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Durch allerlei Reisen und damit verbundene Abhaltungen bedingte Lesepausen, zweimal sogar von mehr als einer Woche, haben zwar nicht zum Zeitrückstand (das Ding liest sich ja auffallend leicht), aber zu einer gewichtigen Erkenntnis geführt: Keinerlei Entzugserscheinungen! Man kann den US also lesen, und man kann es ebenso gut auch lassen. (Das gilt jedenfalls für mich und ist auch ein bisschen enttäuschend.)
Ohnehin ist nach dem Alban-Nikolai-Herbst-Beitrag vom 09. September, der sehr weitgehend mein eigenes Leseerleben wiedergibt, zu diesem Thema nicht mehr allzu viel zu sagen. (Wobei ich es noch immer als exzeptionellen Luxus empfinde, dass die abendliche Lektüre, wenn der Tag mit seinen Aufgeregtheiten praktisch vorbei ist, über den egozentrischen Mehr-oder-minder-Genuss hinaus einen besonderen zusätzlichen Sinn bekommt – dadurch, dass man sich in einer gemeinsam lesenden, reflektierenden, von einem Rahmen gehaltenen, wenn auch unsichtbaren, virtuellen Gruppe fühlt.)
Die in den Blog-Beiträgen (da längere Zeit offline, konnte ich sie sie nicht kontinuierlich lesen, sondern habe sie jetzt in toto konsumiert – wobei mich manche Beiträge an die von DFW ironisch zitierte „Mode“ erinnerten, „Kunst aus den Accessoires künstlerischer Inszenierung zu erschaffen“, S. 331), die in einigen Beiträgen also immer wieder auftauchende Frage, ob Erzählweise und Struktur im US wohl durchdachter Planung und kunstvollem Kalkül folgen oder einfach nur, einem Naturereignis gleich, „geschehen“, mag durch ein in der Zeitschrift „The Onion“ Anfang 2003 erschienenes Interview mit Claire Thompson spotlightartig beleuchtet werden. (Claire Thompson, jugendliche Professorin für politische Wissenschaften – und nicht zu verwechseln mit der Titelfigur aus DFWs bitterer Erzählung „The View from Mrs. Thompson´s“ aus dem gleichen Jahr –, war seit Anfang 2001 für zwei Jahre DFWs Partnerin, bevor er Karen Green heiratete.)
Das Interview ist vor allem deshalb aufschlussreich, weil es fünf Jahre vor seinem Tod und der danach folgenden nahezu sakralen Bewunderung und Glorifizierung publiziert wurde, und soll hier für jene, die es noch nicht kennen, zusammengefasst (und mit meinen eigenen Worten) erwähnt werden.
Bei Rückkehr von einer Reise hatte DFW Claire Thompson einen dicken, verschlossenen Briefumschlag mit den Worten überreicht, er habe unterwegs über einiges nachgedacht und wolle sein Leben auf ganz andere Weise neu beginnen. Der Inhalt des Briefes werde ihr alles erklären. Thompson berichtet, sie habe den Umschlag zunächst gar nicht geöffnet, da sie gedacht habe, es sei wieder einmal eine seiner ausgedehnten Abhandlungen – über die Gründe zum Beispiel („was weiß ich“), weshalb er künftig keinen industriell verarbeiteten Zucker mehr essen wolle oder weshalb er das Fernsehgerät hinausgeworfen habe. Oder so etwas wie die in 88 durchnummerierten Punkten gegebene Erläuterung, weshalb er keine Geburtstagsparty wünsche. Oder aber etwa wie der Brief, in dem er erklärt hatte, weshalb er künftig „Dave“ genannt werden wolle, mit einer über viele Seiten reichenden Aufzählung aller Personen namens Dave und David, denen er in seinem bisherigen Leben jemals begegnet war.
Erst als DFW sie zwei Tage später angerufen und nachgefragt hatte, was sie über den Brief denke, habe sie den Umschlag geöffnet, sich hingesetzt und die ersten 20 von insgesamt 67 Seiten mit dem Titel „Breakup Letter For Claire – Rough Draft“ gelesen.
An DFWs Texten habe sie es immer als ärgerlich empfunden, dass man sich bis zur Mitte durchlesen müsse, bis man verstehe, wovon auf der ersten Seite überhaupt die Rede ist. So sei in diesem Brief von einem „Der Schwätzer“ genannten Menschen die Rede gewesen, bis sie endlich auf Seite 11 verstanden habe, dass ihr Freund Renée damit gemeint gewesen sei, sodass sie alles noch einmal von vorn habe lesen müssen. Und dann die vielen Fußnoten, selbst in seinen Liebesbriefen! Ihrer Meinung habe er da übertrieben.
Nach 20 Seiten habe sie die Lektüre des Briefes schließlich unterbrochen, um das Abendessen zu machen, und jenen am anderen Morgen in einer Schublade verstaut – wo er (zum Zeitpunkt des Interviews) noch immer liege. Möglicherweise werde sie sich den Rest noch einmal vornehmen. In gewisser Weise sei sie schon neugierig, wie das Ganze ausgeht. Aber dann wieder – sie kenne ja ihren David – „it probably just leaves a whole bunch of loose ends untied“ (m.a.W.: möglicherweise bleibt ein ganzes Bündel loser Enden im Raum stehen).
1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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12 Kommentare zu DFW – life!
Thorsten Krämer
1. Oktober, 2009 um 16:07
Nota bene: „The Onion“ ist ein amerikanisches SATIRE-Magazin!
Clemens Setz
1. Oktober, 2009 um 17:46
Also, wenn ich einen 67-seitigen Schlussmach-Brief von jemandem bekäme, würde ich ihn auf jeden Fall ganz durchlesen, egal ob er Fußnoten hat oder nicht…
Jim Grund
1. Oktober, 2009 um 18:34
Sie meinen sicher das hier? http://www.theonion.com/content/node/27769
Ich glaube allerdings, das ist Satire – schließlich ist The Onion ein Satiremagazin. Witzig und treffend ist es allemal.
Erwin Moser
1. Oktober, 2009 um 19:07
@Hans Wedler
der Abschiedsbrief an seine damalige Freundin Claire Thompson! Das war ein frei erfundener Beitrag des amerikanischen Satiremagazins „The Onion“! Jahre später nahmen sie sich nochmal DFW vor mit der Schlagzeile „DFW Geständnis: Ich kann weder lesen noch schreiben!“ Das sollten Sie ihrem Artikel unbedingt noch als „Tatsache“ hinzufügen!
Aléa Torik
2. Oktober, 2009 um 09:31
@ Clemens Setz
Zum Schlußmach Brief: Wenn ich einen 67-seitigen Abschiedsbrief bekäme, würde ich mir denken, Schluss machen kann man mit solchen Worten wie Scher dich zum Teufel (in der Sprache von DFW also SDZT), Fahr zum Teufel (FZT), Hau ab (HA) oder noch kürzer Adé (A). Man will‘s ja beenden, da braucht man nicht mehr so viele Worte. Wer 67 Seiten schreibt, der will nicht Schluss machen. Der will weitermachen. Nur weiß er vielleicht nie wie. Und mit diesem Brief macht er sich auf die Suche. Bei der Menge Worte würde ich ihm sowieso raten, vom Abschiedsbrieffach ins Romanfach zu wechseln. Ich finde nach diesen (manchmal) furiosen Anfängen – ich rede von den sogenannten Beziehungen – und diesen (manchmal) erbärmlichen Enden, liegt doch der größte Teil der Veranstaltung in der Mitte, zwischen Anfang und Ende. Gerade dort kann es ja manchmal schwierig werden. Und dort liegt auch der größte Teil der Romane, zwischen dem (manchmal) furiosen Anfang und dem (manchmal) erbärmlichen Ende. In der Mitte zeigt sich auch die Könnerschaft so mancher Beziehung und so mancher Begabung. Anfangen kann jeder Idiot. Aufhören auch. Durchhalten muss man können!
Aber ich will Begabung und Beziehung jetzt auch nicht zu stark parallelisieren oder damit jemanden paralysieren. Vor allem mich selbst nicht, ich wollte gerade meinen Arbeitstag einläuten.
Einen herzlichen Gruß nach Graz
Hans Wedler
2. Oktober, 2009 um 14:29
Danke für die netten Kommentare. Ja, so ist eben Satire. Und haben wir es im US nicht fortwährend mit Satire zu tun? Und was ist denn nun „Wahrheit“ und was „Satire“ – im Roman und im Leben?
Egal – das fiktive Interview gibt m. E. jedenfalls recht genau wieder, wie es mir und einigen anderen, die hier mitgeschrieben haben, beim Lesen von US ergeht.
Stephan Bender
2. Oktober, 2009 um 16:28
Und wir gehen noch einen Schritt weiter: Jede wirklich große Literatur ist eine Satire, gedacht vom Autor in die Zukunft mit den realen Persönlichkeiten von heute.
Will jemand ernsthaft behaupten, Hamlets Gang mit dem Schädel seines Vaters in der Hand, der auch noch zu ihm spricht, sei keine Satire? Der Witz an dem Stück ist doch nur, dass reale Hofschranzen mitspielen, die den Verwirrten in eine noch größere Verwirrungs stürzen, damit ihre Lebenslügen nicht auffliegen.
Auch Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“ ist eine Satire eines fühlenden Menschen, der sich ganz darauf konzentriert, während seine Umwelt versucht, rationale Entscheidungen zu treffen, damit ihre Lebenslügen nicht auffliegen.
Musils „Mann ohne Eigenschaften“ ist eine Satire auf die Ku.K.-Monarchie und nie hat jemand schöner politische Aktionen schöner entlarvt als die „Parallelaktion“ des Geheimbundes von Menschen, die eigentlich nichts zu sagen haben.
Will ernsthaft jemand behaupten, morgens als Käfer auf dem Rücken liegend aufzuwachen, wäre keine Satire?
Und dann kommt Wallace und zeichnet mit den in den Achtzigern geborenen Personen ein Zukunftsspektakel auf, das an Absurdität nicht zu überbieten ist, aber von seinen hochfiligranen Personenbeschreibungen lebt. Das ist Satire, egal was man da hineininterpretiert.
Clemens Setz
2. Oktober, 2009 um 18:00
@ Stephan Bender
„Jede wirklich große Literatur ist eine Satire.“ Na ja, ein bisschen zu zugespitzt, diese These. Nicht jedes Stück Literatur, in dem Ironie vorkommt (was tatsächlich eine Grundkonstante der bedeutendsten Werke der Weltliteratur ist), ist gleich eine Satire. Ein leicht anzuführendes Gegenbeispiel wäre „Moby Dick“. Das kann man wirklich nur mit großer Mühe als Satire auf den Wahlfang oder auf männliches Verhalten oder so bezeichnen.
@ Aléa Torik
Ich würde mir wahrscheinlich gleich zu Beginn einer Beziehung ausdrücklich wünschen, gegen Ende der Beziehung eine umfangreiche Abhandlung über die Gründe vorgelegt zu bekommen, warum ich ein unerträglicher Zeitgenosse bin und man nicht mit mir zusammenleben kann. Aber wahrscheinlich wäre gerade dieser ausdrückliche Wunsch bereits ein Beweis dafür, dass ich tatsächlich ein unerträglicher Zeitgenosse bin – und ein guter Grund, sich von mir zu trennen.
„Ich hab mit ihm Schluss gemacht.“
„Warum?“
„Weil er von mir verlangt hat, dass ich ihm, sollte ich eines Tages mit ihm Schluss machen, einen 67-seitigen Schlussmach-Brief schicke.“
Das ist eindeutig DFW-Logik. Das hab ich jetzt vom vielen Lesen. Aber diese logischen Möbiusschleifen machen auch ziemlich süchtig. Und sind zugleich traurig und witzig, fast in jedem Fall. Etwa bei der Szene, wo Joelle v. D. Don Gately erklärt, warum sie den Schleier trägt.
„Nun, Mr Gately, die Leute kapieren an rüde Verunstalteten und Entstellten nie, dass der Drang, sich zu verstecken, von einem unendlichen Schamgefühl ob des Drangs motiviert wird, sich zu verstecken.“
Das Schlüsselwort ist hier natürlich ‚unendlich‘, da es wortwörtlich zu verstehen ist.
Clemens Setz
2. Oktober, 2009 um 18:01
Walfang
Stephan Bender
2. Oktober, 2009 um 19:00
@ Clemens Setz:
Moby-Dick; oder: Der Wal (englisch Moby-Dick; or, The Whale) ist ein 1851 in London und New York erschienener Roman von Herman Melville. Das erzählerische Rückgrat des Romans ist die schicksalhafte Fahrt des Walfangschiffes „Pequod“, dessen einbeiniger Kapitän Ahab mit blindem Hass den weißen Pottwal jagt, der ihm das Bein abgerissen hat. (Wikipedia)
Also sorry, Clemens: Das ist Satire! Es ist so ähnlich, als wenn ein einarmiger Wildhüter ein Krokodil jagt, das ihm den Arm abgebissen hat. Der Kampf des Menschen gegen die Natur, da konnte der einzelne schon immer gegen sich und für die Natur wetten.
P.S. Die „Tagebücher der Anne Frank“ dagegen sind keine Satire.
Svealena Kutschke
2. Oktober, 2009 um 19:48
Och, Wahlfang war doch auch hübsch. Und warum nicht eine 67-seitige romantisch-euphorische Abhandlung als Antrag zum möglichen Beginn der Beziehung fordern? Dann spart man sich das Ende. Die Hürde nimmt keiner.
Clemens Setz
2. Oktober, 2009 um 22:08
@ Stephan Bender
Ja, da muss ich mich wohl geschlagen geben. Bei dem Zitat aus dem Wikipedia-Eintrag hab ich, zugegeben, laut lachen müssen. Moby Dick kann man also durchaus als Satire sehen, okay. Hab wieder was dazugelernt.