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Mit einiger Sorge bemerke ich den von Tag zu Tag spürbareren Suchtfaktor – eine Art Craving in den frühen Abendstunden, wenn nach Erledigung der Alltagsgeschäfte die Lesezeit naht, mittlerweile schon gegen Mittag. Noch nicht so stark wie bei Wallace´ Drogenhelden, „Meiner Wenigkeit“ zum Beispiel (S. 185 ff.), aber doch irritierend. Wird sich das ausweiten? Vor allem: was wird nach dem Ende, nach der letzten Seite sein? Kalter Entzug? Oder geht dann, wie Harald Staun vor einer Woche in der FAS schrieb, der Spaß erst richtig los und wir fangen noch einmal von vorne an. Das erinnert allerdings gefährlich an die tödliche Wirkung der Endlosschleife. Mit anderen Worten: Ist unser Schicksal damit bereits besiegelt? (Das ist es ohnehin.)
Dabei ist die Lektüre doch alles andere als ein Spaß, eher versuchte Aufheiterung eines zunehmend in abgrundtiefe Traurigkeit Verfallenen. „Damit sich der Leser gerade nicht unterhält“, schrieb Ulrich Blumenbach im Zusatz-Material, „erschwert der Autor ihm die Lektüre“. Am stärksten irritierte mich anfangs die zeitliche Desorientiertheit, Schwindel bis leichte Übelkeit erzeugend. Zu wissen, was wann wo passiert, einschließlich aller Vor- und Rückblenden, war bislang, scheint mir, eines der Axiome allen Erzählens, eine Art Klammer (extrem im „Ulysses“ und in den „Jahrestagen“). Offenbar hat Wallace (beinahe) ernst gemacht mit Neals Überlegung (in „Good Old Neon“), dass wir mit der Zeit zwar allerlei messen können, nicht jedoch den Ablauf der Zeit selber, sodass wir nicht wissen können, ob es überhaupt einen Ablauf gibt oder ob sich alles, was je gedacht und gesagt wurde, wie ein „Blitz“ entfaltet, den wir „Gegenwart nennen“. Inzwischen hat sich der Schwindel gelegt – dank Endnote 24, die wie inzwischen auch einige andere Zeitmarken des Autors eine gewisse Orientierung im Ablauf dieser albernen „Sponsoren-Jahre“ erlaubt.
Offenbar hat DFW das Prinzip zeitlicher Relativierung auch auf den Umgang mit der Realität übertragen. Sodass der Leser oft nicht weiß, ob das Geschriebene so oder anders gemeint ist und einen verborgenen Hintersinn birgt. Oder ob es sich einfach um ein Versehen, eine Flüchtigkeit handelt. Hat es eine Bedeutung, dass Hals Kollege Jim Struck auf Seite 74 plötzlich (und nur hier) den Vornamen James bekommt? Ist es dem Autor wirklich entgangen (S. 106), dass Kalzium-Injektionen auch in den 1990er Jahren schon längst nicht mehr das Mittel der Wahl gegen Hyperventilationssymptomatik waren (ersetzt durch die kausal und nicht nur symptomatisch wirksame Plastikbeutel-Rückatmung)? War es Absicht, dass (in Endnote 28) die gängige Wirkstoffbezeichnung SSRI um ein S verkürzt wurde?
Manchmal aber enthalten diese winzigen, vordergründig ganz unbedeutenden Aberrationen kleine „unerzählte“ Geschichten. So wenn sich (in Endnote 24) der Name einer der an Incandenzas Produkten beteiligten Schauspielerinnen von Film zu Film um einen Bindestrichnamen verlängert – zuletzt um den ihres Partners im vorausgegangenen Streifen. Da darf sich der klatschsüchtige Leser allerlei denken. Und pure Freude bereitet natürlich (gleichfalls in der manisch-voluminösen Endnote 24) die Entdeckung, dass die letzten Filme Incandenzas einschließlich des finalen, Tod bringenden Machwerks von der Firma P.Y.E.U. produziert wurde („Poor Yorick Entertainment Unlimited“).
Der vor zwei Tagen von Kolja Mensing geäußerten Meinung, dass die psychiatrische Erstexploration einer suizidalen Patientin (ab S. 99) lehrbuchreif und dass Kate eine „Musterpatientin“ sei, kann ich mich allerdings nicht anschließen. Genau wie Neal seinen Psychoanalytiker (in „Good Old Neon“) gelingt es Kate nach kurzer Zeit, ihren Doktor „wie ein Hund seinen Spielknochen herumzuschubsen“, und DFW rührt dabei zugleich an eines der Grundprobleme moderner Krankenbehandlung, ob es denn ethisch vertretbar ist, dem Verlangen des Patienten nach einer bestimmten Therapieform nachzukommen, solange der Arzt von deren Indikation noch keinesfalls überzeugt ist.
Verschärft wird die Sache dadurch, dass im „Unendlichen Spaß“ wie schon in vielen DFW-Erzählungen immer wieder Hochbegabte auftauchen (Abbilder des Autors?). Wie Neal (in „Good Old Neon“) vergeudet Ingersoll seine „hohe Intelligenz … für das unstillbare Bedürfnis … Eindruck zu schinden“ (S. 164 f.). Weil Hal „Teile seiner selbst in ihm wieder erkenn(t)“, widert der ihn an. Erneut wird hier spürbar, dass Hochbegabung – wie ihr Gegenstück, die Debilität – ein Makel, eine Form der Behinderung ist.
Nachdem bisher (S. 182) nur die Möglichkeit angedeutet wurde, dass es einen die tödliche Wirkung von „Infinite Jest“ aufhebenden Anti-Film geben könnte, habe ich vorerst auf mein eigenes Antidot zurückgegriffen und bin zwei Tage lang im Südschwarzwald gewandert. (Sehr empfehlenswert der Halbhöhenweg zwischen Saig und Kappel und der Schluchtenstieg bei Ruhbühl!) Auch hier Höhen und Tiefen. Und nachher Blasen unter den Zehen. Aber Wallace entgeht man selbst dadurch nicht. Unter dem Stichwort „Verstiegenheit“ notiert er (in Endnote 36): „Einsames Wandern in verwüstetem, verwirrendem Gebiet jenseits aller kartierten Grenzen und Orientierungspunkte“. Nein, man entgeht ihm nicht.
1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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