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Nach mehr als 800 Seiten US ist es mir jetzt gleich zweimal passiert, mitten in der Nacht trotz überquellender Müdigkeit mit dem Lesen nicht aufhören zu können. Zuvor war es problemlos gewesen, an beinahe jeder beliebigen Stelle, nicht ohne das schwarze Trauerband positioniert zu haben, die Schwarte zuzuklappen und bei nächster Gelegenheit irritationslos den Faden an gleicher Stelle wieder aufzunehmen. Langweilig war das Lesen ja nie – dafür sorgten die Überfülle der Bilder und Ereignisse, die immer wieder staunenswerte Virtuosität der Sprache, die Übersteigerungen und Kuriositäten, bunt wie auf dem Jahrmarkt.
Jetzt aber plötzlich war mit eisernem Griff Krimi pur. Zunächst die so harmlos intonierte Wanderung der Herren Lenz und Green durchs nächtliche Boston, bis der smarte Sadist seine Selbstentlastungsaktionen um einen Tick überzieht. Und dann die mitternächtliche Straßenschlacht als böse Folge der Grenzüberschreitung mit einem Totschläger als napoleonischem Helden im Getümmel. Hat es irgendjemand geschafft, da mittendrin das Lesen einzustellen und sanft zu entschlummern?
Und das, obwohl auch in dieser lang hingezogenen Szene immer ein Portiönchen des Zuviel spürbar ist, zu viel der splitternden Knochen, der blitzenden Messer, der Augenhöhlen perforierenden Pfennigabsätze. Das Zuviel, das den ganzen Roman durchzieht und immer etwas Distanz schafft zur fiktiven Realität, als ließe sich diese, vielleicht vor allem für den Autor, so besser ertragen: als Groteske, als ein Lächeln bei aller Betroffenheit.
Nur ganz selten verzichtet Wallace in seinem Text auf dieses Distanz schaffende Zuviel – und erreicht dann urplötzlich Dimensionen, wie man sie aus einigen der – später entstandenen – Erzählungen (aus „Interviews“ und „Oblivion“) kennt. Zum Beispiel wenn in einer Schilderung des schnellen Sex die Sehnsucht anklingt, „dass sie ihn eine Sekunde lang mehr liebt, als sich ertragen lässt“ (S. 816). Oder wenn, quasi zur Erklärung, ein paar Zeilen später eine verschämte Klammer Auskunft gibt, weshalb Orin ständig wechselnder Sex-Partnerinnen bedarf: „Denn gäbe es für ihn jetzt nur die eine spezielle, dann wäre der Einzige nicht er oder sie, sondern das, was zwischen ihnen wäre, die alles auslöschende Dreifaltigkeit von Dir und Mir und Uns. Orin hat das einmal empfunden, sich nie davon erholt und wird sich auch nie erholen.“
Für den, der dieses urmenschliche Thema, Quelle aller Melancholie und Poesie, nichts als verquast romantisch oder kitschig findet, fügt DFW gut 30 Seiten später eine Klage Marios an, dass „echt echte Sachen“ heutzutage als „unangenehm“ empfunden werden, deren man sich „genieren“ müsse: „Als gäbe es eine Vorschrift, dass echte Sachen nur erwähnt werden dürfen, wenn man gleichzeitig die Augen verdreht oder auf nicht glückliche Weise lacht.“
Aber es sind immer nur Augenblicke, in denen DFW sich aus der Schutz gebenden Deckung des Distanz schaffenden Zuviels herauswagt, schon der Balance zuliebe.
1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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3 Kommentare zu Nach 800 Seiten …
René Hamann
20. Oktober, 2009 um 13:11
Sehr gute Beschreibung: die stete Vergröberung, die Übertreibung, um die Dinge von sich zu halten, Distanz zu schaffen; und immer nur „Augenblicke, in denen DFW sich aus der Schutz gebenden Deckung des Distanz schaffenden Zuviels herauswagt“… Aber sollte gute Literatur nicht eben genau das Gegenteil probieren? Genauigkeit, Klarsicht, die direkte, nackte, ins Unerträgliche gehende Nähe? Die Distanz schafft zuweilen Unbehagen, manchmal auch mehr als das, und das Zuviel fordert den Lektürewillen schon stark heraus, finde ich, zumindest meinen. Wie wäre das, wenn das Buch knapper, genauer, stärker, eben näher wäre?
Peter Neuhaus
20. Oktober, 2009 um 14:52
@René Hamann
Dann wäre es möglicherweise ein näheres und ebenso vielfältiges und aufgesplittertes und großartiges Buch. Nur eben nicht dieses US, das ja eine große Energie eben genau aus der Übertreibung und Ausweitung und Detailversessenheit und den ungezählt vielen Ermüdungsversuchen bezieht – so vielen, dass ich mir beizeiten wie ein immer und immer wieder um den Platz getriebener Tennisschüler vorkomme.
Ist das, was Sie als Vergröberung beschreiben möglicherweise das gleiche, was ich als Hineinzoomen bezeichnen würde? Also: Von der großen Geschichte in die andere, kleinere; dort in das erstbeste Detail und dann weiter und weiter in alle andere Details und Unterdetails und plötzlich sind alle tot?
Alfred Vail
22. Oktober, 2009 um 09:02
„Hat es irgendjemand geschafft, da mittendrin das Lesen einzustellen und sanft zu entschlummern?“
Nein, ich habe es auch nicht geschaft.