Bei Valéry lesen wir:
Wenn ich ein Buch aufschlage, bietet das Buch meinen Augen zwei recht unterschiedliche Arten an, Anteil an ihm zu nehmen. […]. Es kann ihnen eingeben, sich auf eine regelmäßige Bewegung einzulassen, die sich entlang einer Zeile von einem Wort dem anderen Worte mitteilt, nach einem Sprung, der nichts zu bedeuten hat, auf der nächsten Zeile wieder auflebt und in ihrem Fortschreiten eine Menge aufeinander folgender Reaktionen des Geistes hervorruft, deren gemeinsame Wirkung ist, jeden Augenblick die augenhafte Inbesitznahme der Zeichen aufzuheben, um an ihre Stelle Erinnerungen und Verknüpfungen von Erinnerungen zu setzen. Jede dieser Wirkungen ist der erste Markstein einer beliebig möglichen unendlichen Entwicklung. […]. Das Buch ist aber andererseits ein Gegenstand, eine Summierung vorhaltender Eindrücke, der unvermittelt eingehende, nicht auf Konvention beruhende Eigenschaften zugeordnet sind.

Und an anderer Stelle:
Man kann einen Text auf sehr viele unabhängige Arten ansehen, denn er lässt sich abwechselnd von der Phonetik, von der Semantik, von der Syntax, von der Logik, von der Rhetorik her beurteilen, nicht zu vergessen die Metrik und die Etymologie.

Im Sinne dieser Lese- und Texteigenschaften geht mir, das Stichwort fiel schon einmal, die »Kafkaeske Frage« bei US noch einmal durch den Kopf, die ebenso eng der bereits geführten Diskussion zur Frage der Moderne – Postmoderne korrespondiert.

Eine Valérysche Verknüpfung, die aus meinem Anteilnehmen am Buch entsteht, ist die zu Hans Egon Holthusens Feststellung des „unbehausten Menschen“, aus der Perspektive unserer heutigen Lesesituation, knapp 60 Jahre später, sinnreich unterschrieben mit „Motive und Probleme der modernen Literatur“. Holthusen lässt die (vermeintliche) Moderne mit Rilkes „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ einsetzen und exemplifiziert die, wie er formuliert, „merkwürdige Radikalisierung der Frage- und Themenstellung“ an Franz Kafka, an der Frage nach der Gültigkeit von Wirklichkeiten und der euklidischen Konstante:

„Bei Kafka hingegen funktioniert die Wirklichkeit grundsätzlich nicht, die Sinnfiguren schließen sich nicht, jedenfalls nicht auf vernünftige Weise: alles bleibt offen. Der Stil des Dichters ist durchaus »realistisch«, er ist konkret, sachlich, schlicht und genau, (…). Und trotzdem tritt überall der Hintersinn und Unsinn des Daseins im unsicher gewordenen Gefüge der Wirklichkeit zutage, das Hinterwirkliche bricht in Form des Absurden, Ironischen und Paradoxen in den Bereich des Greifbaren und Sichtbaren ein.“

Und Holthusen schließt den Kreis zu Rilke mit:
„Das Erlebnis einer fundamentalen Unsicherheit im Wirklichen, das Kafka beherrscht, ist in anderer Form auch für Rilke zum Thema geworden. Der moderne Mensch, der […] »eine dumpfe Umkehr der Welt« an sich erfährt, er ist durchaus heimatlos, ein verlorener Sohn, der die Liebe des Vaters nicht will, ein Mensch ohne Haus, der nicht in das alte Haus zurückkehren will.“ – Jim, doch nicht so, Jim …

Ist es das? Die Wirklichkeit von US funktioniert nicht. Aber in welchem Sinne? Und welche (moderne) Wirklichkeit funktioniert hier nicht? Dieses Nichtfunktionieren okkupiert alle Ebenen der Lese- und Wahrnehmungsarten: es ist das „Es“ der Adoptivfamilie, in der eine perverse Gottesfürchtigkeit neben einer potenziert pervertierten Form von Inzest gelebt wird; die daraus erst resultierende Ambivalenz der AA zwischen „da draußen“ und „hier drinnen“ – „Die Wahrheit macht dich frei. Aber vorher macht sie dich fertig“, die, übersteigert in der Vorführung von Incandenzas „Der Witz“, die Zuschauer ihrer Selbstbespiegelung aussetzt und in den Chaplinesk gestalteten Lautäußerungen von Gentle, „Hhhaaahh Hhhuuuhh Hhhaaahh Hhhuuuhhh“, kulminiert, auf deren Basis dieser „die Geschichte neu zu erfinden“ gedenkt. Eine Basis, die Steeply, der nicht mehr genau weiß, „wo oben und unten ist“, nur noch in der „Unterjochung seiner Würde und Selbstachtung“ empfindet – Kafkas brachial erfahrene Paradoxale der „Hinterwirklichkeit“.

Holthusens Mensch, „der zu unaufhebbarer Gefangenschaft verdammt“ ist, steigert US von Hals Empfinden des „Ich bin hier drin“ zu einem „ich bin da gefangen drin“ und wechselt den Modus zu – „Wenn da eigentlich gar keiner drin ist“?! Dann?! Dann ist der als postmodern apostrophierte David Foster Wallace bei dem »Modernen«, bei Rainer Maria Rilke, angekommen, für den der Halt des euklidischen Standpunktes bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts keiner mehr sein konnte.

Sollten die Engel Rilkes in der »Unbehaustheit« von US zugegen sein …?

Denn –

„Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn …?

„Jeder Engel ist schrecklich. Und dennoch, weh mir,
ansing ich euch, fast tödliche Vögel der Seele,
wissend um euch.“

2 Kommentare zu Fragen und Folgen einer »Unbehaustheit«

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Clemens Setz

5. Oktober, 2009 um 10:37

@Nicoletta Wojtera
Ich glaube eher, dass das „Hhhuuhhh Hhhaaahh“ von Johnny Gentle einfach Darth-Vader-mäßiges Ein- und Ausatmen ist. Er trägt ja eine Sauerstoffmaske und überlässt das Reden Rod ‚The God‘ Tine. Was eine „chaplinesk gestaltete Lautäußerung“ sein könnte, ist mir auch noch nach längerem Überlegen nicht ganz klar. Chaplin assoziiere ich in erster Linie mit Stummfilmen. Meinen Sie eine Art Slapstick des Gesprochenen, ein Umherpurzeln und Auf-Bananenschalen-Ausrutschen der Wörter selbst? Wenn ja, dann verstehe ich das Beispiel (J. Gentle) nicht.

Zur Frage des Nicht-Funktionierens der Wirklichkeit von US: Ich kann mich noch an meine erste Germanistik-Vorlesung erinnern, die hieß damals „Geschichtliche Probleme der neueren deutschen Literaturwissenschaft“. Und da mussten wir folgenden Satz auswendig lernen, da der Professor erwähnte, er werde das ganz bestimmt bei der Prüfung fragen: „Die Satire ist eine belachbare Negation eines als negativ empfundenen Sachverhalts“. Das ist zunächst mal eine gute Definition, deren Brauchbarkeit eigentlich am Beispiel von US (das ja, wie schon öfter hier erwähnt, problemlos als große Weltsatire gelesen und gedeutet werden kann) leicht zu bestimmen sein müsste. Aber wenn ich mir den Roman wirklich als Ganzes vor Augen rufe, erscheint mir seine satirische Dimension eher wie die Kunst der Untertreibung, die sich als Übertreibung ausgibt. Es scheint alles überhöht in dieser Satire, nichts ist ‚gewöhnlich überhöht‘, alle körperlichen und geistigen Gebrechen sind immer noch potenziert und wie in absurden Jahrmarktsspiegeln vervielfacht. Das geht bis zu billigen Witzen, wie z.B. dem Lineal, mit dem Rodney Tine jeden Morgen Penis-Messungen vornimmt. Das Problem dabei ist, hinter dieser barocken Narrenlandschaft steht nicht einfach ein „negativ empfundener Sachverhalt“, wie z.B. soziale Ungerechtigkeit, Rassismus etc. – sondern das absolute Grauen, die Endlosschleifen, aus denen wir bestehen, ein sich ewig wiederholender Murmeltiertag in der Hölle.
Doch dieser Blick in die Hölle wird durch den ganzen Slapstick und den Spaß, der dem Leser bereitet wird, gleichzeitig erträglich und sogar genussvoll aufbereitet. Es scheint eine Übertreibung, doch gleichzeitig ist diese Satire eine ertragbare, eine genießbare Kunstform, kein wirklicher Blick in die Hölle, sondern ein Blick in ein freundlich aufbereitetes Hologramm der Hölle, wo man aus sicherer Entfernung (mit dem Finger deutend, sich den Bauch vor Lachen haltend) auf die Einwohner dieser Hölle blicken kann (vgl. die auf S. 824 von Michael Pemulis erklärte Incandenza’sche Lösung des Müllproblems der Annullarfusion, auch ein Konzept, in dem chaplineske Purzelbäume eine Rolle spielen…). Denn einen wirklichen Blick in diese Hölle würde man – ebenso wenig wie die Gegenwart der Rilke’schen Engel – nicht überleben. Die Satire gibt uns den Eindruck, wir könnten den Blick in die Hölle, die die Welt ist, tatsächlich überstehen und dann sogar noch über ihn berichten, nel mezzo del cammin‘ etc.

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wolf schwarzkopf

5. Oktober, 2009 um 11:32

los angeles
eine anfrage, quälend für mich,
weil angehäuft und mitgeschleppt
im zusammenhang – euklidisch nicht euklidisch –
die übertragung/übersetzung von „digital“ und „annulation“ (bspw. hal s. 726)
hier im buch.
danke

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Über das Buch

1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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