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Meine beiden Lieblingspassagen bisher: 2x „Jahr der Inkontinenz-Unterwäsche“ (S. 28-41 Erdedy und S. 99-114 Kate Gompert): Auffällig daran ist, dass Gompert in ihrer depressiven Tragik genau das Ende des Weges markiert, auf dem Erdedy sich befindet. Der direkte gegenseitige Verweis aufeinander nicht zuletzt durch den „Typen, der in seinem Wohnwagen Schlangen hält“. Die Aufsplitterung ein- und desselben Konfliktfeldes auf zwei Figuren, gezeigt an den unterschiedlichen (Verfalls)Stadien dieser Figuren, fährt schräg bei mir ein. Das Buch liest an dieser Stelle mich. Oder besser: Ich lese, gespiegelt durch die Erzählweise des Buches, meine eigene Lektürepräferenz. In diesem Fall: Meinen Konservatismus, mein Bedürfnis nach einer linearen Erzählstruktur, nach einem Hervorgehen der Ereignisse auseinander. Der daraus resultierende Verdacht: Wallace kann nicht erzählen. Die ganze Zerhackung und Zerhäckselung des Romans ist weniger einem Konzept als vielmehr der Not geschuldet. Brilliant bleiben die Passagen trotzdem. Nur eine einfühlende Lektüre stellt sich dadurch bei mir nicht ein. Der Autor, der das Ganze erzählt, ist zu präsent.
21.30 Uhr. Seit einer Stunde duellieren sich Frau Merkel und Herr Steinmeier. Man kann es sich ansehen. Man kann dazu Fahrrad fahren. Man kann es auch einfach sein lassen. Didier Squiban (wahrscheinlich schlimmer Kitschbretone) spielt Klavier. Grüner Veltliner. Draußen torkeln die letzten Unioner siegestrunken nach Hause (5:4 gegen Paderborn, der Jubel klang leider, als würden die Nazis wieder kurz vor Adlershof stehen, da sind ja Merkel und Steinmeier… egal).
Nach einem kleinen Ausflug in die Fitnessfolterkammer der E. T. A. (das sind immer sowas wie präpostpubertäre Satyspiele bevor das Elend so richtig losgeht wieder, mal sehen wie lange noch), gibt’s wieder einen dieser scheinbar wahllos zusammengestellten Kataloge der absoluten Finsternis. Was wir lernen könnten, „wenn Sie dank der Wohlfahrt oder einem Fall von Verzweilfung je ein wenig Zeit in einer Entzugsklinik wie dem staatlich finanzierten Ennet House“. Was wir als erstes lernen, wird Herrn Steinmeier nicht gefallen, dass SPD für sozialpsychologischer Dienst steht, das hatten wir ja schon geahnt, Frage ist nur, wer betreut wen. Aber wir schweifen ab.
Ein großes Sammelsurium, das. Ein Aphorismentsunami. Ob das tatsächlich was mit Literatur zu tun hat?
Was mit Drogensüchtigen passiert, wenn sie von jetzt auf gleich ihre Lieblingsdroge absetzen. Dass der Rassismus keine Einbahnstraße aus Richtung Weiß ist. „Dass es ein selten erwähntes Paradox der Rauschgiftsucht gibt: Wenn eine Droge Sie erst so nachhaltig unterjocht hat, dass Sie von ihr loskommen müssen, um am Leben zu bleiben, dann ist Ihnen diese unterjochende Droge so wichtig geworden, dass Sie praktisch den Verstand verlieren, wenn sie Ihnen genommen wird. Oder dass Sie, wenn Ihnen die Lieblingsdroge genommen worden ist, damit Sie am Leben bleiben, und Sie sich für die vorgeschriebenen Morgen- und Abendgebete hinhocken, irgendwann plötzlich darum flehen, buchstäblich den Verstand verlieren zu dürfen, in der Lage zu sein ihn in eine alte Zeitung oder so einzuwickeln und in einer Seitengasse liegen zu lassen, damit er von nun allein und ohne sie klarkommt.“
Nehm wieder alles zurück. Hat alles mit Literatur zu tun. Manchmal. Es treiben Weisheiten wie Nuggets in einer dunkelfiesen Sauce aus halbverdauten, teilweise unverdaulichen Informationen, die man vergessen hat, bevor einem das Blatt aus der vor Angst zitternden Hand gefallen ist. Bis auf Sätze wie: „Dass die Menschen, vor denen man am meisten Angst haben muss, die Menschen sind, die am meisten Angst haben.“ – „Dass es etwas ganz Neues ist, nüchtern zu tanzen.“ – „Dass Hinnehmen meistens vor allem eine Frage der Müdigkeit ist.“ – „Dass es zulässig ist zu wollen.“ Das passt alles auch prima zu Merkmeier und Steinel.
Zwar finde ich mich in fast jeder der hier auftauchenden Lesarten wieder. Zwar bin auch ich täglich hin- und hergerissen zwischen „Ich tu mir das keine Zeile länger an“ und tiefer (aber oft kalter) Verehrung für das, was Wallace da macht und versucht. Am Ende aber steht immer eine absurde Art von Dankbarkeit – dafür, dass er das alles aufgeschrieben, benannt, gesammelt hat, was einem im Zuge normaler Welt-Wahrnehmung maximal diffuses Unbehagen verursacht. Leichtes Unbehagen kann sich häufen, irgendwann zu viel werden. Ist der Müll erst voll, kommen die Fliegen. Und sobald Ungeziefer da ist, ist sowieso alles zu spät. Dann wird man träge, weil man ja sowieso nichts mehr ändern kann. War halt keiner da, der aufgepasst hat. Der täglich Staub gewischt und zugesehen hat, dass nicht alles verdreckt.
Für mich ist David Foster Wallace so ein Staubsauger. Einer, der sagt: Das ist nicht gut, da ist was faul. Glaub das nicht, denen geht es nur um das-und-das. Ein Moralist, vielleicht. In jedem Fall einer, der es gut mit einem meint.
Anders als Herr Wenrich glaube ich nicht, dass es in der hier schon zu Recht viel zitierten Kenyon Speech darum geht, eine gewisse Freiheit „zurückzuerobern“ oder sich gegen eine feindliche Umgebung zu „wehren“. Ich glaube eher, dass DFW in dieser (Schlüssel-)Rede ein Gefühl, eine Einsicht zu vermitteln versucht, die ihm selbst die meiste Zeit verwehrt geblieben ist, nämlich das Wissen um die Verbundenheit aller Dinge, die Einheit von allem, was bitte nicht gleichbedeutend ist mit der Aufgabe von Individualität.
Was er hier beschreibt, ist eine fast religiöse Erfahrung, also etwas, das ihm eigentlich vollkommen fremd sein müsste, eine Sicht, in der er, könnte er sie konservieren, einen Schlüssel gesehen haben muss. Für mich keine „Erziehung zur Kritik des Alltags“, Herr Wenrich; ich würde noch viel schwülstiger sein und Sätze bilden wollen, in denen die Worte „Rettung“ und „Erlösung“ vorkommen.
Vielleicht hab’ ich’s ja mit den Vaterfiguren (und wahrscheinlich kann mir ein psychoanalytisch vorgebildeter Mensch noch einen anständigen Komplex unterjubeln), aber das auf Joelle gemünzte „[Sie] wusste heute, dass sie sich nie wieder wie in jener Schlange behütet fühlen würde“ (US 342) ist der für mich vielleicht zärtlichste Satz des ganzen Buchs. Joelle erinnert sich unmittelbar vor dem goldenen Schuss an die Kinogänge mit ihrem Daddy, was mich wiederum an Anna Livia Plurabelles Schlußmonolog in „Finnegans Wake“ erinnert: „Carry me along, taddy, like you done through the toy fair!“ („Nimm mich mit, Taddy, wie einst über den Tandmarkt!“) Auch dort wird im Sterben der Vater evoziert.
Bin derzeit v ö l l i g rausgefallen aus dem Buch. Es ist eine derjenigen Situationen, in denen ich normalerweise ein Buch weglege und mich einem anderen zuwende. Kann allein mit meiner Situation zusammenhängen, aber ich frage mich, je länger ich nicht mehr drin gelesen habe: weshalb s o l l ich lesen? Was gab mir das Buch bisher? Was könnte mich weiterlocken?
Es hat solche Bücher immer wieder gegeben in meinem Lektüreleben, und es heißt nicht, daß nicht der Zeitpunkt noch käme, an dem das Buch „richtig“ wäre; auch das hat es öfter gegeben. Knifflig daran j e t z t ist, daß mich das nicht-weitergelesene Buch davon abhält, ein anderes zu lesen. Die Verpflichtung macht mir ein schlechtes Gewissen; nehme ich ein anderes Buch vor, wird das schlechte Gewissen aktiviert, und ich lege das andere Buch beiseite, als „dürfte“ ich das nicht lesen, bevor nicht UF „erfüllt“ ist. – Blöde protestantische Arbeitshaltung, völlig lustfremd. Ausnahme: eigene Texte. Da „darf“ ich, sagt mein Überich. Und na ja, derzeit läuft das >>>> ilb, bei dem ich ein bißchen mit eingespannt bin. Zumal mich die arabische Welt so viel mehr interessiert als die US-amerikanische, die mich g a r nicht interessiert. (Stimmt nicht, aber stimmt in der Tendenz der Abwehr, die mein emotionales „gar“ so überdeutlich illustriert; sie tut so, als gäbe es Faulkner nicht, Pynchon, Gaddis, Poe undundund: seltsamerweise habe ich die aber immer als „eigentlich“ europäische Autoren wahrgenommen, was bei Wallace definitiv nicht der Fall ist).
(Die Platte „hängt“ bei 188.)
P.S.: Ich frag mich gerade, ob mein Widerwille, der ja eine Art inneren Widerstandes ist, darin begründet ist, daß das Buch überhaupt keinen Eros hat; es ist geradezu ohne Körper. Es gibt keine Sekrete, es gibt keine Obsession, jedenfalls bisher. Es gibt nicht eine einzige Frau darin, die F r a u wäre; nix, wo ich die Luft durch die Zähne ziehe; meine Fantasie wird nicht angeregt, es ist, als wäre der Text permanent mit Kopfstimme geschrieben; mir fehlt E r d u n g, Erde, Dung. Ich habe mit dem, was das Buch erzählt, nichts zu tun. Vielleicht ist es auch einfach das. Ach, ich weiß doch auch nicht!
5.40 Karlsruhe. Mezzomix zero (japerversja. Wollte wissen, wie das Lieblingsurlaubsgift meiner Kindheit (Spezi!) ohne Kalorien schmeckt). Murray Perahia spielt Bach-Konzerte (hält immerhin wach). Seiten 272-88. Der Großraum rollt rückwärts nach Hause. Diese Leute hier haben gar keinen Spaß. Einer liegt über seinem Tisch, als wäre er von gestern übrig geblieben.
Nachdem wir ein bisschen mehr erfahren über den Lehrplan der E. T. A. hält Madame Psychosis eine Bergpredigt, nicht den Mühseligen, den Beladenen, auch nicht den Siechen. Obwohl sie schon sehr pythonesk ist, die Rede. Madame Psychosis predigt den Leurodermatikern, den maxillofazial Fehlgebildeten, den Peronikern und Teratoidalen, dass sie ihre Klausen oder sonstigen Unterkünfte verlassen „um Eurem Spiegelbild furchtlos ins Auge zu schauen“. Außerdem steht auf ihrem Manuskript, das sie ihrer Gemeinde verliest, noch sowas wie „Lieber per Du als Degout“. Was DFW anschließend über die Musik schreibt, die den Soundtrack von Mdme. Psychosis’ Rede untermalt, ist doch sehr unterwäligend. Mit Musik hat ers nicht so.
Was ist doch so ein Zug für ein einfaches Gebilde, verglichen jedenfalls mit den verschlungenen escherschen Ungetümen, in denen DFW sein Buch spielen lässt. Der kleine Heathkit zum Beispiel sitzt da im „suburalen Treppenhaus im Cerebrum“. Was immer das heißen mag. Es geht aber noch schlimmer. Oder interessanter.
Die Welt von US fügt sich nämlich allmählich. Nicht nur, dass die Figruen, die wir längst schon verloren gegeben hatten, tatsächlich nicht ins Nirwana der DFWschen Fantasie gespült wurden, sondern mit den anderen in Beziehung stehen. Auch die verschlungenen Gebäude rücken zusammen. Ennet House Drug and Alcohol Recovery House zum Beispiel, erfahen wir, ist einer sieben Gebäurdetrabanten, die man von der ETA aus sehen kann, „wie sieben Monde, die einen toten Planeten umkreisen“, liegen sie da. Und sind so eine Art Sammelbecken all jener, die der Gesellschaft geist, seelisch abgeschmiert sind. Ein gigantisches Kuckucksheim. Als da versammelt sind: die Vietnamveteranen „mit irrem Blick und post-posttraumatischen Belastungsstörungen“, Methadoniker mit hervortretenden Augen, Alzheimerpatieten mitVeteranenrente, Katatoniker und geistig Behinderte in Fötalstellung „mit dem IQ einer Salatschleuder“.
Das Klinikpersonal hat übrigens auch gewaltig einen an der Schacke, was daran liegt, dass hier Böcke zu Gärtnern gemacht werden. Don Gateley zum Beispiel ist wieder da, der ehemals berühmte Don Gately (vgl. 29. August), der nach Entzug hier hilft. Calvin Thrust (toller Name), einer der Klinikpsychologen, ist seit vier Jahren nüchtern, früher war er Pornodarsteller, kam als Insasse ins House, und da hat er soviel gelernt, dass er jetzt den andern hilft. Toll.
Alptraum:
Ich bin ein großer, austrainierter schwarzer Turm.
In mich schlagen von allen Seiten her die Tennisbälle ein. Bis ich endlich zerbreche und niederregne.
In abertausend schwarzen Witwen.
Die Tirade des Zuchtgründers Opa Incandenza (S. 224-244) hatte mich bis in den Schlaf begleitet.
Bei diesem sind ja die Romangene schon vorhanden: Tennis, Spinnen, Filme, Körper, Psychosen.
Gerade das Pflichtdenken, den Körper bis zur Transzendierung zu üben, und das gegen jeden individuellen Wunsch und gegen jedes Experiment; alles auf das eine Ziel, das kein Ziel an sich ist, zu eichen, das, dieses Verlangen nach Unterwerfung und Auslöschung, hat in mir (ich gestehe: erstmalig!) ein Interesse an der Stoa¹ geweckt.
Wie viele bieten infolge des unaufhörlichen Sinnengenusses [oder: unendlichen Spaßes] den Anblick von wandelnden Leichen!
Worum geht es:
Sein Leben lang muss man das Sterben lernen. Es gehört […] ein großer und über menschliches Irrsal erhobener Mann dazu, nichts von seiner Zeit umkommen zu lassen; und sein Leben ist aus dem Grund das längste, weil es in seiner ganzen Ausdehnung gerade ihm selbst zur Verfügung steht.
und:
Das Leben, das uns gegeben ist, ist lang und völlig ausreichend zur Vollführung auch der herrlichsten Taten, wenn es nur von Anfang bis zum Ende gut verwendet würde;
Bis hierher verständlich. Natürlich stellt sich die Frage, ob eine lebenslange, deformierende Übung wie der Sport, oder auch der Hirnsport des Romanciers, eine gute Verwendung des Lebens darstellt.
Aber bei Seneca, dem römischen Dale Carnegie, und hier unterscheiden sich beide Entwürfe, geht es vor allem um das Selbstgewählte (im Weiteren: die selbstgewählte Muße). Die Looser sind diejenigen, die um Dritter willen ihre Dienste verrichten; sei das nun ein Sklave, ein Beamter oder ein Sportler.
Die Natur der Geschäftsmänner, die S. als Beispiel anfügt, kann man getrost mit der Mentalität unsrer Zeit vergleichen, wo ein homo oeconomicus dem nächsten gerne Bruder und Geschäftspartner (natürlich in umgekehrter Reihenfolge) ist.
[…] die Seelen der Geschäftsmänner sind gleichsam durch ein Joch gehemmt, sie können sich nicht wenden und rückwärts schauen. So sinkt das Leben in den Abgrund, und du magst zuschütten, so viel du willst: es hilft nichts, wenn kein Untergrund da ist, der es auffängt und festhält. So mögen dir die Lebensjahre auch noch so reichlich gewährt werden: wenn sie keinen festen Widerhalt haben, so finden sie durch die gelockerten und durchlöcherten Seelen ihren Ausweg. Die Gegenwart ist nur ganz kurz so kurz, dass sie manchen wie ein Nichts erscheint. nur die Gegenwart gehört den Geschäftsmännern, sie die so kurz ist; diese aber entzieht sich ihnen infolge der zerstreuenden Vielheit ihrer Tätigkeit.
Die Idee, dass wir uns zu Tode amüsierten; dass wir uns mit Drogen, mit dem Sport, mit Incandenzas Film anfüllten, bis das wenige Selbst ganz untergegangen wäre, beruht so allein auf der Möglichkeit, nicht mehr über seine Zeit verfügen zu können oder zu wollen.
Ich wundere mich oft, wenn ich sehe, dass man andere bittet, uns ihre Zeit zu widmen, und dass die darum Ersuchten sich so überaus gefällig erweisen. […] man bittet um die Zeit, als wäre sie nichts, man gewährt die Zeit, als wäre sie nichts.
Die Pflichtethik, die den Roman durchzieht, würde wohl verstanden werden, nicht aber die allerorten in ihm wuchernde Fremdbestimmung. Etwas anderes als das pathologische „Müssen“ habe ich noch nicht wirklich ausmachen können. Stand: S. 261.
¹ Textstellen aus „Von der Kürze des Lebens“, Senecas 10. Dialog. Modifiziert in der Übersetzung von Otto Apelt.
55 Grad. Holzbänke. Zwei Handtücher. Fünf Blatt Papier. Ein Kugelschreiber. Jaja. Sauna. Nach einem irren System wechselt die Lichtfarbe. Wenigstens spielen sie keine Musik. Dieses esoterische Gutmenschengedudel. Und es riecht auch nicht nach exotischen Kräutern. Hier hab ich die nächste halbe Stunde Ruhe. Kein Getränk.
In der Psycho-Sprechstunde bricht aus den Patienten heraus. In beeindruckenden Schleifen reden die. Irre und hellsichtig. Und immer entschuldigen sie sich erst einmal. Und wieder sind unheilbare Drogensüchtige, eklige Menschmonster, gigantische Ungeziefer unterwegs.
Ein zartes Rosa flammt über die Bänke. Absolut aushaltbar. Es tröpfelt.
Es kann, das lernt man gleich wieder, allerdings immer noch irrer werden. Willkomen im Studio für Madame Psychosis Radiosendung „Das waren die Legenden von einst“. Ein Vatermordformat, Studenten ziehen sich die Rolle ihres Vaters über und lassen ihn im Idiom einer möglichst dusseligen Zeichentrickfigur reden lassen. Kathartisch wirkt das. Läuft zur Geisterstunde. Madame Psychosis. Das eine Art Crossmedialdressversion von DFW. Die treibt allerlei Unsinn über den Äther. Ihre Monologe wirken gleichzeitig frei assoziiert und komplex strukturiert, Alpträumen nicht unähnlich. Im Voraus lässt sich nie sagen, worum es am jeweiligen Abend gehen wird.
Jetzt gibt’s hier nur noch eine Funzel. Mehr lesen geht nicht.
Deswegen mal wieder was Grundsätzliches. Schon bei vielen amerikanischen Landschaftsliteraturmalern geht es einem regelmäßig an die Nerven, wenn da Pflanzen und Tiere zur Erzeugung von Kolorit aufgezählt werden, von denen selbst der gebildete Mitteleuropäer keine Ahnung hat, wie sie aussehen oder riechen. Das gibt einem das solide Gefühl, blöde zu sein, und trägt zur Ausmalung von Handlungshintergründen nichts bei. DFW ist auch nicht besser. Nehmen wir laryngeal. Das Studio von Madame Psychosis ist laryngeal, laryngealförmig. Schönes Wort. Aber um zu wissen, was es meint, wie das Studio aussieht, müsste ich wissen, was es heißt. Ich weiß es nicht. Muss ich wieder zum Brockhaus. Dunkel dämmert mir noch was aus dem Echoraum meiner Medizinerkindheit. Jetzt weiß ichs: Kehlkopf. Das hilft doch. Warum steht das dann nicht da? Ist das egal, weil sich auch keiner ein kehlkopfförmiges Studio vorstellen kann. Entlassen wir Madame Psychosis in die Dunkelheit und uns selbst ins Eiswasserbecken.
Großraum unterwegs nach Baden-Baden. Vor den Zugfenstern flitzt ein letzter Sommertag vorbei. Mit Hängen und Würgen gerade noch so geschafft. 300 Zeilen über Terézia Mora im Vorbeifliegen ins System gehauen. Zwei Liter Wasser getrunken, zwei große Kaffee. Nerven verloren. So kann man eigentlich nicht arbeiten. Vorne links brabbeln zwei Nerds, wahnsinnig wichtig, man sollte sie aufnehmen und als Soundtrack unter das Hörbuch von Moras grandiosem Angestelltenroman mixen. Lesen geht auch hier nicht ohne Musik. Heinichen. Noch so ein Vergessener.
Jims Vater brabbelt auch weiter. Was für eine Suada. Was für eine Angst. Der Trinker fürchtet sich alles verspielt zu haben, das ganze Talent, das ganze Leben, irgendwann unterm Stein zu liegen mit der Aufschrift „Hier liegt ein vielversprechender alter Mann“. Und dann erzählt er wie sein Leben in einem Körpergesudel am Netz kaputtging mit seinen Knien. Nur wegen eines Satzes eines übergroßen Schattenwerfers. Das tut körperlich weh und haut einem das Herz raus.
Kaum durchgeatmet sind wir wieder bei der E. T. A. und mitten im Drogensumpf. Michael Pemulis pflügt hindurch. Folgt eine Filmbeschreibung von Hals 11 ½ minütger Unterhaltungspatrone „Das ungezähmte Tenniswunder“. Ist nicht wirklich unterhaltsam. Nur für Hardcore-Tennisfans, die Weisheiten lernen wollen wie „Man muss sich in seinen Gegnern wiedererkennen.“
Manchmal, nee, eigentlich immer wirkt US wie eine Zettelcollage, eine Klebekunststück. Was, wie, warum auf was folgt ist nicht wirklich einsehbar. Folgt das vielleicht einer Spannungsentspannungsfieberkurve? Dann wären wir jetzt mal wieder ganz unten.
Anschließend sitzen wir in der Sprechstunde eines neuen Mitglieds der unendlichen Gemeinschaft von US-Einwohnern: Patricia Montesian M. A. G. B. M. B., der Direktorin der Trinkerheilanstalt Ennet House. Und hören den Erzählungen der Irren zu. Auch sowas kann man eigentlich nicht erfinden. Sowas muss man mindestens mal gehört haben. Gately, der Einbrecher taucht wieder auf. Eine Gabel bricht sich Bahn durch einen Handrücken. Frankfurt/Hbf. Hier steig ich erst in einem Monat aus. Sänk U 4 reading.
A.
Was ein guter Satz so alles vermag… In der Originalfassung war mir der neue Absatz eines Seitenumbruchs wegen gar nicht aufgefallen (S.11-12), obwohl er der Passage einen ganz anderen Rhythmus verleiht:
“Meine Bewertung ist nicht gekauft”, erkläre ich ihnen, rufe ich in die Dunkelheit der roten Höhle, die sich vor geschlossenen Augen erstreckt. “Ich bin nicht nur ein Junge, der Tennis spielt. Ich habe eine verzweigte Geschichte. Erfahrungen und Gefühle. Ich bin Komplex.
Ich lese”, sage ich. “Ich studiere und lese. Wetten, dass ich genauso viel gelesen habe wie Sie? Das können Sie mir ruhig glauben. (…)” (S. 20)
[Zur Übersetzung: der herrliche Gegensatz zwischen ‘opens out/closed eyes’ ließ sich leider nicht buchstäblich beibehalten: “(…) I am telling them, calling into the darkness of the red cave that opens out before closed eyes”, doch wird auf die “verzweigte” (für “intricate”) Geschichte transponiert. Schön!]
B.
In der Beschreibung der vielleicht wichtigsten Neuigkeiten aus dem Jahre der Inkontinenz-Unterwäsche* (S. 87) war mir bisher noch nie aufgefallen, dass es darin ein Semikolon gibt, obwohl es für die Interpretation des Gesagten bedeutend ist.
Die Interpunktion suggeriert ja ein gewisses (…) Hoch auf Ursache und Wirkung (S. 1423): der Sponsor kann sich auf die Introduktion der “Multifunktions-TPs” freuen, denn wie das Beispiel des Gesundheitsattachés zeigt, gibt es dafür tatsächlich “Killer Apps”. Allerdings gehen sie mit schweren Nebenwirkungen einher, die das Jahr zu beherrschen scheinen (daher auch das Semikolon), und wegen der die Menschen wohl zu Hause bleiben, um sich noch mehr Entertainment reinzuziehen. “Die totale virtuelle Bewegungslosigkeit, das vollkommene simulierte Wohlfühlprogramm, alles bequem vom Wohnzimmer aus” (Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich, S.114), in lebensnaher Auflösung. (Nebenbei: auch besonders toll finde ich das Detail der “virtuellen Couture, das mich an kleine-Mädchen-Computerprogramme erinnert)”
Weniger schön ist jedoch die ‘falsche’ Worttrennung in “Yushityu-Nanoprozessoren”, die verdeckt, dass man die (auch weiter im Roman wichtige) Marke als you shit you lesen kann, als Anrede und Aufforderung zugleich.
Es ist nun mal das Jahr der Inkontinenz-Unterwäsche…
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* Warum wurde hier eigentlich nicht die Marke Depend® beibehalten? Der “Bedeutungsschwelle” wegen?
1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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