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Auf heim zum SCH.M.A.Z. 18.30. Noch eine Minute länger in diesem Telefongewitter, in diesem Idiotenschlagwetter, und ich wäre zum Punter meines Laptops geworden. Und das Ding wäre garantiert weiter geflogen, als Orin sein Lederei jemals hätte treten können. Belle bloß noch in den Hörer. Je näher die Messe, desto mehr Explosivstoffe lagern sich an. Ist jedes Jahr dasselbe. Nach der Messe implodiert das dann und führt zu einem Wachkoma von nicht unter einer Woche.
Um mich noch ein bisschen mehr zu reizen, zum Ausrasten fehlt es in der S-Bahn zwar nicht an Gründen (hab ich schon ein einziges Mal erwähnt, dass der öffentliche Nahverkehr in Berlin kriminell…? In der Tat) – die zweite Lieferung von Fußnoten. Eben mal ein Sprung um 1000 Seiten (das ging bei dem Dreck von Jonathan Littell nicht von Seite 400 aus). Wir erfahren: Dass Quebec von den USA besetzt ist (was könnten die da bloß gewollt haben). Neues über Drogen und ihre Wirkweise. Dass die apresgardistische Bewegung aus als Kino der chaotischen Stasis firmiert und sich durch die „absichtlich irritierende Abstinenz von verschiedenen, in ein Bedeutungsganzes mündenden Erzählsträngen auszeichnet“. Dass Samuel Johnson der Prototyp des grammatikolexikopädagogischen Piesepampels (sic!!!) ist. Neues über Drogen und ihre Wirkweise. Den Satz: „Man kann eine Glocke nicht entläuten.“ Dass es eine gigantische Verlagskonzentration gegeben haben muss: Ein Taschenbuch erscheint bei Bantam-Doubleday-Dell-Little-Brown. Dass Gately bei seinen Betreuungsstunden in Ennet House nicht immer nur spannede Sachen erlebt. Dass 99,9 Prozent dessen, was einem im Leben widerfährt, einen eigentlich nichts angeht. Was ein unabweisbare Weisheit ist, was einem jeden Tag aufs Neue im Verlagswesen vorgeführt wird. Dass es eine Dworkinistische Hartlederorganisation gibt und Pizzitola-Auschreitungen, die Mitglieder der P.P. P.F.V. diskreditierten, worauf diese Splittergruppe zerfiel. Könnte P. P. P. F. V. eine späte Nachfolgeorganisation der Volksfront von Judäa sein oder der Judäischen Volksfront? Hat DFW Patronen von Python zu sich genommen. Irgendeine Doktorarbeit wird das irgendwann bestimmt herauskriegen. Noch ist es nur lustig.
Nach einer längeren Wallace Abstinenz, hervorgerufen durch Wallace Ärger, (es ist ja ein wenig so wie mit Einar Schleef, es macht große Freude über ihn zu reden, nicht so große Freude macht es, sich von 14 Schauspielerinnen, die allesamt das Gretchen verkörpern, 20 Minuten lang anschreien zu lassen- on top of their loungs-), der in der Wallace Metamorphose im Traum mündete, heute also „das Subjekt“ nicht nur aus der Ferne angeschaut. (Ja, Subjekt! Neben dem Ärger verwandelt sich auch schon vieles „gewissermaßen in Wässriges, Fernes und seltsam Gegittertes“)
Aber ich hadere mit dem Zugangscode zu diesem faserigen, knorpeligen, hyperreal schönen Kollos von einem Buch.
Bei Einar Schleef ist es ja simpel: Wenn der Zuschauer ertragen muss, wie 40 Schauspieler in Sportdress fast eine Stunde lang fünf Zeilen wiederholt skandieren und dazu eine Sportchoreographie bis zum körperlichen Zusammenbruch durchziehen, dann geht es um die Versehrtheit des Körpers. Dann geht es darum, den Schauspieler hinter der Rolle durchbrechen zu sehen, die Illusion der Rolle als absurd zu entlarven. Und es geht darum, eine Unerträglichkeit aus der Rezeption herauszulösen. Sie tatsächlich herzustellen. Die Erschöpfung des Schauspielers wird zur Erschöpfung des Zuschauers. Nur haut das bei US irgendwie nicht hin.
Aber vielleicht hilft Schleef trotzdem weiter: Der pre-schleefsche Chor verleiht dem persönlichen Schicksal eine erweiterte Dimension. Der Chor nutzt seinen Verkündungscharakter und holt die Tragödie aus ihrer Privatheit. Verfremdung statt Identifikation. Schleef geht einen Schritt weiter: Bei Schleef ist der Chor Opfer seiner selbst und führt so in die Individualität zurück.
Ich bin geneigt, den Unendlichen Spass als chorisches Stück zu lesen. Vielleicht hilft das? (Hildesheim, give me a big bear hug!)
PS against confusion wegen des sehr berechtigten Kommentares: Das soll natürlich kein Vergleich Inszenierung/Buch sein, es geht mehr um diese seltsame Meta-Identifikation mit den Figuren. Die bei US wie bei Schleef über die Schleife der Verfremdung und Ablösung aus der Individualität wieder zurückfinden zu eben dieser Meta-Individualität. Als hätte US die Evolution des chorischen Prinzips von der Antike bis Schleef irgendwie in der DNS.
Warschauer Straße. 20.15. Soviel Alkohol in der Luft. Spinner am Bahnsteig. Ennet House auf Freigang. Die S-Bahn ist wieder mal weg. Wann die nächste geht, weiß keiner. Selber leicht besäuselt. Stuart Pigott, Weinpapst der Konkurrenz, hat globales Getränk mitgebracht zum Interview. So lieb ich das. Interviewgäste, die was mitbringen. Riesling aus Michigan, von den großen Seen (schmeckte, als wäre eine Nelkenzigarette reingefallen, doll), ein korkiger Chinese, dem man sein Potenzial aber deutlich anroch noch, und zehn Jahre alten Reiswein. Werd ich redselig. Leider. Himmel.
Zurück zu Orins Sportkarriere. Das ist tatsächlich wieder eine der vielen nachgeholten Expositionen. Die man sich am besten herausschneidet, um sie hinter her in eine andere, die richtige Reihenfolge zu bringen. Aber was wär das für ein langweiliges Buch. Orins Geschichte von der ersten Verliebtheit in das SCH.M.A.Z., das schönste Mädchen aller Zeiten, in Joelle also, an. Und hat man tatsächlich schon mal das Explodieren von Verliebtheit so gelesen: „alles was in Orins Körper fest war, verwandelte sie gewissermaßen in Wässriges, Fernes und seltsam Gegittertes“. Auch schön: „Orin hatte schon einem Dutzend B. U.-Studentinnen kleine liegende Achten auf die postkoitalen Flanken gemalt.“ Und das geht so weiter: „Das Schicksal hat keinen Pager; das Schicksal schiebt sich immer im Trenchcoat aus einer Gasse und macht pssst, was man gemeinhin gar nicht hört“. Orin wird Footballspieler, besser gesagt: Punter, er ist dafür verantwortlich, das Lederei soweit wie möglich weg zu kicken. Orin verliebt sich weiter: „Und auf diese Weise fasste die einzige schlichtweg kardioplektisch romantische Beziehung in Orins Leben distanzüberwindend bilaterale Wurzeln“ – so kann mans auch sagen. Joelle wird drogenreicher. Orin bringt sie in den filmischen Dunstkreis des großen Storches. Die Folgen haben wir schon gelesen. Das letzte, was wir sehenist „Orins kinngeriemtes und plastikgerahmtes Gesicht, erstarrt und hochaufgelöst im Helm, unmittelbar vor dem Zusammenprall, herangezoomt mit einem Qualitätsobjektiv. Besonders interessant sind die Augen.“ Klinge ich tatsächlich immer begeisterter? Wahrscheinlich. Und was will dieser komische, struppige Berlinder da von mir. Muss hier weg.
Ich jedenfalls habe so in etwa eine Ahnung, wie ich mir die Marathon-Gruppenlesenächte der Militanten Grammatiker von Massachusetts vorzustellen habe. (S. 415)
Habe heute geträumt, dass der Unendliche Spass zu einer süffigen Narration wird, zu einem echten Pageturner. Meine schnöde Verzweiflung!
Aber: Himmel, war das spannend!
18.35 Uhr. Beermannstraße. Kein Getränk. Bach-Klavierkonzerte. Irgendwas muss einem ja gute Laune machen. Kurz bevor man von augenscheinlich angetrunkenen Kampfhunden zerrissen wird. Hab ich schon mal erwähnt, dass der Berliner Nahverkehr… Schon? Es ist noch schlimmer.
Zurück in Ennet House. Meinem Lieblingskuckucksnest. Das „riecht nach verstreichender Zeit“, war nur besser sein kann, als das was ich hier rieche. Um mich rum Leute, die ganz gut nach Ennet House passen würden. Und die seltsam auf meine weiße Bibel gucken. Gately erklärt, was Menschen nachts überfäll, die – wie meine Nachbarn zur Rechten und Linken irgendwann hoffentlich auch – dem D. Tr. gerade noch entkommen: „Albträume von Rückfällen und vom Highsein, vom Nichthighsein, während alle anderen annehmen, man wäre high, vom Highsein mit der Alkoholiker-Mom, die man dann mit einem Baseballschläger erschlägt.“ Man versteht die Welt einfach besser, wenn man dieses Buch gelesen hat. Zumindest die Berliner.
Gately wünscht Friede auf Erden. Dann wird wieder Tennis gespielt. DFW bringt Stockhausen als Tennis-Schläger unter, was als Vorstellung doch sehr lustig ist (Schönberg, fällt mir ein, der hat in Los Angeles immer Tennis gespielt. Gegen Gershwin. Und der musste immer verlieren, weil Schönberg so eine schlechter Verlierer war). Herrn Blumenbach verdanken wir die Erfindung eines gesellschaftlichen Ereignisses im Anschluss an sportliche Höchstleistungen: Ringelpiezeria. Spiel-Satz-Sieg Blumenbach.
Als nächstes spuckt der Zufallsgenerator die nachgeholte Geschichte von Orin Incandenza aus, die informationsgesättigt, aber nicht wirklich interessant ist, sieht man mal davon ab, dass Avril „die Moms“ Incandenza tatsächlich der Mutter DFWs abgezeichnet scheint. Avril verstrickt sich in Kämpfe mit „den Militanten Grammatikern von Massachusetts, einer universitären Bürgerinitiative, die die massenmediale Syntax kontrollierte, fischlippige Schönschwätzer von der Académie Francaise einlud, die sich mit gerolltem R über präskriptive Sprachpflege ausließen“. Wunderbar. Mehr morgen. Hab gerade nachgeblättert. Orins Sportbiografie füllt noch genau 16 Seiten. Prima. Vielleicht wird’s ja noch.
Als hätte der Roman mein Bitten im letzten Beitrag erhört, er möge allmählich die Handlung starten, geschieht genau das ab Seite 316 und setzt mit Joelle van Dynes scheiterndem Selbstmordversuch gleich einen ersten Höhepunkt.
(Mit Handlung hatte ich letzte Woche etwas ganz Romantechnisches gemeint, lieber Herr „Sinedi“ [herzlichen Dank an dieser Stelle für Ihren ausführlichen Kommentar], nämlich das Verlassen der Exposition, den Übergang zur Durchführung. Ich vergleiche das Romanschreiben manchmal mit der Entwicklung einer komplexen Spielanlage, auf der dann ein einziges Spiel gespielt wird: der Roman. 315 Seiten lang hat „Unaufhörlicher Spaß“ das Spielfeld, die Figuren mit ihren Zugmöglichkeiten und die Spielregeln vorgestellt. Das ist, gemessen am Gesamtvolumen proportional absolut vertretbar. Doch von jetzt an werden Figuren gezogen, die Spielebenen miteinander in Verbindung gesetzt: Die Radiokultmoderatorin Madame Psychosis ist Joelle von Dyne, Ex-Geliebte von Hals Bruder Orin, Akteurin in den Filmen des Vaters Jim, eventuell Anlass für seinen Selbstmord und sw. (!); es ist in erster Linie ein Was-Bisher-Geschah-Plot (sehr schön gelöst vor allem in dem von magischem Nagelknipsen begleiteten Telefongespräch zwischen Hal und Orin, geschrieben in William Gaddis – Manier), flankiert vom Alltag in den beiden komplementären Gegenwelten der Tennisakademie und der Entzugsanstalt Ennet House, und allmählich beginne ich zu begreifen, wie was zusammenhängt, sich aneinander reibt, weiterwälzen wird …)
Ich möchte aber diesmal nur über eine Stelle nachdenken, die mir sehr charakteristisch für DFW zu sein scheint (es gibt Vergleichbares auch in den Erzählungen, vor allem im großartigen letzten der „Interviews mit fiesen Männern“), nämlich die, wo Joelle, nichts als ihr Vorhaben „sich die Karte umzudekorieren“ im Kopf, diese schöne junge Frau auf der Party tanzen sieht:
„Ich hab bloß meine Titten angesehen, sagte sie und sah an sich hinab, sind sie nicht schön, und das ist so bewegend, in ihren Worten liegt eine so herzzerreißende Ehrlichkeit, dass Joelle am liebsten zu ihr gehen und ihr sagen würde, es ist und wird alles, alles gut.“
Was ist das? Es ist jedenfalls vom Autor offenbar als Auslöser angelegt dafür, dass es bei Joelle letztlich nicht klappt mit dem Umbringen. Aber warum? Die Stelle haut richtig rein in diesem dauerironischen Albtraumpanoptikum. Das ist vollkommen unironisches, existenzielles Pathos. Für Joelle scheint es sich ja, wie die kindlich gebetsartige Schlussformel nahelegt, um einen absoluten Erlösungsmoment zu handeln, in dem sich alles für einen Moment auflöst, nichtig wird, was sie in den Selbstmord treibt, nämlich diese ganze soziale Horrorshow, die DFW entwirft, mit den „chemisch rosa“ Morgendämmerungen, der Inklusion in den alltäglichen Wettkampfzyklus, wo nichts als „gespielt, gegessen, geschlafen und ausgeschieden“ wird auf der einen Seite, der Exklusion in den Dauerentzug, wo Dankbarkeit, die Bitte um Hilfe, ein Leben unter der „Obhut von Klischees“ eingeübt wird auf der anderen Seite. Das sind Stellen, wo der von Thomas Meinecke [schade, dass Du nicht mehr dabei bist!] ins Spiel gebrachte „suizidale“ Wesenszug dieser Prosa eben durchbrochen wird. (Oder nicht?) Natürlich geistern da sofort Vorstellungen von Authentizität, Unschuld und – nicht zu vergessen! – : Schönheit. (Wir Leser werden etwas später dann aufgeklärt über die vergangene große Schönheit von Joelle selber, die (sic!:) „jeden Interessenten abgeschreckt“ hat; es gibt demnach auch eine figurenmotivierte Perspektive – und eine problematische Kehrseite der Medaille.) Aber ist das wirklich alles?
Wäre es einfach die übliche romantische Ganzheits- und Identitätsnummer, dann wäre es Kitsch. Aber das ist es durchaus nicht. Es ist eher so ein Ding wie beim frühen Rainald Goetz, wo den Figuren die Sprache ausgeht in ein „Ich auch, ich auch“-Gestammel. Es zerreißt für eine Sekunde diesen neverending Film, der nirgends, nirgends zu durchbrechen ist. Allerdings, und das ist das Besondere, hat es überhaupt keinen „Ich auch“-Charakter, da ist keine Verschwisterung ist im Gang, die „Geste“ der Frau ist im Gegenteil vordergründig fast solipsistisch. Durch eine Art öffentliche Eigenliebe stellt die Verbindung zu Joelle her, durch die Schönheit der eigenen Titten, durch die Tatsache, dass sie sie schön findet und es sagt. Sie sagt „Ich“, hingegeben an diese Schönheit, und indem sie es SAGT, geht für einen Augenblick auf der anderen Seite ein Fenster auf. Es scheint also trotz allem ein kommunikativer Akt stattzufinden, der nur über die Brücke Eigenliebe – Hingabe – Schönheit – Sprechen zustande kommt und die Horrorshow durchbricht. Und das ist – in meinen Augen – die andere Perspektive in der „Zuviel Spaß“-Welt dieses Romans.
20. September
Großraum. 15.30 Uhr. Gehtsokaffeemitmilch. Und ein natürliches Vitalgetränk, das den Energiehaushalt stabilisieren und nach Mangograpefruit schmecken soll. Mein Energiehaushalt ist nicht mehr zu stabilisieren. Höchstens noch durch so was: Wieder so ein Fall in DER Zeitung, bei dem man sich an den Kopf fasst und sich die wenigen Haare sortiert bei der Frage, in welcher der vielen Realitäten man gerade herum liest. Und wenn man DFW liest, dieses Mehrweltenbuch, passiert einem das häufiger, als einem lieb sein kann. Was da im lauschigen Zweifamilienhaus am Hang passiert ist, klingt doch nach stark nach apokryphem DFW. Ein Psychotherapeut verabreicht zwölf Patienten einen Cocktail aus LSD und Pilzen und noch ein paar anderen merkwürdigen Drogen, die sich wahrscheinlich alle im nicht vorhandenen Inhaltsstoffverzeichnis des US fänden. Zum Zwecke der Bewusstseinserweiterung. Therapieerfolg: Zwei Tote Der Mann arbeitete mit tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie, psycholytischer Psychotherapie, Körper- und Gestalttherapie und half bei spirituellen Krisen. Spirituelle Krise? Hat die nicht jeder, egal.
Die Leute, die sich da im Zeichen der Kirschblüte behandeln ließen, die kennen wir inzwischen auch alle, die bis hierher US erprobt sind. Und schwuppdiwupp kaum hat mans haarsortierend in DER Zeitung gelesen, sitzt, oder besser: liegt man mit Gately (dem Bockzumgärtnerbetreuer und Genialeinbrecher) auf der Couch von Ennet House und um einen herum sitzenliegen und sticken und reden genau die Typen, die, denken wir uns, auch in Hermsdorf herumsaßen und -lagen. Wieder ein grandioser Höhepunkt. Ein neuer Plotplanet ist zu besichtigen. Geoffrey Day heißt er hat mal „Killefitt wie soziale Historizität oder historische Sozialität“ gelehrt (wollen wir wissen, was das ist? Nee. Hab übrigens gerade ein Interview mit Slavoj Zizek eingerichtet, soviele Socken kann er gar nicht haben, wie er Schüsse hat. Unglaublich, der Mann, furchtbar). Dann hat er zuviel eingeworfen, kann sich nicht mehr an alles erinnern und glaubt nun in Ennet House seine Bestimmung gefunden zu haben. „Mit 46 Jahren habe ich es hier dann also gelernt, nach Klischees zu leben.“ Weil das einfacher ist als das Leben in langen Sätzen, lebt er nach „Nimm’s leicht. Reif oder Kneif, Mut ist Angst, die beten gelernt hat.“ Was mach ich eigentlich, wenn dieses Buch zu Ende ist. Doch von vorne anfangen. Denn dieser Typen werden nicht alle. Entweder hat DFW eine geradezu halluzinogene Figurenfantasie oder diese Typen wie Gately oder Day oder die große Charlotte Treat oder der handundfußlose Burt F. Smith, einem ehemaligen Katholiken, dessen Frau die Ehe annullieren ließ, weswegen er zum Fremdenheimsäufer herunterkam, als welcher er – zusammengeschlagen und im Schnee liegen gelassen – dann Hände und Füße an die Kälte verlor.
Eigentlich müsste man, in Krimis sieht man das ja immer, eine Wand zu Hause frei räumen, die Figuren und ihre Geschichten aufschreiben und sie zu einem großen Diagramm aufhängen. Andererseits: KiWi könnte das auch machen. Ein Plakat zum runterladen mit der gesamten Personage.
14.20. Am Wasser. Birkenblätter summseln herum. Wind geht. Der allerallerletzte Sommertag. Tee mit Milch. Möwengeschrei. Gestern ist es passiert. Der Mann mit dem Hammer ist gekommen und hat mir erst das Buch aus der Hand und mich dann in den Schlaf geschlagen. Das kommt davon, wenn man im Bett liest. Muss ich irgendwann nachholen die 16 Seiten. Gegen den Mann mit dem Hammer kamen auch Hal und Orin nicht an. Obwohl die ziemlich muskuliert und tennisschlägerbewehrt sind.
Muss noch was nachholen, für das sich die Lektüre des Originals lohnt. Hal bereitet sich durch massive Lektüre auf seine Trauertherapie vor und liest unter anderem Elizsabeth Harper Neelds’ „Sieben Wahlen“, was „eine 352 Seiten lange Anrufung der großen Zähren war“. Herrlich. Hat Blumenbach wahrscheinlich erfunden. Ganz toll.
So geht’s auch weiter immer tiefer in den Tag, als Hal seinen Vater kopfüber in der Mikrowelle fand. Und wie ers empfand. Und was er roch (wird hier nicht verraten). Und wie er die Trauertherapie zum Explodieren brachte. Und dann knipst er wieder Fußnägel und hält „mit furchterregend konzentrierter Miene den Hörer neben den Fuß“. Mahlzeit.
Getreu der alten DFWUS-Fieberkurve müsste uns nach diesem Höhepunkt der internationalen Dialogkunst ein Hängerchen präsentiert werden.
Es geht um Tennis. Die E. T. A. spielt gegen Washington. DFW erklärt alles. Auch was wir nun so richtig gar nicht wissen wollten. Aber nicht eindämmern wieder. Da schwimmen wieder Nuggets auf der trüben Brühe, die können gar nicht schwimmen. Nennen wirs Goldstaub. Beschreibungen wie: „Durch das weiße Halogenlicht, reflektiert vom Grün des Verbundbelag, hat das Licht draußen auf den Hallencourts … die Farbe saurer Äpfel.“ Und die Spieler bekommen „einen reptiloiden Teint, eine Art Seekrankheitsblässe“. DFW nennt den schrecklichen Augenbrauenausreißer Ivan Lendl „bregenklüterig“ (Danke Herr Blumenbach für dieses Wort) und für tot – Selbstmord. Pemulis taucht wieder auf, „tief unten in der Privathölle seiner nervositätsbedingten Prä-Spiel-Übelkeit“. Wir wissen, das Tennisschläger nicht Rackets, sondern Stöcke heißen. Und Schacht bekommt es mit einem frankokanadischen Gegner zu tun, der hat „mit achtzehn einen so weit zurückgewichenen Haaransatz, dass er garantiert Haare auf dem Rücken hat“. So bekommt sogar der Bericht aus der Tennisakademie eine erhebliche Leichtigkeit. Wir dämmern weiter dem Ende dieses Teils entgegen.
Keiner am Strand macht den Eindruck, jemanden enthaupten zu wollen. Scandlines ist auf dem Weg übers Binnenmeer: Die Heckklappen sind noch offen. Der Strandkorb kostet drei Euro in der Stunde und muss nach Benutzung in die Ausgangsposition geschoben werden. Die Sonne gähnt schon früh am Nachmittag. Die Familie vor mir stellt sich zu einer dreistufigen Pyramide auf, außer der Mutter, die alles im Bild festhält. Das twittert dann durchs All für alle.
Ich habe die Vorstellung, es könnten gleich Blutfontänen aus der Lachmöwe spritzen, die zwischen der Familie und mir im Sand stolziert und eklig groß ist. Poor Rony Krause auf Entzug zwingt mich zu solchen Gedanken.
Ich dachte auf dem Weg nach Warnemünde, im Standkorb gelänge es mir, einsdreifix auf S. 500 zuzuschreiten, aber dann kommt Anmerkung 110 und ich bleibe auf S. 448 kleben.
Während Hal seinem verliebten Bruder Orin Nachhilfe in Separatismus gibt, fällt mir das Gespräch mit T. vom Vortag ein, in dem es auch um nationale Eigenständigkeit ging. T., aus den baltischen Wäldern angereist, ist einer der intelligentesten Menschen, die ich kenne. Das Nachwendepersonal an den ostdeutschen Unis konnte das nicht ertragen, das Baltikum schon.
T. kennt sich aus mit dem Selbstbewusstsein kleiner Völker, vor allem im Ostseeraum, die jahrhundertelang von großen Nationen beherrscht wurden und mühsam ihre Sprache wiederfinden mussten. Mündlich überlieferte Volksdichtungen wurden gesammelt und zu Nationalepen zusammengesetzt, interessanterweise arbeiteten mehrere dieser Textsammler als Landärzte, vielleicht weil sie soviel herumkamen auf den Dörfern. Die finnische Kalevala hat Elias Lönnrot aus Tausenden vor allem in Karelien gesammelten Liedern, Sagen und Zaubersprüchen zu epischer Einheit zusammengekittet. Um zum Epos geadelt zu werden, bedurfte es aber des Zuspruchs von Jacob Grimm, der durch die Sammlung der Kinder und Hausmärchen als Experte galt, weit über die deutschen Grenzen hinaus. Auch das estnische Epos Kalevipoeg und das lettische Lacplesis mit seinen bärenstarken Haupthelden haben eine ähnliche Entstehungsgeschichte. Haben die Separatisten von Quebec nicht wenigstens eine Hymne?
Als ich gegen Abend den Strand verlasse, steht die fette Lachmöwe auf dem Dach von Strandkorb 117, unblutig, aber unbeweglich, als sei sie aus einem dieser Kunstgewerbeläden, die es hier überall auf den Strandpromenaden gibt.
Danach bin ich nicht mehr dazu gekommen, weiterzulesen, sieht man mal von den zwei Seiten vor dem Einschlafen ab, die ich am nächsten Abend noch einmal lesen muss, weil ich alles vergessen habe. Ein ewiges Verweilen auf Seite 468.
1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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