Hal Incandenza driftet und kommt zu merkwürdigen Erinnerungen:

Unendlicher Spaß, Seite 27:

Man wird mich in eine Notaufnahme bringen und festhalten, bis ich Fragen beantworte, und wenn ich dann Fragen beantworte, wird man mich sedieren; Krankenwagen und Notaufnahme werden also auf eine Umkehrung der Standardreise hinauslaufen: Erst die Reise, dann das Lebewohl. Sehr kurz denke ich an den verstorbenen Cosgrove Watt. Ich denke an den Trauertherapeuten mit Hypophalangie. Ich denke an die Moms, die im Schrank über der Mikrowelle Suppendosen alphabetisch ordnet. An Seiner Selbst Regenschirm, der am Rand des Posttischchens gleich vorn im Foyer des Rektorenhauses an seinem Griff hängt. Der schlimme Knöchel hat das ganze Jahr noch nicht geschmerzt. Ich denke an John N. V. Wayne, der dieses Jahr das WhataBurger’s gewonnen hätte und der maskiert Schmiere stand, als Donald Gately und ich den Schädel meines Vaters exhumierten.

Hal kann nicht sprechen. Später, in einer anderen Szene, die Erinnerung an ein als Therapeutensitzung getarntes Gespräch mit seinem Vater James Incandenza, das kein Gespräch ist, sondern wiederum nur demonstriert, dass sie nicht miteinander kommunizieren können. Hals Vater ist längst ein Geist. Gately bekommt später von diesem Geist Besuch, als er fiebernd im Krankenhaus liegt. Er fragt sich schließlich auch, warum der Geist nicht mit seinem bescheuerten Sohn in Verbindung treten kann. Spätestens dann lernen wir natürlich, was es mit den Erzählungen auf sich hat, in denen James Incandenza von seinem Vater, Hals Großvater, berichtet.

Er sagt, Stell dir bloß das Grauen vor, während deiner ganzen unsteten einsamen Kindheit im Südwesten und an der Westküste deinen Vater vergebens davon überzeugen zu wollen, dass du auch nur existierst, etwas so gut zu machen, dass du gehört und gesehen wirst, aber auch nicht so gut, dass du nur zur Projektionsfläche seiner (des Dads) Misserfolge und seines Selbsthasses wirst und nie richtig wahrgenommen wirst, wild durch den destillierten Nebel gestikulierend, sodass du noch als Erwachsener das ganze feuchte, wabbelige Gewicht des Scheiterns, je wirklich von ihm gehört zu werden, mit dir herumschleppst, es in deinen belebten Jahren auf den zunehmend zusammengesackten Schultern mit dir herumschleppst – nur um gegen Ende festzustellen, dass dein eigenes Kind selbst ausdruckslos, involuiert, schweigsam, beängstigend, stumm geworden ist. Das heiße, sein Sohn sei zu dem geworden, was zu werden er (der Geist) als Kind zu sein befürchtet habe. Gately verdreht die Augen. Der Junge, dem alles mit der natürlichen und unzusammengesackten Anmut gelungen sei, die ihm (dem Geist) immer gefehlt habe, den der Geist so furchtbar gern gesehen und gehört habe und den er so gern habe wissen lassen, er (der Sohn) werde gesehen und gehört, dieser Sohn habe sich gegen Ende seines (des Geists) Leben schrittweise immer weiter zurückgezogen; und niemand in der Kernfamilie des Geists und des Jungen habe das sehen und wahrhaben wollen, die Tatsache, dass dieser anmutige und wunderbare Junge direkt vor ihren Augen verschwunden sei. Sie hätten hingesehen, ohne seine Unsichtbarkeit wahrzunehmen. Und sie hätten die Warnung des Geists gehört, aber nicht beherzigt. Gately stellt wieder das dünne, verkniffene Lächeln der Abwesenheit zur Schau. Der Geist sagt, die Kernfamilie habe ihn (den Geist) für labil gehalten und vermutet, er verwechsle den Jungen mit seinem (des Geists) eigenen Kindheits-Ich oder aber mit dem Großvater des Geists, einem ausdruckslosen, hölzernen Mann, der den Vater des Geists der Familienmythologie zufolge »zur Flasche getrieben« habe sowie zur Nichtrealisierung seines Potenzials und zum frühen hämorrhagischen Hirninfarkt. Gegen Ende habe er insgeheim zunehmend befürchtet, sein Sohn experimentiere mit Drogen. Der Geist muss weiterhin immerzu die Brille hochschieben. Fast verbittert sagt er, wenn er aufgestanden sei und die anderen mit Armgefuchtel darauf hinzuweisen versucht habe, dass sein jüngster und meistversprechender Sohn verschwinde, hätten alle bloß gedacht, seine ganze Erregung gehe darauf zurück, dass der Wild-Turkey-Konsum ihn plemplem gemacht habe und er wieder einmal versuchen müsse, trocken zu werden. Damit hat er Gatelys Aufmerksamkeit.

Und auch vermutlich auch die des Lesers. „Ich bin hier drin“, sagt Hal zu Beginn, und des Vaters Geist erzählt Gately, wie er versucht habe, ihn da wieder herauszuholen.

Der Geist fährt sich über den langen Kiefer und sagt, die gesamten trockenen letzten neunzig Tage seines belebten Lebens habe er unermüdlich daran gearbeitet, ein Medium zu finden, mit dessen Hilfe sein stummer Sohn und er sich einfach bloß hätten unterhalten können. Etwas auszuhecken, das der begabte Junge nicht in null Komma nichts bewältigt hätte, bloß um sofort zum nächsten Plateau weiterzustürmen. Irgendetwas, das der Junge so sehr gemocht hätte, dass er aus sich herausgekommen wäre und den Mund aufgemacht hätte – und sei es nur, um Nachschlag zu fordern. Spiele hätten das nicht geschafft, Profis hätten das nicht geschafft, und die Nachahmung von Profis hätte das nicht geschafft. Seine Ultima Ratio: Unterhaltung. Etwas so verdammt Unwiderstehliches zu machen, dass es beim Sturz des Jungen in den Schoß von Solipsismus, Anhedonie und Tod im Leben eine Schubumkehr ausgelöst hätte. Ein magisch unterhaltsames Spielzeug, das man dem Kleinkind, das irgendwo in dem Jungen doch noch am Leben gewesen sein müsse, vor die Nase hätte hängen können, um seine Augen aufleuchten und seinen zahnlosen Mund im unbewussten Lachen aufgehen zu lassen.

Wäre Hal also der Einzige, der imstande ist, den Unendlichen Spaß zu überleben? Weil er schon hohl ist? Und warum erzählt der Geist das gerade Gately? Oder hat Hal, umgeben von Körpern und Köpfen, wie es im ersten Satz des Romans heißt, den Film gesehen und wir erleben nun, was er bei ihm ausgelöst hat? Ergeben in eine Flut aus Einsamkeit.

Gately wird Hal im Roman nie begegnen. Er träumt nur einmal davon, „er ist mit einem sehr traurigen Jungen zusammen, sie sind auf einem Friedhof, graben den Schädel eines Toten aus, und das ist sehr wichtig, quasi kontinentalkrisenwichtig“ (ob sie wirklich graben, je gegraben haben, ist sicher noch eine andere Frage; ebenso, ob und was da zu finden sein kann – dazu später mehr).

Hal erinnert sich, Gately träumt. Macht es einen Unterschied? Hamlets Gespräch mit dem Totengräber kann vielleicht Aufschluss geben. Der erkennt in der ersten Szene des fünften Akts Hamlet nicht und spricht von Hamlet, der den Verstand verloren hat („losing his wits“). Der Totengräber, noch im Grab stehend, hält dann auch Yoricks Schädel hoch und Hamlet erinnert sich (wir hatten das ja schon mit dem üblichen und üblicherweise verkürzten Hinweis, woher der Titel von Wallaces Roman rührt):
„Alas, poor Yorick! I knew him, Horatio – a fellow of infinite jest, of most excellent fancy.“ Mehr wird meist nicht zitiert, aber es lohnt durchaus, hier weiterzulesen: „He hath borne me on his back a thousand times, and now how abhorred in my imagination it is! My gorge rises at it … Here hung those lips that I have kissed I know not how oft.“ Hal und Gately hätten etwas finden wollen in dem Schädel, was nicht da sein kann.
Gately ist wieder in einen Fiebertraum gefallen, Der Geist erscheint ihm erneut und er hat noch einen zweiten Geist bei sich, deutlich jünger und der beugt sich zu Gately, um ihm mit spitzer rauher Zunge die Stirn zu lecken, während Gately auch noch davon träumt, wie einst der prügelnde Lebensgefährte seiner versoffenen Mutter die Katze Niemitz in den Müllschlucker gesteckt hat und der Müllschlucker daraufhin tagelang nicht funktionierte. Und nun diese Zunge, der Atem des Geists ist ungewöhnlich kühl und riecht nach nichts. Im Traum blickt er in den Spiegel und sieht nichts. Er putzt den Spiegel, doch es hilft nichts. Also träumt er von dem „sehr traurigen Jungen“:

Gately ist der beste Gräber, aber er ist übel hungrig, also unbezähmbar hungrig, und isst mit beiden Händen aus Familienpackungen Konzern-Snacks, sodass er nicht richtig graben kann, und es wird immer später, und der traurige Junge will Gately anschreien, dass das wichtige Ding im Schädel des Toten begraben worden sei, und sie müssten die Kontinentalkrise abwenden, indem sie den Totenschädel ausgrüben, bevor es zu spät sei, aber der Junge bewegt die Lippen, ohne dass ein Ton herauskommt, und Joelle van D. erscheint mit Flügeln und ohne Höschen und fragt, ob sie ihn kannten, den Toten mit dem Schädel, und Gately erzählt von seiner Bekanntschaft mit ihm, obwohl er tief drinnen in Panik gerät, weil er keine Ahnung hat, wen die eigentlich meinen, und der traurige Junge hält irgendwas Grausiges an den Haaren hoch und verzieht das Gesicht wie jemand, der voller Panik Zu Spät schreit.

Träume von Toten (und ihrem erneuten Erscheinen als Geist, nicht nur bei Ihm Selbst) bevölkern den Roman. Hal wünscht sich, könnte man annehmen, einen tröstlichen Tod für seinen Vater. Über der Mikrowelle, die James Incandenza präpariert, hat Avril Incandenza Suppendosen alphabetisch geordnet (wie kann man sich das vorstellen? Wie viele Sorten Suppendosen müssen das sein, dass es sich lohnt sie alphabetisch zu ordnen?). Hal und Orin am Telefon. Sie reden unter anderem über die Mikrowelle. Orin will wissen, wie genau ihr Vater gestorben ist – während Hal sich die Fußnägel schneidet. „Ich rühre mich nicht von der Stelle“, sagt Hal. Davon lebt der Unendliche Spaß.

Heute, 12. September 2009, ist der erste Todestag von David Foster Wallace.

Erste Eindrücke

11. September 2009 |

Komme mitten aus Bolaños 2666 in den Wallace rein, anders gesagt: aus so psychedelischen Nachtbildern und Dunkelpanoramen, die ein mythisches Scheinflimmern auf der Netzhaut hinterlassen (eine absolute Götterdämmerung eigentlich) in eine Art, wie soll ich sagen: technizistisch instrumentiertes Hyperrealismus-Patchwork von Morgen. (Keine Ahnung, ob die Begriffe stimmen). Jetzt, so auf den ersten 70 Seiten, geht’s mir jedenfalls ein bisschen wie Alban Nikolai Herbst: Da ist eine grenzenlose Bewunderung für den Sprachfuror des Autors einerseits, und andererseits eine gewisse Restdistanz zum Text selbst. Minimal – vermutlich aufgrund der Bolaño-Lektüre – vermisse ich Erhabenheit in US. Also das Aufglimmen einer elementaren Wahrheit zwischen den Zeilen, einer allenfalls erahnbaren, niemals ganz explizierbaren aber völlig substanziellen Wahrheit über die Verfasstheit des Menschen an sich. Die einen emotional mit Wucht ergreift und das Unfassbare spüren lässt. Was für ein vermessener und irgendwie auch anachronistischer Anspruch freilich! Umso vermessener, da ich selbst ja im allereinfältigsten Abbildrealismus Geschichten erzähle. Andererseits: Da US in der Underworld-, Gravity’s Rainbow- und so weiter Liga spielt, kommen die Vergleiche eben daher.
Überdies überwiegt ohnehin Bewunderung. Zum Niederknien beispielsweise: Wallaces Ideen. Der Typ, der im Sinne eines System-Shutdowns 200 Gramm Gras in 4 Tagen wegrauchen will und auf die Frau wartet, die ihm den Stoff vorbeibringen soll. Das ist absolute Spitze. Extrem komisch, eindringlich, am Rande tragisch auch. Überhaupt der Humor: So einen anarchischen, wild wuchernden Humor habe ich in der Breite lange nicht mehr gelesen. Manchmal – mit Blick auf Wallace oder auch Pynchon – scheint mir, die deutschsprachige Gegenwartsliteratur bringe einen solchen Humor grundsätzlich nicht hervor. Als würde uns hier die erzählerische Freiheit fehlen (die einem solchen Humor vorausgeht), als wären die Synapsen der anglo-amerikanischen Großmeister irgendwie anders geschaltet. Assoziativer oder rock’n’rolliger vielleicht. Freue mich jedenfalls sehr auf die weitere Lektüre dieser zwar sperrigen, aber extrem grandiosen Unterhaltungspatrone.

Thomas Klupp, geboren 1977 in Erlangen, arbeitete nach seinem Zivildienst als Kameraassistent beim Regionalsender Oberpfalz TV in Amberg. Von 1999 bis 2001 war er an der Freien Universität Berlin in Theaterwissenschaft und Publizistik eingeschrieben. Im Anschluss daran hat er Kreatives Schreiben und Kulturwissenschaften an der Universität Hildesheim studiert und war Mitherausgeber der Literaturzeitschrift BELLA triste. Thomas Klupp lebt in Berlin und Hildesheim und ist am Hildesheimer Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig. 2009 erschien sein Debut-Roman Paradiso im Berlin Verlag.

Hass

11. September 2009 |

8 Jahre später wieder gelesen:
David Foster Wallace „Das große Weinen im Wohnzimmer von Mrs. Thompson“ (The View from Mrs. Thompson’s, Rolling Stone Magazine, 25.10.2001, übersetzt von Ulrich Blumenbach)

Diese Frauen von Bloomington sind unschuldig oder kommen mir jedenfalls zunehmend so vor. Vielen Amerikanern würde auffallen, daß in diesem Wohnzimmer ein geradezu erschreckender Mangel an Zynismus herrscht. Zum Beispiel fällt niemandem auf, daß es doch ein bißchen seltsam ist, daß alle drei Moderatoren der Networks hemdsärmelig sind, daß Dan Rathers Haare nicht unbedingt zufällig so zerzaust sind oder daß die ständige Wiederholung der entsetzlichsten Szenen wohl nicht nur der Zuschauer wegen erfolgt, die womöglich erst später eingeschaltet haben. Nicht einer Frau fallen die seltsam lichtlosen Äuglein des Präsidenten auf, die während seiner aufgezeichneten Ansprache immer näher zusammenrücken, oder seine Sprüche, die geradezu wie Plagiate von Bruce Willis anmuten, dem, wie Sie sich erinnern werden, durchgeknallten Rechten in „The Siege“ vor ein paar Jahren. Oder daß ein Gutteil der Merkwürdigkeit des sich entfaltenden Grauens darauf beruht, daß diverse Einstellungen und Szenen die Plots von so ziemlich allem von „Die Hard I-III“ bis „Air Force One“ spiegeln. Und kein Anwesender ist auch nur annähernd trendy genug, um die pervers naheliegende postmoderne Beschwerde einzulegen: Das haben wir doch alles schon mal gesehen. Statt dessen sitzen sie zusammen, fühlen sich scheußlich und beten. Niemand aus Mrs. Thompsons Bekanntenkreis besäße jemals die Geschmacklosigkeit, andere zu lautem Beten oder zu einem Gebetskreis aufzufordern, trotzdem merkt man nur zu gut, was in ihnen vorgeht.
Nur fürs Protokoll: Das ist insgesamt auch gut so. Es zwingt einen zum Nachdenken. Man tut Dinge, die man allein wahrscheinlich lassen würde, und betet beispielsweise beim Verfolgen der Ansprache und der Augen stumm und inbrünstig, daß man sich im Präsidenten geirrt haben möge, daß man eine verzerrte Sicht auf ihn haben möge, daß er in Wirklichkeit klüger sein und mehr Substanz haben möge, als man ihm zutraut, daß er nicht nur ein seelenloser Golem oder Sammelpunkt von Konzerninteressen im Maßanzug sein möge, sondern ein echter Staatsmann mit Courage und Integrität und … und das ist gut, es ist gut, wenn man so betet. Nur ein bißchen einsam, wenn man muß. Rechtschaffene Leute, unbescholtene Bürger können auf Dauer anstrengend sein. Ich möchte in keiner Weise unterstellen, alle Menschen, die ich in Bloomington kenne, seien wie Mrs. Thompson (ihr Sohn F— ist beispielsweise anders, aber der ist sowieso aus ganz anderem Holz geschnitzt). Mir geht es eher um den Hinweis darauf, daß das Grauen teilweise so grauenhaft war, weil ich im tiefsten Herzen wußte, daß das Amerika, das die Männer in den Flugzeugen so gehaßt hatten, weit mehr mein Amerika war, das Amerika von F— und dem ätzenden Duane, als das dieser Damen.

und dann, ganz andere Baustelle, wie es scheint, Unendlicher Spass, Seite 162: Hal sitzt als großer Kumpel zusammen mit den Jüngeren und wir wissen inzwischen u.a. von Schtitts Prinzipien:

Entscheidend ist, dass es gar nicht mehr um Leistung geht, Leute«, sagt Hal leise. »Die körperliche Leistung ist reine Formsache. In Wahrheit bearbeiten sie hier die Köpfe, Jungs. Tag für Tag und Jahr für Jahr. Ein komplettes Programm. Es kann nur zu eurer Motivation beitragen, wenn ihr nach Beweisen sucht, dass ein Plan dahintersteckt. Sie werfen uns immer ein Hassobjekt vor, das wir gemeinsam so richtig hassen können, wenn eine große Sache ins Haus steht.

‚wen‘ und aber

10. September 2009 |

„Ich stehe da und zögere“ (S. 98) beschreibt sehr gut die unmögliche Aufgabe, den richtigen Moment für den ersten ‚echten‘ Beitrag hier zu wählen. Zwar kenne ich das amerikanische Original gut, doch in US bin ich erst auf S. 127 – und ich habe bereits so viele Anmerkungen an den Rand gekritzelt, über Inhalt, Sprache, und ja: über die Übersetzung, dass ich mich einerseits noch nicht traue, etwas einzustellen, weil noch so viel vor mir liegt, und ich andererseits fast zu viel Material, zu viele Fragen habe. Jedoch: „Der Schiedsrichter flüstert Aufschlag Bitte“ (S. 99). Und also soll es losgehen.

Seit mehr als einer Woche habe ich vor, etwas über die Wortwahl der ersten Seiten zu schreiben. Nicht über die Übersetzung als solche, oder über die eventuelle Gespreiztheit oder Spröde des ersten Abschnitts (die in jenem Moment glänzend zu Hal passt, übrigens), sondern über die Tatsache, dass man als Nicht-Muttersprachler gar nicht so richtig einschätzen kann, wo die lexikalischen Hindernisse beim Lesen für einen Muttersprachler liegen – was für mich, als zweifach nicht-muttersprachlichen Leser dieses Romans (ich bin flämischsprachiger Belgier), schon von Bedeutung ist.

Ausgelöst wurde diese Frage von einer Bemerkung auf der Wallace-Mailingliste (wallace-l). Dort berichtete am 19. August ein ehemaliger Student über Wallace’ Literaturseminar an der Universität von Illinois, Wallace habe „suggested that while reading the novels we write words in the back of a book the definition of which we weren’t completely sure so we could look them up later.“ Hört sich ein bisschen schulmäßig an, aber interessant ist die Antwort eines anderen Beiträgers am 20. August: „I can’t tell you how many copies of IJ I’ve seen where the blank pages in the back start with the word ‘wen’ and go on from there, much like so many copies of ‘War and Peace’ end with handwritten haphazard family trees.“

Wie: „wen“? Was ist denn das? Und wo taucht das Wort genau auf?

Und ja, da steht es im Original, auf der 2. Seite: „I am debating whether to risk scratching the right side of my jaw, where there is a wen“ (S. 4 / Bild).

Das Wort kenne ich tatsächlich nicht, obwohl das niederländische Äquivalent, wie sich herausstellt, ebenfalls „wen“ ist – nur die wenigsten niederländischen Muttersprachler dürften allerdings wissen, was es bedeutet.

Und trotzdem: mich hat es während der Lektüre überhaupt nicht gestört. Da habe ich mir einfach gedacht: na gut, ist schon irgendein Pickel – jedenfalls konnte es mir recht sein. Wichtig ist das Wort an sich nicht, und schließlich liest man Texte (sicherlich dieses Umfangs) immer so: man entscheidet sich eben, bestimmte Sachen nicht nachzuschlagen.

Die Bemerkung auf wallace-l deutet jedoch darauf hin, dass alles, was davor kommt, für einen Muttersprachler mehr oder weniger ‚flott‘ gelesen werden kann, dass man eigentlich über gar nichts stolpert, oder aber bestimmte Stolpersteine bewusst außen vor lässt, wie z.B. „Remington-hung“ (S.3 – „remingtonbehängt“ (S. 7) / wobei die Klein- und Zusammenschreibung die Zuordnung zusätzlich erschwert), das für ein Amerikaner wahrscheinlich einfacher deutbar ist.

Für mich liest sich die deutsche Fassung irgendwie leichter, trotz gelegentlicher härter Nüsse, wohl der relativen Ähnlichkeit mit meiner Muttersprache wegen, vor allem im System von Komposita als Wortbildungsprinzip, statt der wild wuchernden etymologischen Stammvarianz des Englischen. Das von Herrn Oswald angesprochene ‚gewählte‘ kongruieren-ohne-mit ist mir zwar aufgefallen, aber ich habe es als bewusste Wahl des Übersetzers wahrgenommen (auch wohl, um eine Alternative zur gewählten Alliteration „consciously congruent to“ zu verwenden), nicht als Schwierigkeit, geschweige denn als Hürde.

Allerdings frage ich mich, warum Herr Blumenbach das offenkundig sehr markierte „wen“ folgendermaßen übersetzt hat: „Ich frage mich, ob ich es wagen soll, mir den Grützbeutel rechts am Kiefer zu kratzen“ (S. 8). Beim Lesen ist mir das Wort überhaupt nicht aufgefallen – eben des Wortbildungsprinzips wegen, das außerdem zu einem sehr bildhaften Resultat geführt hat, und ich glaube (bitte korrigieren Sie mich), den meisten deutschsprachigen Lesern geht es genauso. Warum nicht Atherom oder das anscheinend viel seltenere, doch sehr schöne umgangssprachliche Wort „Grießknoten“, über die bestimmt viel mehr Leser gestolpert wären?

Dies sollte man bitte nicht als Kritik an der Übersetzung verstehen. Bei solchen Stellen frage ich mich bloß, ob und wie man bei der Übersetzung Kategorien „Schwierigkeit“ oder „Originalleseerfahrung“ berücksichtigen kann.

Vorläufig hat mich der Abschnitt, in dem James Incandenzas Vater seinem Sohn (im Winter 1960) schildert, wie, aufgrund eines (offenbar nur zufällig) gewitzt platzierten Balls seines Gegners auf dem Tennisplatz, für ihn weder etwas aus einer viel versprechenden Karriere als Profispieler noch aus einem intakten Verhältnis zu seinem eigenen Vater, James’ Großvater, wurde, besonders beeindruckt. Vielleicht weil ich ihn zuletzt gelesen habe. Ebenso beeindruckt wie verwirrt, weswegen ich lange darüber nachgedacht habe, ob der Stopball auf Seite 238 wohl etwas anderes ist als der Stoppball auf Seite 239. Grundsätzlich wäre das ja vorstellbar. Dieser Gedanke, der ein wenig davon verrät, wozu dieses Buch imstande ist, brachte mich auf James Incandenzas 52. Filmarbeit (in der Übersetzung) „Wie Anno dazumal.“, der sich auf dieses Ereignis zu beziehen scheint und ihm 181. Minuten Film widmet. Als ich die Liste mit Incandenzas Filmen erstmals sah, habe ich mir kichernd vorgestellt, wie der eine oder andere Plot wohl von diesem oder jenem Regisseur inszeniert wirken würde. „Bei Anruf Wollust“?

9. September

9. September 2009 |

Großraum. 12.30. Mineralwasser (leicht abgestanden). Tastenklappern. Ein Mensch parliert drei Arbeitswaben weiter über Rosenholz (nicht –stolz, der darüber parlieren könnte sitzt fünf Arbeitswaben weiter). Leise summt die Siestastimmung in der Spätsommerbeleuchtung.
Wollte eigentlich nie wieder lesen hier oben. Jetzt ists verlockend ruhig. Könnte gut gehen. Losgehts.
Telefon. Doch Musik. Andreas Scholl singt Händel. Die Raucher pilgern zum Balkon.
Wir sind im Jahre 1960 vor der Verwerbung der Jahreszahlen. Ein Vater in der Garage. Ein Irrer. Aus dem ein irrer Monolog bricht. Eine Rede an den Junior.Großartig. Gallig. Angetrunken. Ein fantastisches großes Ding. Über die Körperlichkeit der Dinge, Marlon Brando. Ist das Hals Opa? Eine Familiengeschichte des Schreckens. Eine Familie, die zelluloidwärts zieht.
Ist das überhaupt ein Roman (wie oft hab ich die Frage eigentlich gestellt?). Ist das nicht ein babelesker Turm, aus dessen Stockwerken die Geschichten durcheinanderrufen und DFW sammelt sie ein, nimmt sie auf?
Vater weissagt dem Sohnemann eine große Karriere. Wenn er ganz Körper wird. Wenn er alles vergisst, lernt, nichts zu tun, „und alles wird von den Dingen um dich her getan werden“. Der Sohn ist leider schon 1,80 groß, obwohl er erst zehn ist. Ein Gigant, mit gigantischem Kopf, „ein zehnjähriger, monströs großer, beschlipster und dickbebrillter Bürger“. Vater lässt den Flachmann kreisen, kreist sich immer mehr in den Irrsinn. Und in seinen Vaterhass. Er wünscht seinen Vater ins „Gummivakuum der Hölle“. Dieser Golfspieler. Golf!!! Und was jetzt kommt, hefte ich mir im Bad an die Wand, an der die anderen schönen Stellen der Weltliteratur hängen: „Ein körperloses Spiel spastischen Dreschens und fliegender Grassoden. Eine in Anführungszeichen Sportart.“ Andreas Scholl singt „Vivi Tiranno“. Kein Schmu diesmal. Hat außer mir sonst jemand das Gefühl, da ist jemand, der hin und wieder sich einmischt und passende Kommentare aus dem Unterhaltungsbereich dem Leben beisteuert? Mir fällt da meine Lieblingssuhrkampgeschichte ein. Buchmesse in Frankfurt. Suhrkamp lädt zur Party ins Alte Polizeipräsidium. Pop-Musik schwallt über die Treppen. Auftritt: Die Witwe. Eine flammende Rede gegen den Kapitalismus. So flammend, dass man fast schon glaubt, sie wolle anschließend bekanntgeben, dass sie aus Ekel vor dem Geldverdienen fürderhin ihre Bücher nur noch verschenkt. Flammender Rede Ende. Pop-Musik schwallt über die Treppen und die Gesichter der bleichgewordenen Buchhändler. Wir verlassen die Party. Drehen uns noch einmal um und fallen vor dem Herrgott auf die Knie. Da hatte man was vergessen über dem Eingang. Eine Schrift hing da von einer Pro7-Fete. „We love to entertain you.“ Danke.
Jims Vater breitet die Geschichte der Zerstörung seiner Kinderseele aus. Was für ein Arschloch. Es hätte jeder verstanden, wenn er ihm sein Wilsonholz über die Omme gehauen hätte. Vielleicht tut ers noch. Wir lesen morgen weiter.

Und d o c h…

9. September 2009 |

….es bleibt ein ständiges Gefühl des Ungenügens, trotz >>>> solcher plötzlichen („unmittelbaren“) Berührungen. Ich frage mich ständig bei diesem Buch: Läse ich’s weiter, wenn ich nicht „versprochen“ hätte, hier mitzutun? Dann liegt der Schinken da, mehr Aufgabe als Lockung, ein Pensum, das zu bewältigen ist, und man weiß als Lustmensch nicht recht, warum. Man liest’s, weil man’s versprochen hat und zuverlässig ist.
Ganz anders ging es mir mit jedem Pynchon (ausgenommen Mason & Dickson, auch da kam ich nie richtig rein); von „V.“ an – ich las Pynchon, mit Ausnahme der Erzählungen, chronologisch – war ich immer aber auch sofort im Sog, nie gab es da einen Moment des Retardierens, nie eine Redundanz wie hier, nie solch eine Gesurfe über konversierende Oberflächen… es mag sein, daß ich das völlig falsch sehe, selbstverständlich, mir mag schlicht die kulturelle Codierung fehlen, die solch ein Buch braucht (mir geht es völlig anders als etwa >>>> René Hamann), aber etwa bei Wallaces Tennisszenen (mich hat Sport als Kulturwissen nie interessiert, ich kann Fußball nicht leiden, ich guck mir keine Olympia-Übertragungen an und geh schon gar nicht zu öffentlichen Spielen) geht es mir anders, völlig anders, als bei DeLillos Baseball-Match in Underworld; dabei ist mir Baseball n o c h fremder als Tennis… aber die Szene, die der Dichter beschreibt, kam mir ausgesprochen nahe, vielleicht weil er sie unironisch erzählt: hier ist Liebe. Während ich bei Wallace den Eindruck habe, das Spiel selber interessiert ihn gar nicht, es ist nur ein Modell, ja selbst die Spieler sind dem Spiel entfremdet, während bei DeLillo Spieler und Zuschauer das Spiel s i n d: „Herz, mein Herz“ liest man da plötzlich (S.57) – und wenig später: „Der Augenblick hat etwas Übernatürliches, das läßt ihn erschauern und erregt ihn und“ j e t z t kommt die Kraft: „treibt seine Hand in die Tasche, um die dort versteckten, düsteren Seiten zu berühren.“
Von all solchem nichts bei Wallace, jedenfalls bisher. Der Sport ist eine Abrichtungsmechanerie, in der Seele nicht vorkommt; deshalb gibt es auch keine „düsteren Seiten“ und deshalb keine hellen; alles ist, letztlich, ernüchterte Funktionalität; das erzeugt einer bei allen „Ausschweifungen“ vorherrschende Glätte eines AllesIstSchlimm. Halte ich William Faulkner dagegen, meine Droge dieses Julis und Augusts, wird das besonders klar: da gibt es Menschenliebe, ständig, gegenüber nahezu jeder Person, von der erzählt wird, die erzählt wird, Menschenliebe ist geradezu der Motor faulknerscher Erzählbewegungen; auch Faulkner war „depressiv“, dennoch ist die poetische Haltung anders. Nun läßt sich Wallaces Ansatz sicherlich mit „postmoderner Disposition“ erklären, aber so what? Man kann das bei Pynchon und für Ishiguros mir bis heute in seiner Leuchtkraft unfaßbarem „The Unconsoled“ genauso… ; wenn aber bei Pynchon in den Tankstutzen eines Autos gepißt und dabei Mahlers Lieder eines Fahrenden Gesellen gesummt wird, hat das zwar einen kalauernden Witz, kennt man aber die Lieder, dann sind eben diese Lieder gleichzeitig d a – und das ganze Ausmaß der Ambivalenzen wird klar: Tiefe. Ich erwarte so etwas von einem Buch. Vielleicht ist das falsch, vielleicht trübt es meine Aufmerksamkeit, vielleicht lege ich unangemessene Maßstäbe an. Kann sein. Aber ich lese nicht, um mich zu geißeln. Ich will auch nicht büßen. 1500 Seiten brauchen viel Zeit, Lebenszeit; und Zeit ist das wichtigste, was wir haben. Ich könnte in der Zeit Cello üben, ich könnte Faulkner weiterlesen, ich könnte mit einer Frau schlafen. All das entgeht mir, wenn ich dieses Buch lese, und ich bekomme nur sehr selten etwas dafür zurück, das dem, was ich in der Lesezeit eben nicht tun kann, gleichwertig wäre. Ich muß nicht über die mir bekannte „schlechte Befindlichkeit von Welt“ eigens noch aufgeklärt werden; wenn sie Gegenstand von Kunst ist – das ist sie nahezu immer -, dann erwarte ich, daß mir das >>>> in einer perversen Bewegung herum- und zu Lusterlebnissen aufgedreht wird; genau das kann ja Kunst und fast n u r sie.
Noch ein Zeichen: Während ich bei anderen Autoren, den schon Genannten und weiteren, Szenen in die Erinnerung geradezu gebrannt bekomme, zerfallen sie mir bei Wallace fast schon tagsdrauf. Ich vergesse hier so schnell, was ich gelesen habe. Dabei g i b t es bleibende Szenen, aber sie scheinen von >>>> (Müll)Bergen aus Informationen verschüttet zu werden. Man kann das ganz sicher als Qualität einschätzen, weil es Realität widerspiegelt, man kann sagen: das ist angemessene Gesellschaftskritik. „Ja“, sag ich dann, „aber wozu?“ frag ich dann, wenn ich das a) sowieso schon weiß, es aber b) für mich selbst gar nicht stimmt? Vielleicht nehme ich „Welt“ aber auch nicht so wahr wie andere Leute, vielleicht fehlen mir einfach sagen wir „soziale Verfaßtheiten“, vielleicht bin ich nicht so geprägt worden wie diejenigen Leser (>>>> es sind doch offenbar viele, signifikant viele), die jetzt mit solcher Begeisterung lesen, wenigstens kaufen. D a s ist eigentlich mein Stichwort: das Buch begeistert mich nicht, einzelne Sätze darin begeistern mich, einzelne Passagen, aber das Buch insgesamt prokelt in meinen Begeisterungen herum wie ein mäkelndes Kind auf dem Teller. Es ergreift mich nicht, ich w i l l aber ergriffen werden von Büchern. Man kann mit Recht dagegen einwenden, es sei eben eine Stärke Wallaces, daß er einem >>>> die Phasen des Ergriffenseins immer wieder wegzieht, daß das ja genau die kritische anti-Verführung sei und was dergleichen an poetologischen Überlegungen da immer mit durchschlägt, – aber ich bin kein Masochist und ziehe aus poetischen double binds nicht etwa Genuß, sondern reagiere aggressiv auf sie. Oder mit Ermüdung.
Aber dann wieder kommt sowas wie die Joyce „hommierende“ C- und Poor-Tony-Erzählung… ein ständiges Hin und Her in mir… doch abermals weiß ich nicht, was morgen davon „geblieben“ sein wird. Während ich das bei Faulkner und Pynchon und vielen anderen immer sofort weiß, jedenfalls d a ß etwas bleibt. V i e l bleibt.

(197)

Heute +100 Lektüre par force. Stand: S. 234. Grund für den Nachholbedarf:

Das Abstylen der Pennäler war mir zu zäh. Es mag vielleicht Debattierklubs in den VHS geben (Jetzt bewerben – Kurse beginnen schon im September!), wo man solche Reden serviert und beklatscht. Ich persönlich finde sie, und Hals Belehrungsstunde zuvorderst, einfach öde.

Übers Ironiemaß kann man, und wie die Jungsophisten der E.T.A. genau zu nehmen sind, sicher diskutieren. Die Texte des Romans kamen mir bisher wie Revuenummern vor; und wenn die nun einmal nicht zünden, weil bspw. das Gefasel der Hirntiere weder hirntierisch noch tierisch hirnig ist; oder weil das Personal zwecks Durchlüftung des behäbigen Gesprächs Alibiartistik betreiben muss, z.B:

Blott muss anscheinend gleich weinen. Beaks leerer Blick und das leise Zucken seiner Glieder lassen auf einen Albtraum schließen. Blott reibt sich mit dem Handrücken die Nase. S. 162

… dann dauert es einfach länger mit dem Lesen. Soll einstweilen die einzige negative Leseerfahrung bleiben. Gut, die Gedanken über Filmhelden hättens auch nicht sein müssen (S. 201f), aber das waren nur zwei Seiten. Zwei Seiten lang war auch der Versicherungssketch; und zwei mal zwei Seiten lang ist die zärtliche Begegnung der Millicent mit Mario – und da bin ich endlich beim Thema des Posts: Mario¹.

ähnelt eigentlich niemandem, den sie kennen. S. 146

Wer im Spaß Sympathieträger sein könnte, wurde ja schon diskutiert. Ich merke, wie mir der Mario richtig ans Herz wächst. Inmitten der Zuchtburschen inszeniert ihn Wallace so schön „menschlich“. Das Gespräch mit Schtitt, die verhinderte Liebe im Giftsumach (s.o), das Interesse am Film –

außerdem bringt er bekanntermaßen eine Liebe zu wellenförmig verlaufenden Systemen fleischfarbener Quadrate mit S. 220

Vielleicht, dass Mario unsere Stellvertreter-Position einnimmt, also den ex-impliziten Leser im Buch darstellt, und mit großen Augen und seinem großen Kopf das bunte Treiben der Academy verfolgt² und wie mit einer Kamera einfängt und schluckt…? Hand aufs Herz, ich mag den Kerl!

¹ Die wikipedia hat eigenartigerweise ein anderes Bild von ihm

Bei Mario handelt es sich um einen schnauzbärtigen, etwas klein gewachsenen und dicklichen italienischen Klempner mit blauer Latzhose, rotem Hemd und roter Schirmmütze mit einem M-Symbol.

² Leider auch, wenn ich Marios Zahnlage richtig deute, im Zermalmen, also Verarbeiten des Geschluckten benachteiligt.

Nachtrag:

in Erwartung der sauren Entleerung. S. 149

Dass Kackende etwas Göttliches an sich haben, ist schon vielen aufgefallen. Und wer weiß, wenn wir Menschen die Gesichter an der Stelle unsrer Hintern hätten und vice versa; wie dann wohl der Himmel aussähe, in den alle Gebete (und was für welche!) gerichtet wären?

This skull, that skull

8. September 2009 |

Das Buch hat mich. Ich lese es auf dem Bett, auf dem Sofa, beim Fernsehen, im Zug, auf der Terrasse, draußen vor dem Restaurant bei nervigen Wespen, und auf der Parkbank, während Hunde bellen. Ich lese von Mond zu Mond. Ich möchte fürs Lesen bezahlt werden. Möchte man was in Sachen Bildung tun, und man meint hier irgendein hohes Amt, so sollte die Lektüre von Büchern geldlich entlohnt werden, gestaffelt nach Qualität, nach bestimmten Anspruchsschlüsseln. Wie viele Hauptschüler dann vielleicht U.S. lesen würden. Wie reich ich dann schon wäre. Und wie weit ich schon bin, siehe unten. Auf mein eigenes Schreiben, das man gleich vom Leseeinkommen abziehen müsste, hat U.S. bislang noch keinen Einfluss, denn es findet zur Zeit kaum statt. Es ist ja auch nicht so, dass DFW ein großer Stilist wäre, eher ein Multiinstrumentalist. „Ab einem gewissen Punkt kommt man sich vor wie ein Römer, der den Löwen applaudiert.“ (S. 389) Mein Sozialleben leidet nur geringfügig. Es findet wenig Liebe statt in dem Buch, fällt mir auf. Ein Tennisschüler hat es im Bus vom Turnier nach Hause mit einer Doppelspielerin getrieben, Mme Psychosis hat eine Vorgeschichte mit Orin, der seitdem ein unschlagbarer Objektisizer ist, außerdem taucht immer mal der Name Mildred Bonk auf, das war es bis dato. Der unendliche Spaß ist einer, der hauptsächlich mit sich selbst und chemischen Zusätzen beschäftigt ist. Ich schlage endlich die Stelle in Hamlet nach. Akt 5, Szene 1. „1 Clown: This same skull, sir, was, sir, Yorick’s skull, the king’s jester. – Hamlet: This? (Takes the skull.) 1 Clown: E’en that. Hamlet: Alas, poor Yorick! I knew him, Horatio – a fellow of infinite jest, of most excellent fancy.“ Übersetzt von Holger M. Klein, Reclam, Orange: „… Ich kannte ihn, Horatio – ein Bursche von unendlichem Witz, von ganz hervorragender Phantasie.“ (Stand: S. 407.)

8. September

8. September 2009 |

Gelbes Sofa am Wasser. Pinotage. 0.15 Uhr. Seiten 208-224. Bekenne mich endgültig des Multitaskings schuldig. Musik läuft keine, dafür spielt Roger Federer bei den US Open gegen Tommy Robredo. Ich darf das nicht sagen – ein bisschen zugelegt hat der Gute ja nun schon, seit er Zwillinge hat (die er selbst wickelt, wie er behauptet). Die Eleganz ist trotzdem verblüffend, der tanzt und schlägt und tanzt und schlägt. Soll mal noch einer sagen, Klassiker könne es keine mehr geben. Hier sieht man einen bei der Arbeit. Da kann Stan Smith, den wir gerade bei DFW noch im Hintergrund über die Mattscheibe der Zukunft flirren sahen, nicht gegen anstinken. Von Federer konnte DFW aber nichts wissen, der hat erst 1997 angefangen mit internationalen Turnieren außerhalb der Schweiz. Sagt Wiki gerade.
Warum soviel Federer? Weils im US formal ein bisschen ruhiger zugeht in dieser Tranche. DFW oder Hal oder beide gehen erst einmal weiter ausführlich der schon interessanten Frage nach, warum das olle akustische Telefonieren über die Videofonie obsiegt hat. Und er malt eine Zukunft an unsere hochauflösenden Fernseher, die so gruselig wie wahrscheinlich ist, eine fortgesetzte optische Täuschung per Telefonie, weil sich halt niemand tatsächlich offenbaren will am Rohr. Jeder spricht hinter Masken, in künstlichen Tableaus. Merkwürdiger Gegensatz. Ist doch alles ein bisschen komplizierter. Heute scheint sich jeder auch noch die letzte seiner Masken abzureißen, sich bis aufs nicht vorhandene Brusthaar auszuziehen fürs Netz und trotzdem versteckt er sich möglichst perfekt. Aber die Transzendierung der Eitelkeit und der Hörigkeit einer Hightech-Mode gegenüber, die kann man gerade (wir haben hier IFA) auch wieder herrlich bewundern.
Federer schlägt den Spanier am Ende mühelos mit 7:5 6:2 6:2. Herrlich. Schwerelos. Ich muss aufhören mit dem Wein.
Im US wird erzählt, welch exorbitanten Fortschritte das Tennisundüberhauptgenie Hal in der Postpubertät macht. Und wie in der E. T. A. Urin gesammelt und gefälscht und gefälschtes Urin in Umlauf gebracht wird, um mögliche Drogen-Abusi zu vertuschen. Da war von Eigenblutdoping noch keine Rede. Kinder, wie die Zeit vergeht.

Über das Buch

1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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