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„Technisch großartig, dieses Werk, die Ausleuchtung und die Winkel bis in die Details der Einzelbilder geplant. Aber seltsam hohl und leer, ohne Gespür für ein dramatisches Telos – keine narrative Entwicklung auf eine richtige Geschichte hin; keine emotionale Entwicklung auf ein Publikum hin … Für Joelle waren diese Filme eher die Selbstgespräche eines hochintelligenten Menschen.“
Joelles Beschreibung ihrer ersten Eindrücke von den frühen Filmen des J.O. Incandenza (S. 1063) klingt so, als charakterisiere DFW seinen eigenen Roman. Und wie zur Bestätigung meiner Anmerkungen vom 17.10. („Nach 800 Seiten …“), dass das im ganzen Buch spürbare, Distanz schaffende Zuviel vor allem für den Autor notwendig sei, um die Realität besser zu ertragen, heißt es kurz darauf über Hals verstorbenen Vater: Es sei so, als habe „er nicht anders gekonnt, als aufblitzende Menschlichkeit zu zeigen, nur um sie dann so kurz und unanalysierbar wie möglich zu halten, weil sie ihn sonst irgendwie kompromittiert hätte“.
Dass DFW letztlich doch eine moralische Wirkung des US intendierte, zeigt eine anschließend kurz beschriebene Filmsequenz des J.O.I., eine vierminütige „reglose Aufnahme“ von Gian Lorenzo Berninis „Verzückung der heiligen Theresa“. Die „Stasis der klimaktischen Statue“ präsentiere „in einer verborgenen Geste, die geradezu etwas Moralisches hatte, … die Selbstvergessenheit im Alkohol als der in Religion/Kunst untergeordnet“. Satire hingegen wird eine klare Absage erteilt. Satire stamme in der Regel von Menschen, „die selber nichts Neues zu sagen hatten“.
Was DFW Neues zu sagen hat, findet sich (vor allem) zwischen den Seiten 800 und 1100, die ich als bisherige „Klimax“ des Buches erlebt habe, Seiten, in denen über weite Passagen hin dieses Zuviel wie weggeblasen und die Distanz nahezu aufgehoben ist. Es geht um eine Beschreibung der in allen ihren Winkeln ausgeleuchteten Depression. Das so viele Buchseiten einnehmende Suchtproblem und die sadistischen Grausamkeiten erscheinen hier nur als deren Teilaspekte.
Nach einer Darlegung des stumpfen bis verzweifelten Erlebens der „Anhedonie“ als depressives Symptom (S. 994 ff.), das Wallace auch als Folge der indoktrinierten Fehlerwartung beschreibt, persönliche Leistung und „Erfolg“ stabilisiere das Selbstwertgefühl, kulminiert sein Bericht in der absoluten Einsamkeit, die ein Mensch in den schwersten Phasen der Depression erleidet, eine Einsamkeit, die sich am schmerzhaftesten im Zusammensein mit den Nächststehenden zeigt. Hals Mutter, heißt es, „hört ihr eigenes Echo aus ihm heraus, glaubt aber, ihn zu hören, und das gibt Hal das einzige Gefühl, das er seit einiger Zeit bis Oberkante Unterlippe fühlt: Er ist einsam“.
Es ist die gleiche abgrundtiefe Einsamkeit, wie sie von DFW in den letzten Monaten vor seinem Suizid – und übrigens auch von Heinrich von Kleist – dokumentiert ist. Wallace´ Schilderung der Depressionsstadien würde jedem medizinischen Lehrbuch zur Ehre gereichen.
Ausdrücklich stellt DFW das depressive Erleben des Individuums in einen gesellschaftlichen Rahmen. „Anhedonie und innere Leere“ würden in der amerikanischen (man könnte auch sagen: in der westlichen) Gesellschaft als „hip und cool“ behandelt. Der daraus resultierende „missmutige Zynismus“ sei nach der Pubertät, die dafür besonders anfällig sei, „nicht mehr wegzukriegen“. Gefühl sei in Amerika gleichbedeutend mit Naivität. Und Naivität sei „in der Theologie des millenialen Amerika die letzte wahrhaft schreckliche Sünde“.
Wallace stellt auch die Frage, warum untadelige, liebevolle und geduldige Eltern so viele „emotional zurückgebliebene“, „egozentrische“, „chronisch depressive“ und „von narzisstischem Selbsthass verzehrte“ Kinder aufziehen. Sie findet sich in dem Bericht des einst engsten Freundes von Orin, Marlon K. Bain, gegenüber einer gewissen „Ms. Helen Steeply“ (in der Endnote 269) und ist auf Avril Incandenza gemünzt, Hals Mutter. Das gleiche Thema hat DFW in fast identischer Form in der späteren Erzählung „Suicide as a Sort of Present“ verarbeitet.
Am eindrücklichsten aber stellt DFW das Erleben der Depression in einer nächtlichen Beichte (S. 934 ff.) des Ennet-House-Insassen Geoffrey Day dar: als das absolute Grauen. „Es stieg auf und wuchs und verschlang alles und war grauenvoller, als ich es je ausdrücken könnte… Seit jenem Tag verstehe ich intuitiv, warum Menschen sich umbringen.“ Ein Suizid erfolge nicht etwa aus nüchtern bilanzierendem Abwägen oder „weil der Tod plötzlich reizvoll erscheint“, sondern weil er „der etwas kleinere Schrecken zweier Schrecken“ sei. Deshalb auch seien die bei Therapeuten so beliebten „Nicht-Suizid-Verträge“ schlicht „grotesk“ – sie verstärkten nur die Einsamkeit des Depressiven.
Knapp 200 Seiten bleiben mir noch zum Lesen bis zum Ende des Buches. Mehr an Kulmination abgründiger Verzweiflung aber bedarf es eigentlich nicht.
1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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5 Kommentare zu Das Grauen
Nicoletta Wojtera
1. November, 2009 um 21:18
„The most modern of men is an addict.
To put this another way, how many hours will you spend online this week? For real?
Hi. My name is — .“
„Jim´s Story“, „Bill´s Story“, … im »Big Book«.
(Michael Tolkin, In: A New Literary History of America, S. 695ff., Alcoholics Anonymous)
Iffland
1. November, 2009 um 23:14
Lieber Hans Wedler,
vielen Dank für diesen Beitrag. Mal abgesehen davon, dass man ja immer gern liest, was man selbst so oder ähnlich gedacht, gefühlt, erlebt hat… Ich empfand auch auf den von ihnen genannten Seiten so etwas wie eine Verdichtung, weiterhin eine Art Kleinteiligkeit (Joelles Beschreibung des Incandenzaschen Abendessens), aber eben ohne die Distanz, ohne irgendein Kunsthandwerkertum. Alles stimmt hier, hier erfahren wir die von Mario an anderer Stelle vermisste „Echtheit“.
In diesen Momenten wird für mich dieser gute Roman zu einem außergewöhnlichen.
Mit besten Grüßen
Iffland
palamede
4. November, 2009 um 22:20
zu S. 1071 und dem Gespräch zwischen Joelle und Dr.Incandenza über Bazin, „einen Filmtheoretiker, den Er Selbst verabscheute.“:
„Die Funktion eines Kritikers besteht nicht darin, auf einem silbernen Tablett eine Wahrheit zu servieren, die nicht existiert, sondern im Denken und Empfinden derer, die ihn lesen, soweit wie möglich den Schock des Kunstwerks zu verlängern.“ André Bazin, Überlegungen zur Kritik, 1958).
Schade, daß der Verrückte Storch jedesmal „gequält das Gesicht “ verzieht, wenn der Name Bazin fällt. Immerhin eine Maxime, der zweifellos die meisten Kritiker in diesem Blog huldigen?!
achim szepanski
7. November, 2009 um 17:22
was mir immer wieder hier aufstößt hier ist diese infantophile haltung, ach was schreibt der hier, schrecken, suizid etc. , ach welche katastrophen ( im übrigen steht der westen unter dem imperativ des genießens und des erlebens, nicht der anhedonie und der leere, auch das weiß wallace), also auch hier neuer blog mitprint und weitern möglichkeiten über
merve,edition mille plateaux und tiqqun-
Guido Graf
7. November, 2009 um 17:47
dem „westen“, der ja auch eine schöne Konstruktion ist, wird es sicher helfen, Hedonie und Anhedonie nicht demselben Komplex zuzuordnen: zwar weiß ich nicht so genau, was Wallace alles wusste, aber sicher ist richtig, dass er sich im Unendlichen Spaß und zahlreichen anderen Texten mit diesem Komplex beschäftigt hat; so ganz erschließt sich mir aber noch nicht, was an dem von Hans Wedler und offenbar anderen auch Dargestellten krankhaft sein mag, noch dazu auf zu inkriminierende Art krankhaft? das würde mich ernsthaft interessieren und vielleicht kann sich Achim Szepanski dazu ja noch äußern, ob hier oder in einem neuen Blog (was ich im übrigen auch eine großartige Idee finde) –