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Die Weltliteratur ist voll von Figuren, die irgendwelchen Dingen verfallen. Der eine jagt einem Wal nach, der ihn verstümmelt hat, der andere heiratet die unattraktive Mutter eines zwölfjährigen Nymphchens, von dem er besessen ist. Meistens sind es zumindest auf einer existenziellen Ebene verständliche oder nachvollziehbare Obsessionen.
Was aber passiert mit Leuten, die ihre gesamte Aufmerksamkeit an ein Ding hängen, das diese Aufmerksamkeit gar nicht aufnehmen kann? An ein inhaltsarmes, langweiliges Ding, aus dem man nicht einmal ein paar Tropfen Lebensphilosophie pressen kann?
1.) DFW erzählt von S. 920-933 in US eine Version dieser uralten und immer wieder durch die Literatur geisternden Geschichte, vielleicht eine der düstersten Versionen: Der Vater von Hugh Steeply verfällt der Fernsehserie M*A*S*H. Anfangs schaut er sie einfach gern an, dann findet er „auch die Wiederholungen der Syndizierung extrem wichtig. Die durfte er auf keinen Fall verpassen.“ Er stellt bei der Arbeit einen kleinen Fernseher auf, er geht nicht mehr zu seinen Bowlingabenden, die ganze Familie muss ihr Leben nun nach dem neuen Zentrum ausrichten. Der Vater schreibt bei jeder Folge alles in einem Notizbuch mit, zitiert im Alltag ausschließlich Szenen und Formulierungen aus der Serie und schreibt sogar Briefe an die fiktiven Charaktere. „Irgendwann konnte er dann über gar kein Thema mehr sprechen oder sich unterhalten, ohne es auf die Serie zurückzubeziehen. Das Thema. Ohne die Serie zum Referenzsystem zu machen.“ Irgendwann verlässt der Vater nicht einmal mehr sein Zimmer, sieht rund um die Uhr M*A*S*H-Folgen und unterzieht sie einer strengen Exegese: „Irgendwann im Spätstadium des Fortschreitens ließ der Alte Herr verlauten, er arbeite an einem geheimen Buch, das einen Gutteil der Militär-, Medizin-, Philosophie- und Religionsgeschichte der Welt revidiere und durch das Aufzeigen subtiler und komplexer Themencodes in M*A*S*H erkläre.“ Nur der Tod erlöst ihn, ein einfacher Herzinfarkt. Wie gesagt, es ist eine besonders finstere Version der Geschichte.
2.) Etwas weniger finster kommt die Version derselben Geschichte aus der Feder von J. L. Borges daher. Bei ihm heißt sie „Der Zahir“ und handelt von einem Mann namens Borges, der nach dem tragischen Tod einer Frau, in die er verliebt war, in einer Ladenschänke etwas zu trinken kauft und unter dem Wechselgeld, das ihm ausgehändigt wird, eine Münze findet, deren Bild ihn nicht mehr loslässt. „Ich überlegte, dass jede Münze dieser Welt sinnbildlich für die berühmten Münzen steht, die ohne Ende in Geschichte und Sage aufblinken. Ich dachte an Charons Obolus; den Obolus, um den Belisar bat; an die dreißig Silberlinge des Judas; an die Drachmen der Kurtisane Lais […]“. Genauso wie der Vater von Hugh Steeply sieht er die ganze Welt in dem unwürdigen, sinnlosen Gegenstand gespiegelt. Alles lässt sich aus ihm erklären – irgendwie. Der Mann namens Borges versucht daraufhin die Münze loszuwerden, aber es ist bereits zu spät: ihr Bild sucht ihn nachts heim, begleitet ihn überallhin, verdrängt schließlich alle Gedanken, verzerrt sogar, wie etwas extrem Massereiches, deren Raumzeit: „Früher stellte ich mir zuerst die Vorder-, dann die Kehrseite vor; heute sehe ich beide gleichzeitig.“ Er weiß, wie sein Schicksal aussieht: „Man wird mich füttern und ankleiden müssen; ich werde nicht wissen, ob es nachmittags oder vormittags ist; ich werde nicht wissen, wer Borges war.“ Aber sein Ende hat trotz allem eine etwas leichtere Dimension, das heitere Zuendeglühen eines sabbernden Idioten, dessen Hoffnung, hinter der Münze befinde sich möglicherweise Gott, nicht einmal von humorlosen Theologen widerlegt werden kann.
3.) Die leichteste und hellste Version dieser Geschichte stammt von Peter Bichsel. Sie heißt „Jodok lässt grüßen“. Da sie vollkommen ist und auch ziemlich kurz, verweise ich auf den Link, hier.
Vielleicht ist diese Geschichte deswegen am erträglichsten, weil am Ende die romantische Ironie eingreift und alles nur Erfindung war. Der Großvater war gar nie von der geheimnisvollen Silbenfolge JODOK besessen. Aber für den Enkel, der die Geschichte erzählt, besteht noch Hoffnung: „Wenn ich einen Onkel Jodok hätte, ich würde von nichts anderem mehr sprechen!” Immerhin hat er gerade eine Geschichte erzählt, in der diese Silbenfolge äußert oft vorkam. Wer weiß, wie seine zukünftigen Äußerungen aussehen. Aber trotzdem wird er alles auf JODOK sagen können, was ihm zu sagen ein Bedürfnis ist. Wie das Notizbuch von Hugh Steeplys Vater ist der Name Jodok eine Basis, aus der man mühelos den Vektorraum, der die Welt ist, aufspannen kann.
„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen / die sich über die Dinge ziehen“, heißt es bei Rilke. In der Tat scheint der menschliche Verstand in erster Linie dazu erdacht worden zu sein. Und darum berühren uns diese Geschichten von vollkommener Unfreiheit aufgrund irgendeiner Bagatelle wahrscheinlich auch so: Sie zeigen uns, dass ein winziger perlmuttkleiner Splitter an Unfreiheit genügt und schon beginnt der Verstand seine Jahresringe um dieses Zentrum zu errichten.
Was das Zentrum ist, scheint dabei keine Rolle zu spielen, so lange sich nur die ganze Welt aus ihm erklären lässt.
Die wirklich interessante Frage wäre wahrscheinlich: Welches Ding auf der Welt wäre nicht geeignet, ein Zahir, ein Jodok oder eine Notizbücher füllende M*A*S*H-Serie zu werden?
Jacques Derrida plädiert bekanntlich in seinem Aufsatz „Die Struktur, das Spiel und das Zeichen im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen“ (in: „Die Schrift und die Differenz“) dafür, dass das „Zentrum“ unser Denken längst still und heimlich verlassen hat. Aber seine Geschichte ist vielleicht eine ganz andere, eine tröstlichere und weniger unheimliche, eine, die man bei Nacht in einem leeren Zimmer lesen kann, ohne sich ertappt zu fühlen…
(PS: Gehört vielleicht nicht hierher, aber trotzdem: Hurra für Herta Müller, die heute mit schwedischem Lorbeer bekränzt wurde!)
23.30. Am Wasser. Grüner Tee. Das Emerson String Quartet spielt „Kunst der Fuge“. Ansonsten ists sehr still hier. Hab gerade fünf Buchpreisshortlister in 65 Zeilen erklärt. Samt Bibliografie. Müsste immer mehr essen, um noch die Energie aufzubringen, diesen Job noch lange toll zu finden. Das kann auf die Dauer nicht gesund sein.
Womit wir, hach, was für eine Überleitung, bei Hal Incandenza wären, der auch mehr Zuckerzeug in sich hineinstopft, als einem hoffnungsvollen Tennisspieler eigentlich gut tut. Noch schlimmer allerdings stell ich mir vor ist die Kontamination durch die Unterhaltungspatronen seines Vaters. Bin ich froh, dass ich „Medusa gegen Odaliske“ zum Beispiel mir nicht ansehen muss, „dessen plotloser Plo sich dergestalt zusammenfassen lässt, dass die mythische, schlangenhaarige Medusa, bewaffnet mit Schwert und blankpoliertem Schild, einen Kampf auf Leben und Tod oder Versteinerung gegen L’Odalisque de Ste. Thérèse führt, eine Gestalt aus der Quebecer Mythologie“.
Quebecer Mythologie! Dass die Kinogänger James O. „Er selbst der große Storch“, Incandenza nicht mochten, dürfte selbstverständlich sein. Noch mehr, sagt DFW, hassten sie ihn für „Der Witz“ mit dem Untertitel „Sie sind gut beraten, wen Sie nicht noch Geld dafür berappen, diesen Film zu sehen“.
Das ist lustig. Wer allerdings in den Achtzigern und den frühen Neunzigern im deutschen Theater und in der deutschen Oper gesessen hat, als das Regietheater ordentlich ausholte und gegen die Schienbeine der Bildungsbürger keulte, dem kommen des Storchen Strolchereien doch ein bisschen fade vor.
Halt. Er hat sich bloß lustig gemacht über die Kritiker. Das ist ja metameta. Huch ist das beziehungsreich, ich glaub… aber auch das ist schon ein ziemlich alter Scherz.
Jetzt werden wieder Meldungen zusammengeschnippelt. In Hals Höllenwelt scheint es ein gigantisches Müllproblem zu geben, vielleicht sollten wir Berlusconi hinschicken, der kennt sich mit superspaßigem Fernsehen, tödlichen Unterhaltungspatronen und Müllentsorgung aus. Außerdem wären wir ihn dann endlich los.
Der amerikanische Präsident gebärdet sich derweil wie ein Affe zwischen seinen und anderer Leute Minister (Hhhaaahh Hhhuuuuuhh). So stelle ich mir Kabinettssitzungen auch beim Präsidenten dessen Name nicht genannt werden darf vor. Es geht um Entgiftung und Entstrahlung ganzer Bundesstaaten und ökologische Wahlkreismanipulation. Das zumindest ist für 1996 schon ein bisschen visionär.
Marios Schnippselei geht weiter. Ich muss jetzt Bildunterzeilen schreiben über chinesische Kaiserinnen und Konkubinen. Hal, gib Zucker rüber!
Was Softes in eigener Sache:
Auf Reisen gewesen. Und das böse, große, weiße Buch absichtlich zuhause vergessen. Und dann Dracula, weil ichs immer mal lesen wollte, gelesen => Van Helsing könnte man in den Spaß copypasten, der Todessophist gehört da rein wie die ballgefüllten Unterhosen-MIRVs der Spielvernichter.
After a pause Van Helsing went on, evidently with an effort, „Miss Lucy is dead, is it not so? Yes! Then there can be no wrong to her. But if she be not dead…“
Arthur jumped to his feet, „Good God!“ he cried. „What do you mean? Has there been any mistake, has she been buried alive?“ He groaned in anguish that not even hope could soften.
„I did not say she was alive, my child. I did not think it. I go no further than to say that she might be UnDead.“
„UnDead! Not alive! What do you mean? Is this all a nightmare, or what is it?“
„There are mysteries which men can only guess at, which age by age they may solve only in part. Believe me, we are now on the verge of one. But I have not done. May I cut off the head of dead Miss Lucy?“
Zuhause jedoch die Quittung fürs Kopflose bekommen: +200 Seiten aufholen in wenigen Tagen. Stand heute: S. 643. Ich gestehe: Zwar kann ich mich noch immer auf jeder zweiten Seite über seine Manier ärgern, aber letztlich hat es Wallace geschafft: ich bin weichgeknetet. Ich hab das big picture auf dem Schirm.
Der sanfte, so normale O., der mir das Inandenza-Nest erdet; Gately, dieser coole Hund, ein Bejaher vor dem Herrn, der sogar glaubhaft die Autotheopoiesis der AA vertritt; Mario, mein heimlicher Star, das fleischgewordene Stativ; Clipperton & seine Glock. Ich sage nur: Clipperton und seine Glock! – alle liegen sie im Setzkasten aufgereiht und warten darauf, wieder und wieder inszeniert zu werden. Das Romangefühl hat sich eingestellt and this time it is here to stay: Ich bestaune den Organismus und seine von einer Figur zur nächsten unablässig pumpenden Flüssigkeitsströme; wie beim Blutbund unter den Vampirjägern.
(btw: Dass es sich bei Wallace vielleicht um sehr künstliches Blut handelt, verdickt und mit viel zu viel Zucker und viel zu viel Salz, macht es doch nur interessanter, oder?)
Grüße aus dem Setzkasten
Postkarten aus einer anderen Zeit. Triest, italienisch mit e am Ende, slawisch ganz ohne Vokale, neben der Freien Stadt Danzig die einzige Stadt in der Geschichte, die je von der UNO verwaltet wurde, zwischen 1947 und 1954. Zwei- oder Mehrsprachigkeit findet hier nicht statt, die Einheimischen und die Touristen sind gut voneinander zu unterscheiden. Das Italien Berlusconis scheint ein restriktives zu sein, es gibt keine Hotspots, es gibt nur Internetcafés, aber Zugang nur mit Personalausweis (gibt es hier schon die Piratenpartei?), und es gibt kein Bier in den Büdchen und Zeitungsläden. Italien ist eine Nation von Zeitungslesern. Im Buch redet Schtitt, und Schtitt redet ungelenk, grammatikalisch konfus, er redet wie ein leichter Asiat Deutsch reden könnte, aber Schtitt ist ein Deutscher, und was er radebrecht, ist ja eigentlich Englisch, also durch das Deutsche geradebrechtes Englisch, was hier so in der Übersetzung als radegebrochenes Deutsch rüberkommt, sehr seltsam. Vielleicht wäre hier ein Basler Akzent besser gewesen. Bei Synchronisierungen löst man dieses Problem oft mit Dialekten, beispielsweise in “Ein Käfig voller Helden”, in dem die Nazis allesamt sächseln, oder bayerisch reden, etc., während die anderen Figuren, die ausländischen Kriegsgefangenen, ein klares Deutsch sprechen. Trieste, Triest, Trst, das Österreichische merkt man der Stadt, finde ich, kaum noch an, und als ich spät zum Busbahnhof schlendere, um den Bus nach Pula zu bekommen, wo die kleine Reise den Anfang nahm und das Ende findet, versucht tatsächlich ein Mann die Tour, er hätte Probleme mit seiner Geldkarte usw., er hätte kein Geld mehr, und es seien schon Freunde zum Goetheinstitut unterwegs etc., er meint, er sei ein in der Schweiz lebender Deutscher und habe mich an der Zeitung als Landsmann erkannt. Er hat tatsächlich einen seltsamen, undeutlichen Akzent, den ich nicht zuordnen kann, ich sage, ich kann ihm nicht helfen, tut mir leid, und viel Glück.
(Stand S. 669)
12.50. Großraum. Der Kerl in der Arbeitswabe vor mir hat wieder einen neuen Klingelton. Es sind schon Leute aus deutlich geringeren Gründen mit toten Tennisbällen vom Hof gejagt worden. Mangograpefruchtgesöff zur Stabilisierung des Energiehaushaltes. Svjatoslav Richter spielt Rachmaninov. Tolle ganzheitliche Unterhaltungspatrone.
Weitergehts mit Mario Splitting-Image-Film. Halbfiktionales Polit-Kabarett vom Beginn eines neuen Zeitalters. Es handelt sich wohl um die Persiflierung von DFWs Vision vom Übergang der USA zur O. N. A. N. Die Staatsoberhäupter werden zu Ministern enthauptet. Sprechen schreckliche Texte, die Puppen.
Richter explodiert in aller Ruhe. Wir gehen in die Fitness-Katakombe der E. T. A. zum weisen Guru Lyle. Und begegnen einer sehr lustigen Figur Marlon Irgendwer, den Nachnamen hat man vergessen. Unvergesslich ist, dass er ständig nass ist, eine feuchte Spur hinterlässt, die kalorienarm und irgendwie zitronig ist. Sehr spaßig. Braucht man auch nach den Todgebärenden von gestern dringend. Das Phänomen Lyle („Die Welt ist sehr alt“) wird vorgestellt. Der große Zuhörer, dem in der Kraftfolterkammer immer mehr merkwürdige, merkwürdig gestörte Tennisschläger von eher begrenzter Faszinationskraft zulaufen.
Hat übrigens in den vergangenen 300 Seiten mal jemand Hal gesehen? Hat sich eben noch jemand über den Großen Storch, Ihn Selbst aufgeregt, dass er nicht plotten könne in seinen Patronen. Ein Selbstporträt?
Mario montiert Meldungen. Vier Seiten Meldungen. Über das Ende der Nato. Über die neue Politik gegen die E.W.G. Politisch, man muss es ja leider sagen, steht die Vision, die sich da ausbreitet, leider spätestens seit 9/11 im Museum und staubt vor sich hin. Die quebecischen Separatisten sehen doch mit ihren lustigen Anschlägen neben den Islamisten und ihren Feuerzeichen am Himmel ziemlich niedlich aus.
Lyle mantrat „Unterschätzt mir die Objekte nicht“. Die Welt sagt er, die radikal alt ist, besteht schließlich größtenteils aus Objekten.
Herr Richter gießt seine schwermetallromantische Soße drüber. Das verdirbt einem auf die Dauer tatsächlich den Magen alles. Morgen – ich hab schon mal auf die nächste Zeile gespingst – geht’s wieder um Drogen. Prima.
„Er verfügt über jenen seltenen spinalen Sinn für die Schönheit des Gewöhnlichen, den Mutter Natur nur jenen zu gewähren scheint, die für das Gesehene keine eigenen Worte haben.“ (US 697 f.): Lucien Antitoi ist für mich Wallace’ Gegenfigur, in der er die für einen Schriftsteller entsetzliche Vorstellung bannt, eines Tages die Verfügungsgewalt über die Worte zu verlieren. Der Alptraum, die eigenen Fähigkeiten zu verlieren, ist allenfalls vergleichbar mit der Angst leidenschaftlicher Leser vor der Blindheit. Luciens in der exakten Mitte des Romans geschilderter Tod (US 705 f.) ist dann eine Apotheose, das Wieder-Eins-Werden eines seelisch verkrüppelten Menschen mit sich, seiner Lebensgeschichte und seiner Mutter – und eine der seltenen ungebrochen schönen Naturschilderungen im Buch, die mich Eichendorff assoziieren ließ: „Und meine Seele spannte / weit ihre Flügel aus, / Flog durch die stillen Lande, / als flöge sie nach Haus“. Eine unglaublich bewegende poetische Gerechtigkeit, die nach der brutalen Schilderung der Ermordung um so fassungsloser macht.
0.30. Am Wasser. Neuseeländischer Sauvignon blanc. Kühlt gut. Hält wach. SWR-Rocknacht als Soundtrack (Multitasking macht doof, ich weiß). Nimmt man das, dieses nacktrhythmische Melodienichts zusammen mit „Wetten, dass…“ von vorher auf eine Unterhaltungspatrone, das hätte vermutlich eine ähnliche Wirkung wie die tödliche Patrone von Ihm Selbst. Macht Waterboarding überflüssig, man gesteht alles und sofort, dann fällt man in eine schützende saloppe Katatonie.
Was schade wäre. DFW dreht wieder auf. Strickt mit fünf Fäden weiter. Wir sind wieder mit der großen Transe Steeply und Marathe in der Wüste. Er selbst tritt höchstselbst auf und aus der Sauna und erfindet das Drame Trouvé und den Antikonfluentalismus, muss aber die Kritik einstecken, ein fürchterlicher Plotter zu sein. Bei den Bostoner AA redet nun die letzte Rednerin. Wer gestern dachte, es könne nicht schlimmer kommen, als Vergewaltigung einer minderjährigen Behinderten, es kann. Die geständige Abhängige war nämlich mal schwanger. Und hat weiter alles reingezogen, was reinzuziehen war und hat bis zum Platzen der Fruchtblase angeschafft. Was dann passiert, das schadet eigentlich wieder seelischen Volksgesundheit und lassen wir hier weg. Wer denkt sich sowas aus? Das hat er doch nicht erfunden. Fürchterlich. Die AAs fassen sich an den Kopf, sowas haben sie noch nie gehört. Und die haben fast alles gehört. Ein Elend. Nachrichten von der Nachtseite Amerikas.
Wir zappen weiter zu Mario Incandenza ein paar Monate später. Der erste Unterhaltungsfilm Marios, eine abgefilmt Marionettenaufführung. DFW bildet das längste deutsche Wort der Welt. Und der berühmte Schnulzier Johnny Gentle tritt auf, den wir bisher, aber das kann ich ja leider schwer überprüfen, noch nicht hatten. Der Mann ist auch eine Art Haider des postapokalyptischen Amerikas, Gründer und Standartenträger der „Sauberen US-Partei“. Und Präsident war er auch, der erste, der sein Mikrokabel wie ein Lasso warf bei seiner Antrittsrede. Mario lässt ihn im Marionettentheater auftreten samt Mexikos Presdidente und Kanadas Premierminister. Jetzt wird Politik karikiert. Mexiko und Kanade quasseln Bullshit, Gentle bedankt sich und sagt zu ihnen. Danke, Jungs. Ihr habt tolle Seelen.“
Hab nach dieser Woche keine Lust mehr auf Politik. Und hebe meine tolle Seele jetzt davon. Bevor ich in saloppe Katatonie verfalle.
Bei Valéry lesen wir:
Wenn ich ein Buch aufschlage, bietet das Buch meinen Augen zwei recht unterschiedliche Arten an, Anteil an ihm zu nehmen. […]. Es kann ihnen eingeben, sich auf eine regelmäßige Bewegung einzulassen, die sich entlang einer Zeile von einem Wort dem anderen Worte mitteilt, nach einem Sprung, der nichts zu bedeuten hat, auf der nächsten Zeile wieder auflebt und in ihrem Fortschreiten eine Menge aufeinander folgender Reaktionen des Geistes hervorruft, deren gemeinsame Wirkung ist, jeden Augenblick die augenhafte Inbesitznahme der Zeichen aufzuheben, um an ihre Stelle Erinnerungen und Verknüpfungen von Erinnerungen zu setzen. Jede dieser Wirkungen ist der erste Markstein einer beliebig möglichen unendlichen Entwicklung. […]. Das Buch ist aber andererseits ein Gegenstand, eine Summierung vorhaltender Eindrücke, der unvermittelt eingehende, nicht auf Konvention beruhende Eigenschaften zugeordnet sind.
Und an anderer Stelle:
Man kann einen Text auf sehr viele unabhängige Arten ansehen, denn er lässt sich abwechselnd von der Phonetik, von der Semantik, von der Syntax, von der Logik, von der Rhetorik her beurteilen, nicht zu vergessen die Metrik und die Etymologie.
Im Sinne dieser Lese- und Texteigenschaften geht mir, das Stichwort fiel schon einmal, die »Kafkaeske Frage« bei US noch einmal durch den Kopf, die ebenso eng der bereits geführten Diskussion zur Frage der Moderne – Postmoderne korrespondiert.
Eine Valérysche Verknüpfung, die aus meinem Anteilnehmen am Buch entsteht, ist die zu Hans Egon Holthusens Feststellung des „unbehausten Menschen“, aus der Perspektive unserer heutigen Lesesituation, knapp 60 Jahre später, sinnreich unterschrieben mit „Motive und Probleme der modernen Literatur“. Holthusen lässt die (vermeintliche) Moderne mit Rilkes „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ einsetzen und exemplifiziert die, wie er formuliert, „merkwürdige Radikalisierung der Frage- und Themenstellung“ an Franz Kafka, an der Frage nach der Gültigkeit von Wirklichkeiten und der euklidischen Konstante:
„Bei Kafka hingegen funktioniert die Wirklichkeit grundsätzlich nicht, die Sinnfiguren schließen sich nicht, jedenfalls nicht auf vernünftige Weise: alles bleibt offen. Der Stil des Dichters ist durchaus »realistisch«, er ist konkret, sachlich, schlicht und genau, (…). Und trotzdem tritt überall der Hintersinn und Unsinn des Daseins im unsicher gewordenen Gefüge der Wirklichkeit zutage, das Hinterwirkliche bricht in Form des Absurden, Ironischen und Paradoxen in den Bereich des Greifbaren und Sichtbaren ein.“
Und Holthusen schließt den Kreis zu Rilke mit:
„Das Erlebnis einer fundamentalen Unsicherheit im Wirklichen, das Kafka beherrscht, ist in anderer Form auch für Rilke zum Thema geworden. Der moderne Mensch, der […] »eine dumpfe Umkehr der Welt« an sich erfährt, er ist durchaus heimatlos, ein verlorener Sohn, der die Liebe des Vaters nicht will, ein Mensch ohne Haus, der nicht in das alte Haus zurückkehren will.“ – Jim, doch nicht so, Jim …
Ist es das? Die Wirklichkeit von US funktioniert nicht. Aber in welchem Sinne? Und welche (moderne) Wirklichkeit funktioniert hier nicht? Dieses Nichtfunktionieren okkupiert alle Ebenen der Lese- und Wahrnehmungsarten: es ist das „Es“ der Adoptivfamilie, in der eine perverse Gottesfürchtigkeit neben einer potenziert pervertierten Form von Inzest gelebt wird; die daraus erst resultierende Ambivalenz der AA zwischen „da draußen“ und „hier drinnen“ – „Die Wahrheit macht dich frei. Aber vorher macht sie dich fertig“, die, übersteigert in der Vorführung von Incandenzas „Der Witz“, die Zuschauer ihrer Selbstbespiegelung aussetzt und in den Chaplinesk gestalteten Lautäußerungen von Gentle, „Hhhaaahh Hhhuuuhh Hhhaaahh Hhhuuuhhh“, kulminiert, auf deren Basis dieser „die Geschichte neu zu erfinden“ gedenkt. Eine Basis, die Steeply, der nicht mehr genau weiß, „wo oben und unten ist“, nur noch in der „Unterjochung seiner Würde und Selbstachtung“ empfindet – Kafkas brachial erfahrene Paradoxale der „Hinterwirklichkeit“.
Holthusens Mensch, „der zu unaufhebbarer Gefangenschaft verdammt“ ist, steigert US von Hals Empfinden des „Ich bin hier drin“ zu einem „ich bin da gefangen drin“ und wechselt den Modus zu – „Wenn da eigentlich gar keiner drin ist“?! Dann?! Dann ist der als postmodern apostrophierte David Foster Wallace bei dem »Modernen«, bei Rainer Maria Rilke, angekommen, für den der Halt des euklidischen Standpunktes bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts keiner mehr sein konnte.
Sollten die Engel Rilkes in der »Unbehaustheit« von US zugegen sein …?
Denn –
„Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn …?
„Jeder Engel ist schrecklich. Und dennoch, weh mir,
ansing ich euch, fast tödliche Vögel der Seele,
wissend um euch.“
19.30. Am Wasser. Mit Wasser. Vielleicht sollte ich doch aufhören dieses Buch zu lesen. Heute mit Wieland gesprochen. Über Powers und DFW und den ganzen Rest bis zur Messe. Elch Knutschi sei tot, sagt er mir da. Ganz berühmt war der wohl, so eine Art behörnter Bär Bruno. Ich musste mich regelrecht kneifen. Dachte, den hätte er gerade erst erfunden. Hatte noch nie von dem Vieh gehört. Das kann man doch nur erfunden haben. Und zwar bekifft, denn auf so einen Namen kommt man nüchtern nicht. Und dann wurde er von Pilzesuchern im Hessischen gefunden! Pilzesucher. Dieses Buch schadet meiner geistigen Gesundheit. Ich wittere überall Drogenexzesse. Selbst mit Elchen.
Aber wie soll man auch unbeschadet aus einem Buch herauskommen, das en passant Geschichten fallen lässt, aus denen andere ganze Romane machen. Horrorromane.
Und jetzt müssen wir die Zartbesaiteten unter uns und die Minderjährigen bitten, das Lesen zu beenden und erst morgen wieder einzuschalten. Der folgende Absatz könnte Folgen für die psychische Entwicklung haben.
Also. Da steht eine auf in Gatelys Gruppe und gesteht, dass sie mit 16 abgehauen ist und mit den Drogen anfing und mit der Halbhurerei. Weil sies zu Hause nicht mehr ausgehalten hat, zu Hause bei ihren Adoptiveltern. Nicht etwa weil sie befummelt worden wäre von ihrem Leiherzeuger. Es geht noch schlimmer. Die Frau hatte ein hyperbehindertes Halbgeschwister, das eigentlich nur sabbernd herumliegen konnte. Und mit dem hat der Adoptivvater dann und hat ihr dabei eine Raquel-Welch-Maske übergezogen, während die Adoptivmutter die Knie vor einer im höchsten Maß perversen Heiligenstatue beugte. Da ist lieber gegangen. Auf den Strich und an die Nadel.
Wer denkt sich sowas aus? Kann man sich sowas ausdenken.
Mir schlägt das auf den Magen. Ganz gewaltig. Dieses Buch macht irre. Dieses Buch macht schlank. Ersteres brauch ich nicht. Letzteres schon.
“Um zu genießen, ist ungefährdete Ruhe nötig”, schrieb Stendhal. Ich saß heute in Zügen, die nach ihren Dieselmotoren rochen und einspurig langsam durch die Landschaft Istrien schlotterten, ich stand an Wartestationen, ich ging durch ein slowenisches Dorf auf der Suche nach einem Laden, das war wie auf dem Mond zu wandeln. Endlich, nach sieben Stunden, bin ich am Ziel, Piran, italienisch mit o am Ende. Hier hängt nur eine Fahne vor dem Amtshaus, dafür hat die Infozentrale auch schon um 7 zu, und das einzige Zimmer ist ein Viererzimmer, das ich mit einem Niederländer teile. Immerhin gibt es auch hier freies Wlan, zumindest im Hostel. Für den US hatte ich nicht wirklich Sinn, nur am Frühstück und kurz im Zug etwas gelesen, sehr schön, sehr gut die Geschichte des familiären Hintergrunds von Gately. Wie überhaupt US immer dann am besten wird, wenn Vorgeschichten, Familiengeschichten, Liebesgeschichten erzählt werden, oder liegt das an mir. Am Ende in der Schilderung von Tennistrainingseinheiten stecken geblieben, irgendwo in den verlorenen Höhen Zentralistriens. Mein Mund ist trocken, es gibt kein Gatorate, gibt es überhaupt noch Gatorate? Mein Mund ist trocken, ich verliere die Sprache und komme mir seltsam vor, so wortlos im Verbalen. Manchmal, um meine Stimme zu üben, singe ich, Good Vibrations zum Beispiel, oft führe ich auch Selbstgespräche.
(Stand: S. 662)
1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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