Willen des Autors hindurch, nicht selten sogar gegen seinen Willen. Jeder, der in künstlerischen Prozessen steckt, kann ein Lied davon singen, daß sich Figuren, Figurenkonstellationen, ja sogar die „Botschaften“ nicht selten verselbständigen, daß aus einem Buch etwas ganz anderes hervorgeht, als man hineingesteckt zu haben meinte usw., und das sogar in politischen Belangen. Man verfügt als Dichter auch über die eigene Dichtung nicht – das „Dritte“, von dem Adorno schrieb, steht auch außerhalb u n s e r e r Disposition -; wo dennoch verfügt, also funktional geschrieben wird, wird Dichtung pädagogisch und dient entweder der Selbstbestätigung für eine ohnedies dasselbe meinende Gruppe, oder aber, man spürt’s und will’s sofort wieder lossein. Es kann richtig sein, was gesagt wird über ein Buch, aber das muß nicht das sein, was der Autor wollte. Es kann sogar das Gegenteil dessen sein, was er beabsichtigt hat, ohne daß das die Qualität irgend beeinträchtigte.
Ich mag amerikanische Autoren, seitdem ich lesen kann, aber ich habe ihrer Vorliebe für Baseball nie irgendetwas abgewinnen können und mir auch nie die Mühe gemacht, die Regeln zu verstehen. Mit Football und Tennis geht es mir ähnlich. In der Hochzeit der deutschen Tennisleidenschaften der Achtziger mit ganzen Nächten voller Grand-Slam-Turniere und Wimbledon-Wettbewerbe im Fernsehen, bin ich lieber zum Fußball gegangen. Tennis ist immer irgendwie mit Boris Becker verbunden und das spricht nicht gerade für diesen Sport.
Ich schwächele etwas mit meinem Spaß, weil das Tennisturnier im Roman nicht aufhören will. Ich habe vor lauter Langeweile vorgeblättert, das geht noch 40 Seiten so weiter und dann kommt Orin mit Football. Auch nicht gerade meine Lieblingssportart. Ich sehne mich nach einem blutigen Boxkampf oder einer grundsoliden 100-m-Freistil-Staffel, aber leider wäre Hal sowohl als Boxer als auch als Schwimmer eher unglaubhaft. O.K., ich muss da jetzt durch.
Heute habe ich in M. auf dem Bahnhof jede Menge dieser Roy-Tony-Typen gesehen und einige Wardines (als ich Kind war in M., wurden die nicht mit dem Bügel, sondern mit dem Feuerhaken verprügelt, was meistens in der Umkleidekabine vor dem Sportunterricht herauskam). Wo sind die eigentlich im Roman geblieben?
Dunkelheit vor den Zugfenstern. Wo fahr ich eigentlich her, wo ich hin fahr, weiß ich wenigstens. Solangs nicht wieder eine Stunde länger dauert, als angegeben, können die auch sonstwoher fahren. 5.30 Uhr. Zwei Stunden geschlafen. Totalhundescheißendreckmüde. Grandelattebahnmuckefuck neben dem Computer.
Noch Tellkamp im Ohr. Der hatte, noch bevor der „Turm“ erschien, gesagt, er habe keine große Hoffnung für Bücher wie seines, weil die Leser, die was mit derlei Romanen anfangen könnten, allmählich ausstürben. Auf meine Frage, was denn da aber dann passiert sei (650 000 verkaufte Exemplare, Buchpreis, preisüberpreis), sagt er: Ein Wunder.
Das eigentliche Wunder ereignet sich jetzt. DFW ist bei deutlich über 20 000, Platz neun im Stern, Platz 8 im Spiegel. Eine glatte Sensation. Die dritte Auflage wird gerade gedruckt. Und das ohne DaDaEr-Bonus, ohne Bildungsbürgerbonus. Kaufen die Leute das, damit der Dreck von Jonathan Littell nicht umfällt im Regal oder bloß um bei der nächsten Sitzung des Lesezirkels mitreden zu können?
Vielleicht ist die Zeit der kleinmütigen Literatur nun aber tatsächlich doch vorbei. Vielleicht war es wirklich so, wies Tellkamp mal gesagt hat, dass man vergessen hat, was der Roman wirklich kann. Und jetzt stehen sie vorm Turm und vorm US und vor Bolanos „2666“, völlig verblüfft, fasziniert, begeistert, geradezu süchtig vor diesen großen Weltentwürfen der drei vollkommen unterschiedlichen Weltenentwerfer, muss sich ihnen aussetzen, kann nicht anders.
Wir sind wieder in der E. T. A. Und die E. T. A. ist eine Art Gegen-„Turm“, ein Turm im Turm im Turm. Ein gigantisches, schmutziges Erzählbabel. In der E.T.A. wird die Menschheit zugerichtet, abgerichtet. Durch Rituale, durch unendliche Wiederholung. Ach, da geht’s doch bloß um Tennis, hat in Mainz einer gesagt. Hab mir den Mund in Fusseln geredet, dass Tennis eben nicht bloß Tennis ist. Sondern ein Weltspiegel. Ein Weltspiel. Hat skeptisch geguckt, der Kollege. Manchem ist eben nicht zu helfen.
Um als etwas Zu-Spät-an-den-Start-Gekommener zum Hauptfeld aufzuschließen, habe ich die194 Seiten in einem Zug gelesen. Im Kopf schwirrt es von der Lektüre, ich bin am Ordnen, noch ist alles reichlich wirr, was auf der Strecke manchmal ermüdete (vielleicht ist es richtiger, das Buch in kleineren Portionen aufzunehmen statt in einem Durchzieher).
Soweit ich bisher sehe (sehen kann), handelt es sich bei „Infinite Jest“ für mich um folgendes:
Wir befinden uns in einer totalitären Unterhaltungsdiktatur. Der gegenwärtige Stand der Entwicklung ist um nur eine halbe Schraubendrehung weitergedreht. Die Ichs sind alle völlig autistisch, komplett kommunikationsunfähig. Lauter Monaden, in sich geschlossene Systeme, Torsi, Krüppel, Frankensteine, Körper, „hastig zusammengestoppelt“ (144) von den Institutionen im Entertainment-Staat. Die einen Platz im System haben, leben in geschlossenen Expertenuniversen (Sport (Tennis), Medizin, Unterhaltungspolitik etc.). Die anderen sind drogenabhängig und suizidal. Alle zusammen kommunizieren generell aneinander vorbei (oder ihre Kommunikation ist restlos instrumentalisiert – wie die „Großer-Kumpel-Systeme“, die Betreuung der jungen Tennisschüler durch ältere Tutoren). Und alle sind süchtig.
Wie ist das gebaut? Wie hängt das zusammen? Als Roman? Da ist dieses E.T.A.-Gebäude mit seinem unterirdischen Röhrensystem, in denen sich die Tennismonster bewegen, auf der einen Seite, auf der anderen Seite das Draußen der Sucht- und Selbstmordhölle. Alles zusammengenommen ist wieder eine einzige Systemhölle („Ich bin hier drin“ – denkt Hal Incandenza auf der ersten Seite und meint die University. „Ich bin da drin“, sagt Kate Gompert (113) und meint die Hölle ihres Depressionshorrors).
Für den Plot scheinen Hal und die Tennis-Academy einerseits, andererseits die Pynchon-mäßige Agentennummer um Marathe und Steeply, die „Attentäter auf Rollstühlen“, das Einschleusen von ‚Anti‘-Unterhaltungs-Samisdats „zur Bekämpfung der Tödlichkeit“ zentral zu sein. Dazwischen stehen zahllose Geschichten über Beschaffungskriminelle mit ihren Drogensuchtkarussellen in den Köpfen, über die Selbstmörderin Kate, über das mißbrauchte Mädchen Wardine und so weiter.
Das Ganze ist ein Comic-Albtraum, der nie aufhört, wahrscheinlich auch für den Autor nicht. Das hier ist kein Spaß, genauer gesagt, es ist Anti-Spaß. „Ich bin da drin“ gilt auch für die Erzählhaltung. Und ihre einzige Rettung besteht offenbar darin, selber Aktivist in der Anti-Unterhaltung-Terrorgruppe zu sein, die den arabischen Gesundheitsattaché mit einer subversiven Unterhaltungs-Patrone(sic!) zur Strecke bringt (oder vielleicht Mit-Aktivisten rekrutiert?).
Der Traum vom überkomplexen Tennis-Court auf Seite 98 könnte vielleicht für so etwas wie den Bauplan des Romans stehen: „Die Linien, die das Spielfeld begrenzen und definieren, sind so komplex und verschlungen wie eine Drahtskulptur (…) bilden Kästchen, Flüsse, Nebenflüsse sowie Systeme in Systemen (…) zu kompliziert, um sie auf einen Blick zu erfassen.“ Entsprechend wäre die Schreibhaltung der Versuch „herauszubekommen, wo in diesem Liniengewirr ich den Aufschlag bloß platzieren soll.“
„Wir beginnen ein Spiel. Aber irgendwie bleibt alles spekulativ. Selbst das ‚wir‘ bleibt Theorie.“ Demnach wäre auch der Roman in seiner Grundstruktur autistisch-monadisch-albtraumhaft. Vorübergehende Ausbrüche sin nur durch Grenzüberschreitungen möglich (als Ersatz für Kommunikation). Großartig verdichtet in der Szene mit dem Schimmelklumpen gleich am Anfang: Das Kind Hal, das davon gegessen hat, streckt es seiner Mutter („die Moms“!) hin, worauf diese hysterisch im Kreis herumläuft, draußen im Garten, Hilfe! Hilfe! schreiend. Für mich das absolute Glanzstück bisher. Das ist die Geste, um die es mir bisher zu gehen scheint in „Infinite Jest“.
P.S.: Ich hatte noch keine Zeit, die Beiträge hier auf der Seite genauer zu lesen, ich hab sie nur überflogen. Doch hat mich die Frage von Georg M. Oswald nach dem ästhetischen Veraltetsein beschäftigt. Es gibt Sachen, die mich nerven in diesem Roman, wie die Stelle mit dem Herzen, das „wie ein Wäschetrockner mit Schuhen drin“ schlägt. Klischees aus dem Creative-Writing-Mainstream. Oder die Herrentoiletten-Szene relativ zu Beginn, die ich beim Lesen als „South Park“ – Szene vor mir sah (ich mag „South Park“! Aber al „South Park“). Es stimmt schon, es gibt etwas, das schwer an die Atmosphäre in den Neunzigern erinnert, an die halbherzige Revolte damals gegen die feindliche Übernahme der Kultur durch den „heroischen Stillstand der Rundfunk- und Fernsehunterhaltung“. Die Revolte ist niedergeschlagen, der Kampf verloren. Heute also die Bedingungen der Nuller Jahre. Aber große Bücher stehen immer mit einem Pfeiler in ihrer Entstehungszeit …
P.P.S.: Das „Deutsche“ scheint ja ein Steckenpferd von DFW in „Infinite Jest“ zu sein. Kleine Hinweise: die dealende Bühnenbildnerin, die nur für deutsche Stücke „dunkle und verschmierte“ Bühnenbilder produziert (S.30); die Tätigkeit beim „Wedekind-Festival“ (31), der deutsche Cheftrainer Schtitt und seine Philosophie des Tennis (115ff). Die Abkürzung E.T.A. für Hoffmann? Deutscher, romantischer Idealismus? Erweitert um Niklas Luhmanss Systemtheorie? Friedrich Schlegels Identitäten, die „von der Welt ganz abgesondert und in sich selbst vollendet wie ein Igel“ sind? Der Roman als Spiegel einer nur in Fragmenten von fragmentierten Subjekten wahrgenommenen Wirklichkeit? Ironisch-chaotisch? Antiepisch? Die Traditionslinie „Tristram Shandy“?
Norbert Niemann, 1961 in Niederbayern geboren, studierte Literatur, Musikwissenschaft und Geschichte. Seit 1997 lebt er als freier Schriftsteller in Chieming am Chiemsee. Für seinen ersten Roman Wie man’s nimmt (Hanser, 1998) erhielt er den Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Preis. 2001 erschien sein zweiter Roman Schule der Gewalt, 2003 Inventur (Deutsches Lesebuch 1945–2003, mit Eberhard Rathgeb) und zuletzt Willkommen neue Träume (2008).
Es wird aber zwangsläufig eine unqualifizierte Bedienstete sein – eine Hilfsschwester mit abgekauten Nägeln, ein Krankenhauswachmann, ein müder kubanischer Pfleger, der mich mit jou anspricht – bei irgendeiner hektischen Tätigkeit wird er mich plötzlich anschauen, ins Auge fassen, was er für mein Auge hält, und fragen, lass hören, Kumpel, was hast du denn zu erzählen?
Hal stellt sich vor, der kubanische Pfleger wird ihn fragen. Und wenn er dann gefragt wird, kann er erzählen. Etwa das Folgende. Das Zitat stammt schliesslich von Seite 28. Der Kubaner wird ihn ins Auge fassen. In den Blick nehmen? Eine Frage der Perspektive? Wird er ihn fixieren?, genau anschauen und dann fragen? Was aber hat diese Redewendung mit dem folgenden Relativsatz zu tun: „was er für mein Auge hält“? Vielleicht gibt das Original Aufschluss?
a tired Cuban orderly who addresses me as jou — who will, looking down in the middle of some kind of bustled task, catch what he sees as my eye and ask So yo then man what’s your story?
Offenbar richtet sich Hals Phantasie auf einen müden Pfleger, der ihn ansieht und dann versuchen wird, mit ihm Blickkontakt aufzunehmen, das aber vergeblich tun wird, da dieser Versuch ins buchstäblich Leere zielen muss: die Leere, die Hal, wie er glaubt, aber nicht sagt, in sich spürt – oder nein, er spürt ja nichts – er weiss, dass es so ist. Insofern ist es keine Phantasie, sondern Gewissheit. Diese Leere gilt es nun zu füllen, auszustopfen. Nicht die Ursachen der Leere zu bearbeiten, nicht, etwas zu reparieren, sondern das Ausmaß der Leere mit Wörtern zu demonstrieren. „Ich bin hier drin“: hinter dem, was der müde Kubaner für Augen hält. Und nur er, der nicht so tun muss und kann, als hätte er ein Interesse an Hal, kann ihn nach seiner Geschichte fragen. Nach seinem Zusammenbruch. Denn damit beginnt der Unendliche Spaß.
Während ich gestern im Zug von Emmerich via Duisburg nach Berlin saß und mir das Abteil mit zwei anderen Lesern teilen musste – einem jungen Mann mit Brille und Koteletten, der einen Trashroman las, erschienen bei Bastei Lübbe, der interessanterweise ein Frank-Schirrmacher-F.A.Z.-Zitat auf dem Rücken stehen hatte, und einer circa 45 Jahre alten Frau, die irgendetwas bei dtv Erschienenes in den Händen hielt – überlegte ich, ob ich überhaupt der richtige Leser für U.S. bin.
Während ich mich heute durch eine Passage quälte, die ein einziges Auf und Ab war, nämlich die Passage über Madame Psychosis und ihre Radiosendung, in der sich sehr gute mit absolut lähmenden Beschreibungen abwechselten, fragte ich mich, wie oft DFW eigentlich selbst sein Buch gelesen hat. Und wie oft in einem durch.
Ich stelle mir einen amerikanischen Leser vor, männlich, Anfang 20, der na klar schon mit 14 “Herr der Ringe” gelesen hat, dann irgendwann vielleicht auf Philip K. Dick kam, den aber irgendwann mit 18 das ganze SF-und Fantasyzeug zu langweilen begann und daraufhin auf Empfehlung eines älteren Studienkameraden was von Thomas Pynchon in die Finger bekam und jetzt eben DFW liest.
Ich erinnere mich an mich selbst, wie ich zum ersten Mal ein amerikanisches Modebuch gekauft hatte, in der Bahnhofsbuchhandlung Ludwig, und mit dem Buch unterm Arm auf meine Freundin wartete, die ich ausrufen ließ, weil ich auf dem falschen Gleis gewartet hatte. Das Buch war ein Weihnachtsgeschenk an mich selbst, es kostete 40 DM, so viel hatte ich noch nie für ein Buch ausgegeben und sollte es bis zur Währungsreform auch nicht mehr tun, noch heute gebe ich ungern mehr als 25 Euro für ein Buch aus, und es war das erste amerikanische Modebuch, das ich lesen sollte, nachdem ich bereits einige kolumbianische, deutsche, tschechische und italienische Modebücher gelesen hatte, weil meine Mutter Mitglied in einem Buchclub war und einiges aus der Modebücherrangliste für mich bestellt hatte. Das amerikanische Modebuch gefiel mir, weil es so kalt und durchkonstruiert war, weil es was von Musik verstand und einen Psychopathen zur Hauptfigur hatte, und weil der amerikanische Modeschriftsteller mir auf den Fotos gefallen hatte und in dem Interview, das glaube ich damals in der Modezeitung Tempo gestanden hatte.
Es ist selten, dass man jemanden mit einem guten Buch in der Bahn sieht, alle lesen diese Bastei-Lübbe-Heyne-Schmöker, Biss zu Mittag, Der Abzug, sind ja immer erstaunlich dick, diese Parallelweltbücher, die Trashbestseller. Kann man so weglesen, wird dann auch oft gesagt, das gilt dann als Qualitätsmerkmal.
Zuhause lief während der Lektüre tatsächlich der Fernseher. Tennis auf Eurosport, Federer ließ Hewitt ziemlich alt aussehen. Ich habe noch nie selbst Tennis gespielt. Im Hintergrund lief eine CD mit MP3s, eine Art Mix-CD in Überlänge, was im Vergleich zu einer normalen CD dem quantitativen Verhältnis von U.S. zu sagen wir “Jedermann” entspricht. Das Niveau des heutigen Pensums kommt dem Federers ziemlich nahe, dachte ich zwischen Buch und Bildschirm den Blick changierend, allein die Abhandlung zum Thema Tätowierungen ist ziemlich gut. Dass “Tät” als Kurzform von Tätowierung (statt Tattoo) verwendet wird, hat mich irritiert; denn das habe ich so noch nie gehört und auch noch nie gelesen. Die folgende sich anbahnende Einnahme des Monsterzeugs DMZ ist auch recht großartig; ich kann es kaum erwarten, hier endlich eine Drogengeschichte von innen zu lesen; darauf warte ich wie auf die Beschreibung eines Tennismatchs. Ansonsten bin ich, es ist inzwischen Sonntag, jetzt ziemlich müde gelesen. (Stand: S. 315)
Ein Abend unter Hirschen. Mainz. Hauptquartier des Wehrbereichs II. Hirschgeweihe. Geradeaus hängt eine Gemse (heißt die jetzt schon Gämse oder hieß sie immer schon so). Selten so bewacht gefühlt. Männer in Uniformen umstellen lauter Literaten. der SWR stellt vor, wer den Preis der Bestenliste nächste Woche kriegen könnte. 21.36 Uhr. Stilles Wasser, muss gleich noch arbeiten.
Zurück aus den Fußnoten im Sanitärbereich der E. T. A. Jungs. Kein Wunder, dass mich – aber das muss ich hier ein bisschen leiser schreiben – die paar kasernierten Monate unter Männern so pustelig gemacht haben. Hormonüberschuss. Tennisballknetende Spätpubertierende. Alle lädiert. Tennis kann nicht gesund sein, heile kommt da keiner raus. Inmitten des Überschaubaren ein Miniessay über die Defäkationshaltung (hatten wir schon gleich am Anfang), also jener Haltung, die man einnimmt, wenn man was durchmacht. Hinreißend. Kacken ohne daran zu denken wird lange nicht mehr gehen.
Und dann sind wir wieder in der Wüste. Und der Sog ist wieder da. Ein Absatz über den Dämmerschatten der Wüste. So dunkel, einfach, klar und so leer. Marathe und Steeply, dessen Brustprotesen unentschieden in die Gegend schielen. Es geht um Wirklichkeit und Literatur, die wahren Gründe für den Untergang von Troja, um Liebe und um Politik. Und wofür von beiden man sterben. Marathe hält eine Rede an die Nation. Ich bekenne mich hiermit zur Gefühlsduselei, die Marathe in seinem Rollstuhl nicht müde wird in den Boden der Wüste zu reden. Für meine Liebe würde ich sterben. Der Staat ist mir schnurz. Jedenfalls was das Sterben angeht. Eine Abhandlung über das Wort Fanatiker, das, sagt Marathe, nichts bedeutet als Gläubiger im Tempel. Was glaubt denn nun der Gläubige, vor welchem Tempel. „Was ist, wenn es einmal keine Wahl gäbe, was zu lieben wäre“, fragt Marathe. Ist keine Frage. „Dann, in solchen Fällen, bist du ein Fanatiker des Begehrens, ein Sklave der Gefühlsduselei deines individuellen, subjektiven und beschränkten Selbsts; ein Bürger des Nichts. Du wirst zum Bürger des Nichts. Du bist auf dich gestellt, allein und kniest vor dir selbst.“ Der Bürger des Nichts fällt, wird hin und her geweht. Tragisch, unfrei, verloren. Keine Ahnung von der Liebe, der Mann. Oder vielleicht doch. Bin jetzt schon mal gespannt, wohin diese Fanatikerdiskussion DFW noch strudeln wird. Und grüße – euer Bürger des Nichts.
1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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