1. Oktober

2. Oktober 2009 |

23.30. Es ist Nacht über Offenburg. Spätburgunder, alle AAs vom US mögen mir verzeihen. Rameaus imaginäre Sinfonie klopft mit Mark Minkowski an HammerAmbosSteigbügel wie das Böse. Ist auch seiner Zeit voraus. Unterwegs nach hier Richard Powers gelesen. „Das größere Glück“. Unter den 100 Romanen, die ohne US anders ausgesehen haben, nimmt das auch einen Spitzenplatz ein. Liest sich manchmal wie eine ins Helle und in die Genomforschung gedrehte Variation.
Wir sind jetzt wieder bei der Geschichtenblase, die sich in Form von Gatelys AA-Truppe gebildet hat. Sie sitzen da alle rum, die Mühseligen und Beladenen, die Müden und Betrunkenen, von denen US so voll ist. Erdedy (der mit dem Insekt im CD-Regal), Ms Gompert und Madame Psychosis, Joelle hat überlebt. Jetzt sitzt sie da wie vom Gott der Droge in den Stuhl gekotzt und Gately wundert sich.
Wir erfahren, dass der menschliche Wille, der eigene Wille, ein durchaus zweischneidiges Schwert ist, wenn man Alkoholiker ist, kann man sich, gibt man ihn nicht auf wenigstens zwischenzeitlich, mit ihm prima den Kopf abhacken, respektive die Karte umdekorieren. Und macht man die Augen zu, bekommt man Träume, die möcht man ja nicht haben. Epiphanische, tödliche, erschreckende. Von teuflischen AA-Diziplinaria. Und was die mit einem machen.
Warum die Frauen auch im US gern verschleiert sind, versteh ich noch nicht. Bin aber nicht allein damit, weiß Gately an meiner Seite: „Die L.A. R. V. E.- und Schleier-Philosophie ist Gately schon ein paarmal en passant erklärt worden, aber so ganz schnallt er sie bis heute nicht und findet immer noch, dass der Schleier eine Geste der Scham und des Verbergens ist.“ Irgendwas Religiöses? Der Dschihad mit der tödlichen Patrone?
Apropo Religion: Von Wunder ist viel die Rede. Von Demut. Von der Gnade Gottes. Von Epiphanie. Die Heilige Kirche von der Abwesenheit des Alkohols. Joelle erzählt was von den Andachtsorten ihrer Heimat, die „oft Aluminiumtrailer oder Sperrholzschuppen seien und wo die Kirchgänger während der Gottesdienste oft mit Kupferköpfen spielten, zu Ehren irgendeines Zusammenhangs von Schlangen und Zungen“.
Macht Gott eigentlich auch so mit bei den AAs in Deutschland. Und macht der nicht auch abhängig. Wenigstens hat es kaum körperliche Folgen, sieht man mal von der Hornhaut auf den Knien ab.

Eine Klage

2. Oktober 2009 |

Das Essen beim Thai gegenüber total versalzen. Auch den Teller in den ungemein trostlosen Nieselregen zu halten, hilft da nicht weiter. Der Kaffee ist alle und ein Blick ins Portemonnaie legt einen Gang zur Bank nahe. Die letzten Münzen waren für das indiskutable Mahl bestimmt. Aber ich mag das Haus nicht mehr verlassen. Irgendwie scheint sogar der Regen jetzt versalzen zu sein. Zudem müsste ich stehlen, da die Bank in schier undenkbarer Entfernung liegt.
Zudem liegt das eigene Schreibprojekt brach, völlig festgefahren zwischen ursprünglicher Idee und einer beherzten Revolte der Figuren. L schreibt: “Stuck sounds good, means you’ll come out the other side more muscular.” Die rührende Unbeschwertheit der Angelsachsen!
Auf dem Küchentisch türmen sich ungelesene Zeitungen, unter meinem Schreibtisch ungelesene Manuskripte. Aber die wirkliche Tristesse manifestiert sich an den Himbeeren, die ich vor kurzem noch in sommerlicher Unerschrockenheit gefroren in meinen Joghurt rührte und die jetzt erhitzt werden müssen. In der Mikrowelle. In der Mikrowelle, die ich nach der Lektüre des Todes von IHM SELBST eigentlich mit einem Absperrband versehen möchte. Und das alle mein Siechtum für Raucherhusten halten.
Der Mitbewohner schlägt einen Ausflug ins Schwimmbad vor: Sind denn alle verrückt geworden?
Und nein: Ich möchte mich heute nicht auch noch mit DFW beschäftigen. NEIN!

Vierter Bericht von irgendwo auf dem Fünfhunderter-Streckenabschnitt. Zwei Anmerkungen noch zur Etappe davor:
1. Die Schilderung der Geburt und Kindheit von Hals schwerstbehindertem Bruder Mario scheint mir Topoi einer Messias-Legende zu enthalten (die „unbemerkte Schwangerschaft“, die heimliche Bewunderung Hals für Marios menschliche Überlegenheit, den er „insgeheim vergöttert“, die Vermutung , die Mutter „Avril könne Mario für das eigentliche Wunderkind halten“ (auch wenn (oder gerade weil!) der Erzähler abschwächt mit dem in Klammern stehenden Hinweis, Hal bekunde „damit verblüffend wenig Einsicht in die Psyche der Moms“). Messias- oder Jesus-Topoi gibt es in der jüngeren Literaturgeschichte etwa bei Camus in „Der erste Mensch“, auch die Figur des behinderten, zurückgebliebenen, beschädigten als des besseren (menschlicheren) Menschen kommt recht häufig vor, aber ich glaube nirgends in dieser überzeichneten, halb ironischen, halb pathetischen Form (Ironie, die sich überschlägt, bis sie das Klischee zerreißt?). Wie viel Romantik (siehe unten in: „There’s no off-switch…“), wie viel „Endspiel“ und Poststrukturalismus wüten da noch? (Oder wüten sie nur scheinbar?) (Und was soll ich davon halten?: Die Frage bleibt bis auf weiteres offen … )
2. Zum ersten Mal bin ich bei der Lektüre in echte Begeisterung geraten. Und zwar auf den Seiten 458 bis 463. Marathe spricht über den Unterschied zwischen der amerikanischen Unterhaltungs-O.N.A.N.-Freiheit („Eure Freiheit ist die Freiheit VON“) und einer „Freiheit FÜR“, die ins Utopische verrückt ist. Das hat mich beschäftigt. Nicht nur, weil ich exakt dieselbe Unterscheidung vor zehn Jahren in einer schriftlichen Diskussion mit Georg M. Oswald (in „Akzente“ 2/1999) über die zunehmende Marktförmigkeit des Kulturbetriebs getroffen habe (Stichwort: Koinzidenzen). Sondern weil der Gedanke bei DFW ins Metaphysische weitergeführt wird: Die Lust/der Appetit als Glaubensinhalt, als einziger Sinn-Horizont, für den man zu sterben bereit ist. „Irgendwer hat eure Völker vergessen lassen, dass das das einzige wichtige Ding ist, Wählen.“ Nämlich die Freiheit zur Wahl eines anderen „Tempels“ als dem des Appetits, des unendlichen Spaßes. Der Terror der tödlichen Unterhaltungspatrone, „so schön, dass sie jeden Betrachter umbringt“, ist nach dieser Zustandsbeschreibung einer von Unterhaltung dominierten Gesellschaft nur eine Vorwegnahme. „Der genaue Zeitpunkt vom Tod und die Methode vom Tod, das spielt keine Rolle mehr. Nicht für eure Völker. Du willst sie beschützen? Aber du kannst es nur aufschieben. Nicht retten. Die Unterhaltung existiert.“ (Und auch die Frage nach der Wahl eines anderen „Tempels“, nach der Freiheit FÜR WAS bleibt bis auf weiteres offen, nicht nur im Buch …..)

.. .. ..

1. Oktober 2009 |

kara045
Das ist der hochtalentierte serbische Tischtennisspieler Aleksandar Karakasevic. „Je mehr Kara trainiert, desto schlechter wird er“, so der Manager des SV Plüderhausen Geritt Albrecht.. Sein Körper reagiert allergisch auf härteres Training .. „Wenn Aleksandar Karakasevic gefragt wird, wie groß der Einfluss seines Vaters auf seine Karriere war, dann sagt er: Zero. .. Sein Vater belegte lange Jahre Ranglistenplätze um 10 .. und war sogar für eine gewisse Zeit Nationaltrainer seines Sohnes .. Diese Konstellation erwies sich als verheerend .. für das gesamte serbische Tischtennis .. Nach jedem spektakulären Schlag .. blickte der Spieler provozierend zum Nationaltrainer .. als wolle er sagen: „So einen Ball kannst du nie spielen, und wenn du 24 Stunden am Tag trainierst.“ .. Appelle nutzlos .. Strenge, Nachsicht desgleichen … Der Sohn unterhöhlte die väterliche Autorität, bis Milivoj Karakasevic schließlich als Nationaltrainer zurücktrat.“ (Aus: Allergisch gegen Training, verrückt nach Süßigkeiten, von Peter Hess, FAZ, 19.09.2009)

Monika Rinck, geboren 1969 in Zweibrücken, Studium der Religionswissenschaft, Geschichte und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Bochum, Berlin und Yale, lebt als Autorin in Berlin. Jüngst bei kookbooks erschienen: „HELLE VERWIRRUNG/Rincks Ding- und Tierleben · Gedichte/Texte und Zeichnungen“

DFW – life!

1. Oktober 2009 |

Durch allerlei Reisen und damit verbundene Abhaltungen bedingte Lesepausen, zweimal sogar von mehr als einer Woche, haben zwar nicht zum Zeitrückstand (das Ding liest sich ja auffallend leicht), aber zu einer gewichtigen Erkenntnis geführt: Keinerlei Entzugserscheinungen! Man kann den US also lesen, und man kann es ebenso gut auch lassen. (Das gilt jedenfalls für mich und ist auch ein bisschen enttäuschend.)

Ohnehin ist nach dem Alban-Nikolai-Herbst-Beitrag vom 09. September, der sehr weitgehend mein eigenes Leseerleben wiedergibt, zu diesem Thema nicht mehr allzu viel zu sagen. (Wobei ich es noch immer als exzeptionellen Luxus empfinde, dass die abendliche Lektüre, wenn der Tag mit seinen Aufgeregtheiten praktisch vorbei ist, über den egozentrischen Mehr-oder-minder-Genuss hinaus einen besonderen zusätzlichen Sinn bekommt – dadurch, dass man sich in einer gemeinsam lesenden, reflektierenden, von einem Rahmen gehaltenen, wenn auch unsichtbaren, virtuellen Gruppe fühlt.)

Die in den Blog-Beiträgen (da längere Zeit offline, konnte ich sie sie nicht kontinuierlich lesen, sondern habe sie jetzt in toto konsumiert – wobei mich manche Beiträge an die von DFW ironisch zitierte „Mode“ erinnerten, „Kunst aus den Accessoires künstlerischer Inszenierung zu erschaffen“, S. 331), die in einigen Beiträgen also immer wieder auftauchende Frage, ob Erzählweise und Struktur im US wohl durchdachter Planung und kunstvollem Kalkül folgen oder einfach nur, einem Naturereignis gleich, „geschehen“, mag durch ein in der Zeitschrift „The Onion“ Anfang 2003 erschienenes Interview mit Claire Thompson spotlightartig beleuchtet werden. (Claire Thompson, jugendliche Professorin für politische Wissenschaften – und nicht zu verwechseln mit der Titelfigur aus DFWs bitterer Erzählung „The View from Mrs. Thompson´s“ aus dem gleichen Jahr –, war seit Anfang 2001 für zwei Jahre DFWs Partnerin, bevor er Karen Green heiratete.)

Das Interview ist vor allem deshalb aufschlussreich, weil es fünf Jahre vor seinem Tod und der danach folgenden nahezu sakralen Bewunderung und Glorifizierung publiziert wurde, und soll hier für jene, die es noch nicht kennen, zusammengefasst (und mit meinen eigenen Worten) erwähnt werden.

Bei Rückkehr von einer Reise hatte DFW Claire Thompson einen dicken, verschlossenen Briefumschlag mit den Worten überreicht, er habe unterwegs über einiges nachgedacht und wolle sein Leben auf ganz andere Weise neu beginnen. Der Inhalt des Briefes werde ihr alles erklären. Thompson berichtet, sie habe den Umschlag zunächst gar nicht geöffnet, da sie gedacht habe, es sei wieder einmal eine seiner ausgedehnten Abhandlungen – über die Gründe zum Beispiel („was weiß ich“), weshalb er künftig keinen industriell verarbeiteten Zucker mehr essen wolle oder weshalb er das Fernsehgerät hinausgeworfen habe. Oder so etwas wie die in 88 durchnummerierten Punkten gegebene Erläuterung, weshalb er keine Geburtstagsparty wünsche. Oder aber etwa wie der Brief, in dem er erklärt hatte, weshalb er künftig „Dave“ genannt werden wolle, mit einer über viele Seiten reichenden Aufzählung aller Personen namens Dave und David, denen er in seinem bisherigen Leben jemals begegnet war.

Erst als DFW sie zwei Tage später angerufen und nachgefragt hatte, was sie über den Brief denke, habe sie den Umschlag geöffnet, sich hingesetzt und die ersten 20 von insgesamt 67 Seiten mit dem Titel „Breakup Letter For Claire – Rough Draft“ gelesen.

An DFWs Texten habe sie es immer als ärgerlich empfunden, dass man sich bis zur Mitte durchlesen müsse, bis man verstehe, wovon auf der ersten Seite überhaupt die Rede ist. So sei in diesem Brief von einem „Der Schwätzer“ genannten Menschen die Rede gewesen, bis sie endlich auf Seite 11 verstanden habe, dass ihr Freund Renée damit gemeint gewesen sei, sodass sie alles noch einmal von vorn habe lesen müssen. Und dann die vielen Fußnoten, selbst in seinen Liebesbriefen! Ihrer Meinung habe er da übertrieben.

Nach 20 Seiten habe sie die Lektüre des Briefes schließlich unterbrochen, um das Abendessen zu machen, und jenen am anderen Morgen in einer Schublade verstaut – wo er (zum Zeitpunkt des Interviews) noch immer liege. Möglicherweise werde sie sich den Rest noch einmal vornehmen. In gewisser Weise sei sie schon neugierig, wie das Ganze ausgeht. Aber dann wieder – sie kenne ja ihren David – „it probably just leaves a whole bunch of loose ends untied“ (m.a.W.: möglicherweise bleibt ein ganzes Bündel loser Enden im Raum stehen).

outofoffice

1. Oktober 2009 |

Poor Tony steht auf dem Bahnsteig, nachdem er sich tagelang in der Bibliothekstoilette seinen Ausscheidungen gewidmet hat, der Heroinentzug geht nun dem völligen Auslöschen jeder Würde entgegen, um den Hut hat er einen Schal aus Papiertaschentüchern gewunden und als dann doch weitere Ausscheidungen seine Elefantenhosen hinunterrinnen, stößt er „einen lautlosen inneren Schrei seelverbrühten Wehs aus“ und flüchtet in die U-Bahn. Warum um alles in der Welt gerade in die U-Bahn? In diesem Schnellkochtopf aller Beklemmungen, während alle Passanten von ihm abrücken, weint er „leise vor Scham und Schmerz beim Vergehen jeder hell erleuchteten öffentlichen Sekundenkante„ und spürt „wie jede einzelne Sekunde ihm einen Schnitt zufügte“ Da fragt man sich doch, ob man bisher überhaupt eine ungefähre Vorstellung davon hatte, was Scham wirklich bedeutet. Nur die Scharfkantigkeit von Sekunden in öffentlichen Verkehrsmitteln, ja die kennt man wohl genau. Und daher würde man sich in höchster Not ja eben nicht in die U-Bahn begeben. Das ist ja, als würde man nach einem Ausbruch von Schuppenflechte im Gesicht, nur noch mit einem Vergrößerungsglas durch die Straßen laufen, damit es auch niemand übersieht.
Ich flüchte in die Fußnote 110. Endlich 110. Das Antwortformular Orins, dieses beißend schöne Formblatt auf den so geschwätzigen, wie befangenen Brief von Avril möchte man sich doch direkt als outofofficereply kopieren.

US

1. Oktober 2009 |

Wie weit sind wir im Text? Komme grad aus dem Urlaub (nur Terézia Mora und Ralf Bönt gelesen und ansonsten mal um den Rest des Lebens gekümmert; so ist die Welt in Ordnung!) und lese mich rein in die hier inzwischen versammelten Beiträge. Alban Nikolai Herbst kürzt Unendlicher Spaß lieber zu UF ab, wahrscheinlich assoziiert er Unending Fun, oder doch Uff? Bei US muss man sofort daran denken, dass dieses Buch so unglaublich amerikanisch ist. Mich tröstet das; es rückt die erdrückende Wahrheit von Wallaces Einsichten ein bißchen von mir und meiner Realität ab. Schließlich könnte man sofort in suizidale Depressionen fallen, wenn man diesen Text wirklich an sich ranlässt. Es ist mir ein Rätsel, wie Ulrich Blumenbach (UB) stabil über die lange Arbeitsphase gekommen ist. Hätte man Infinite Jest auch anders übersetzen können? Immerhin ein Shakespeare-Zitat. Scherz ohn Ende?

Ulrike Sárkány, geb. 1954 in Bad Harzburg, Studium Anglistik/Germanistik in Braunschweig, Amherst und Freiburg i.Br., beim Deutschsprachigen Dienst der BBC in London das Radiohandwerk gelernt, ab 1990 beim Kulturellen Wort des NDR in Hannover. Literaturredakteurin.

29. September

1. Oktober 2009 |

18.20. U-Bahn unterm Mehringdamm. Maria Joao Pires spielt Chopins Nocturnes. Oben ist es schon dunkel. Der Dicke ist tatsächlich zurück. Allerdings in seiner Bonbonvariante. Siegmar Gabriel, ein Popbeauftragter als SPD-Vorsitzender. Das ist wie erfunden. Gegenüber eine wie in Stein gemeißelte Muslima mit Hiphop in Jericholautstärke auf den Ohren. Wenn jemand noch Nachrichten braucht von der hemmungslosen Verderbtheit des Westens, ich hab hier die Bibel in der Hand.
Wir sind bei den Anonymen Alkoholikern von Boston. Und wir sind da wieder ziemlich lang. Scheints nur so, oder werden die Abschnitte länger. Fünfzig Seiten bei Gately und den AAs. AAs – alles was man wissen muss. Wie sie funktionieren, wie die Gruppen heißen, wie oft sie sich treffen. Was es zu trinken gibt. Wieviel Identifikation es braucht. Wie der Weg ist vom Spaß in den Abgrund. Quergeschaltet in das Geständnis eines Alkis. Ein minutiöser Bericht vom Abstieg.
Immer wieder tolle Theorien. Über ältere Männer zum Beispiel: Der Hintern wird in den Körper gesaugt und vorn als Plauze ausgestülpt.
Die Droge wird vom Problemlöser und zum bodenlosen Problem. Und dann kommt der Sog. Dann kommen die körperlichen Folgen. Dann sitzt man in der Patsche. Dann siehst Du das Gesicht Deiner finstersten Alpträume im Spiegel und das Gesicht ist Dein Gesicht. Und das Absolut Böse in Dir zieht Dich zum Abgrund. Und Dir bleiben genau zwei Möglichkeiten: Deine Karten umdekorieren, sprich: springen. Oder in die harten Arme der harten trockenen Trinker.
Das kann man prima drucken bei den AAs um die Ecke. Das ist so finster wie überzeugend. Weg mit der internationalen Massenbierhaltung. Dann dreht Herr Blumenbach völlig durch. Ein AA erzählt von Gott und seiner Alkoholepiphanie im besten Schwyzerdütsch (könnte Baslerisch sein, das vermute ich aber nur weil Blumenbach da wohnt). Auch hübsch.
Und dann kommen noch ein paar Krankheiten, die man sich einhandelt durch fortgesetzten C2H5OH-Abusus. Vielleicht lass ich heute abend doch den Rotwein weg.

Smileys und Zähne

1. Oktober 2009 |

Ein Kollege, der diesen Blog hier gelesen hat, hat mich neulich gefragt: Warum nimmst du diesen Roman so ernst? Ich habe ein wenig über diese Frage nachdenken müssen. Aber die Antwort ist ganz einfach: Weil man ihn ernst nehmen kann. Man kann sich tatsächlich jedes einzelne Detail ansehen und wird entdecken, dass es nicht grundlos drinsteckt. Man kann mindestens drei- bis vierdimensionale Querverbindungen anstellen und Geheimnissen auf den Grund gehen. An wie vielen zeitgenössischen Romanen kann man sich schon derart die Zähne ausbeißen?

Vielleicht mag sich ja der eine oder andere gemeinsam mit mir an einem der folgenden Probleme die Zähne beschädigen.

1.) Der Weg des Samizdat/US(V)
Hier ist zuerst mal meine Theorie. In der Mitte des Buches fällt die Unterhaltung, die Master-Patrone von Unendlicher Spaß (V), in die Hände der A.F.R. Sie brechen bei den Brüdern Antitoi ein, bringen beide um und suchen nach der Patrone. Wie sind sie darauf gekommen? Don Gately (siehe S. 80ff) bestiehlt und tötet Guillaume DuPlessis, den Chef der A.F.R., anschließend gelangen die gestohlenen Patronen über Gatelys unfähigen Kumpel Trent Kite an 60er-Bob (S. 1331), den auf S. 696 beschriebenen „Langhaarigen in einer türkisch gemusterten Mütze mit einem auf den Schirm gestickten geigespielenden Skelett, der zudem ein hyperdämliches Drahtbrillchen mit kreisrunden lachsfarbenen Gläsern trug, mit den Fingern ständig den Buchstaben V bildete (…)“, der sie den Brüdern Antitoi bringt.
Meine Frage: Wie kam M. Guillaume DuPlessis überhaupt an die Master-Patrone heran, wenn sie doch, wie schon an einer anderen Stelle des Buches (und dieses Blogs) erwähnt wurde, mit dem Kopf ihres Schöpfers begraben wurde? Hat Don Gately sie zusammen mit Hal ausgebuddelt, so wie er es in seinem Traum vorhersieht?

2.) DMZ vs. US(V).
Auf den Zusammenhang zwischen DMZ und dem Film US(V) ist ja schon mehrmals hingewiesen worden. Es ist vielleicht eine etwas merkwürdige Theorie, aber ich denke, dass die Wirkung dieser beiden Dinge genau entgegengesetzt ist. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass Michael Pemulis’ DMZ-Kauf ebenfalls bei den Brüder Antitoi erfolgt. Warum bekommt er es ausgerechnet von ihnen? Ist doch ein merkwürdiger Zufall, dass beides, die Master-Patrone der Unterhaltung und auch das DMZ, dessen Wirkung Hal gegen Ende des Buches (bzw. gegen Ende seiner Zeit auf der E.T.A.) noch zum Verhängnis werden wird, bei den Brüdern Antitoi zu holen ist/war. Falls Hal den Film US (V) tatsächlich irgendwann gesehen hat, hat er ihn nach seinem DMZ-Erlebnis gesehen. Auf. S. 309, im Gespräch zw. Michael Pemulis, Hal und Axford, wird ein Soldat erwähnt, dessen Verstand nach Einnahme von DMZ „fahnenflüchtig“ geworden sei: „Im Moment wird behauptet, der Typ wäre später in einem unmöglichen Lotussitz in seiner Army-Zelle gefunden worden, wo er mit schaurig originaltreuer Ethel-Merman-Stimme Musicalsongs gesungen hat.“ (ganz nebenbei, könnte das nicht Lyle sein?) In Fußnote 301 erwähnt Hal einen DMZ-Albtraum, in dem er Ethel-Merman-Songs singt, innerlich aber schreit: „Hilfe! Ich schreie um Hilfe, und alle tun so, als würe ich Ethel-Merman-Songs covern! Ich bin’s, und ich schreie um Hilfe!“ Vielleicht ist das die Wirkung von DMZ: äußerliche Eleganz, Ruhe, Normalität, (Kleist’sche) Unschuld, verbunden mit inneren Höllenqualen. Im ersten Kapitel des Romans, das nach Hals Aufenthalt in der E.T.A. spielt, hat er möglicherweise schon den Film gesehen. Und sein Verhalten ist ganz anders: Er ist äußerlich wie ein wildes Tier, aber innerlich ruhig, eloquent, entspannt. „Ich bin hier drin.“ Meine Theorie wäre, dass der Film US(V) ihn gerettet, also quasi sein Bewusstsein wie einen Handschuh umgestülpt hat.

3.) Das Smiley-Gesicht
Wer hat die Patrone an den medizinischen Attaché geschickt? Die A.F.R. können es nicht gewesen sein, da in einem der erste Gespräche zwischen Steeply und Marathe ja genau diese Frage von Marathe gestellt wird. Besonders merkwürdig daran: die Aufschrift „Happy Anniversary“ (vielleicht ist ja „Happy Birthday“ gemeint, aber der Absender war Québecer und dachte an „Bon Anniversaire“…) und das Smiley-Gesicht auf dem Umschlag, in dem ihm die Unterhaltungspatrone zugestellt wird. Was bedeutet das Smiley? Der Anführer der A.F.R., die bei den Brüdern Antitoi einbrechen und beide umbringen (besonders grausam: der cartoon-artige Tod von Lucien Antitoi), trägt ebenfalls eine Smiley-Maske. Ein weiteres Smiley-Gesicht begegnet uns bei der Allegorie der Krankheit, die Don Gately im Traum sieht. Gatelys Träume haben für die ganze Struktur des Buches, wie man gerade gegen Ende in den Krankenzimmerszenen sieht, eine wichtige Leitfunktion. Aber auch er selbst trägt einmal eine lächelnde Clownsmaske, und zwar bei seinem Einbruch bei Guillaume DuPlessis. Ein merkwürdig im Kreis herumgereichtes Symbol, dieses Smiley…

4.) Gott und der Stein
Hals Vater JOI erzählt im höchst merkwürdigen Matratzen-Kapitel (S. 709-726), dass er beim Anblick seines Blut erbrechenden und schließlich auf einem nackten Matratzengestell das Bewusstsein verlierenden Vaters kaum etwas empfunden hätte, dann in sein Zimmer gegangen und vom Anblick eines auf dem Boden herumkullernden Schranktürknaufs zur Annularfusion inspiriert worden sei. Nicht gerade die nachvollziehbarste Reaktion eines Sohnes auf einen medizinischen Notfall seines Vaters. JOI und Hal leiden beide an einem Indifferenz-Problem, das sie aber – möglicherweise – beide irgendwie gegen US (V) immun macht. Denn es stellt sich doch die Frage: Warum sollte JOI seinen eigenen Film unbeschadet überstanden haben? Er muss ihn auf jeden Fall gesehen haben. Wenn seine Wirkung durch – wie es im Gespräch zwischen Steeply und Marathe auf S. 709 heißt – „Reiz und Dichte“ entsteht, müsste sein Gehirn doch ebenfalls empfänglich dafür gewesen sein. Kann ein Filmemacher überhaupt eine Szenenfolge denken, die eine derartige Wirkung auf ihn selbst hätte. Würde er nicht in einer Endlosschleife in seinem eigenen Gehirn feststecken? Diese Frage erinnert ein wenig an die berühmte Frage: Kann Gott, der allmächtig ist, einen Stein erschaffen, der so schwer ist, dass er ihn selbst nicht heben kann…

Meine Zähne waren diesen Problemen/Fragestellungen bisher nicht ganz gewachsen.

„Hal Incandenza hatte diesen furchtbaren, neuerdings öfter auftretenden Traum, wo er die Zähne verlor, wo seine Zähne aus Schiefer waren und splitterten, wenn er kauen wollte, sich auflösten und im Mund zu Grus verwitterten.“ (S. 649)

Clemens Setz, geb. 1982, lebt in Graz. Schriftsteller, Übersetzer, Obertonsänger. Romane: „Söhne und Planeten“ (2007), „Die Frequenzen“ (2009). Übersetzungen: John Leake, „Der Mann aus dem Fegefeuer. Das Doppelleben des Jack Unterweger“ (2008).

Pula Free Air

30. September 2009 |

Die Frage ist, ob es Eintrittskarten geben wird. Für uns, für die BlogschreiberInnen. Die Veranstaltung ist nämlich schon ausverkauft; Herr Blumenbach wird mit Harald Schmidt aus dem Buch vorlesen, in knapp zwei Wochen, Volksbühne Berlin.
Derzeit sitze ich noch in Pula auf dem Forum, hier gibt es Pula Free Air, heißt, freies Wlan für alle. Am Amtshaus, einem durch die Jahrhunderte, gar Jahrtausende gekommenen Gebäude, hängen fünf Fahnen. Die Fahne der Stadt hängt etwas einsam in der Mitte, flankiert von rechts den regionalen und links den überregionalen Fahnen. Die italienische, die seit dreieinhalb Jahren hier hängt, da die italienische Minderheit seitdem einen Status der Anerkennung innehat, schmiegt sich auffallend häufig an die Fahne der EU, die hier prospektiv und ganz rechts außen hängt. Die istrische, zweite von links, weist einen Ziegenbock auf, die kroatische, ganz links, ebenso.
Ich schleppe also das Buch mit und denke manchmal leicht wehmütig an die schmalen, leicht wiegenden Taschenbücher, die ich zuhause ließ oder in den Geschäften. Um mich zu maßregeln, habe ich nur den U.S. dabei. Den Humor verstehe ich mittlerweile besser, oder, anders, ich glaube, ich finde ihn deshalb nicht so lustig, weil ich einen sehr ähnlichen hatte oder habe. Beispiel, Seite 563:
“La Mont, bist du bereit für eine Bemerkung über das Wesen der Wahrheit?” “Na logo.” “Die Wahrheit macht dich frei. Aber vorher macht sie dich fertig.” (…) “Aber ich habe eine gute Nachricht für dich. Du hast dich in der Täuschung verfangen, dass Neid einen Kehrwert hat. Du glaubst, dass dein schmerzhafter Neid auf Michael Chang eine Kehrseite hat: Michael Changs Freude nämlich angesichts des Von-LaMont-Chu-beneidet-Werdens. Fällt aus wegen Nebel.”
Mein Klapprechner ist ungefähr gleichformatig wie das aufgeschlagene Buch. Und nicht ein Zehntel so schwer. Sollte sich preislich etwas tun, wird das E-Book eine sonnige Zukunft haben.
So weit aus Pula.
(Stand: S. 639)

Über das Buch

1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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