Als Antidot: Wandern

21. August 2009 |

Schon der Titel klingt ja nicht gerade einladend. Auch wenn die prodromalen Zeitungsberichte vor Erscheinen der deutschen Ausgabe von „Infinite Jest“ den startbereiten Leser über die zentralen Vorkommnisse im Buch bereits gut informiert hatten, denkt dieser doch zunächst unweigerlich an die von DFW in seiner Kreuzfahrt-Reportage beschriebenen drei klassischen Spielarten der Todesverdrängung in der modernen Gesellschaft: die „Ertüchtigung“ (zum Übertünchen des Verfalls), die „Entspannung“ (i. S. von Abschalten aller Wahrnehmung) und eben das „gnadenlose Vergnügen“. Dahinter aber lauern, heißt es dort, Traurigkeit, Verzweiflung und Todessehnsucht.

Immer wieder musste ich in diesen Tagen an die Ausstellung von Richard Long (derzeit in der Tate Britain) denken – als diametralen Gegenentwurf zu der Welt, wie Wallace sie uns vorführt. Long, der Wanderer auf vorher erdachten geometrischen Figuren, mal einige hundert Meilen schnurgeradeaus, mal in immer größer werdenden konzentrischen Kreisen um einen markanten Punkt herum, in Kanada, der Mongolei, in der Sahara oder in Mittelengland, Steine sammelnd, Wege markierend – er setzte sich schlicht der Natur, dem Kosmos aus und reflektierte dabei, was geschah: nichts weiter, als dass sein Wandern die Landschaft und die Landschaft zugleich ihn veränderte. Das Bewusstsein der Endlichkeit und die Todesnähe selbstredend inbegriffen. Alles andere als ein „unendlicher Spaß“, wenig Humor, auch keine Entspannung und erst recht keine Geschäftigkeit.

Vielleicht ist Richard Long so etwas wie ein Pionier und Wallace als Schriftsteller dann einer, der dem Pionier hinterher schaut.

Nachdem der Postbote, pünktlich am 20. d. Monats, den Backstein mir ins Haus getragen hatte, fand ich mich sogleich wieder eingefangen. Zunächst mit starrer Miene an einem blanken Konferenztisch sitzend, dann auf den Fliesen einer öffentlichen Toilette am Boden liegend, stundenlang beschäftigungslos wartend in einer ziemlich eintönigen Wohnung. Als kleiner Lichtblick auf Seite 36 die erste der herbeigesehnten, bei DFW so markanten Fußnoten, die in diesem Buch Endnoten sind; diese erste noch ein bisschen unspektakulär. Eines der zwei zuvorkommenderweise vom Verlag eingelegten Trauerbänder markiert nun die Seite 1411.

Erst jetzt wird mir deutlich, dass auch in DFW´s Erzählbänden von körperlicher Bewegung wenig die Rede ist, dass die Protagonisten meist in Statik verharren. Wenn überhaupt Bewegung, dann wird mit dem Auto gefahren, bis auch das (in The Suffering Channel) während eines Regengusses im Matsch stecken bleibt und versinkt. In der Tristan-Erzählung führt der einzige dokumentierte Gang den Mörder Reggie Ecko durch den Strandsand zu seinem Isolde-Opfer, und auch der gute alte Neon hat bei seinen Versuchen, das Heucheln zu verlernen, zwar Rennradtouren und Joggen erprobt, aber eben nicht das Wandern. Nur in Wallace´ erstem Roman, dem Besen im System, wurde noch veritabel gelaufen, mal auf dem Campus eines College, gegen Ende sogar bei einer ausgedehnten Exkursion durch eine Freizeit-Erholungs-Wüste.

Vergeblich fahndete ich übrigens vorn und hinten im Unendlichen Spaß nach dem doch eigentlich obligatorischen Hinweis des Verlags auf mögliche gesundheitliche „Risiken und Nebenwirkungen“ der Lektüre von mehr als 1500 Seiten. Als (einziger?) Banause unter lauter Philologen und Literaten sehe ich mich, sozusagen professionell, veranlasst zu einer entsprechenden Info über lauernde Gefahren: Kopfschmerzen infolge Genickstarre, gestörter Schlafrhythmus, Angstträume (die Warnung kommt leider bereits zu spät: siehe Beitrag von Georg M. Oswald von gestern!), Adipositas infolge Fehlernährung, Fettleber nach unkontrolliertem Alkoholkonsum, Inaktivitätsarthose aller vier Sprunggelenke, Unterschenkelthrombose, Ulnarisparese (bei einseitiger Buchhaltung), Obstipation mit nachfolgenden Hämorrhoiden, Depression (aus vielfältiger Ursache).

Was man dagegen tun kann? Bewegung, natürlich! Aber nun nicht gleich ins Fitnessstudio, denn das wäre – tiefenpsychologisch betrachtet – eine Form des Mitagierens, da die Welt des DFW ja leider mehr oder minder auch die unsrige ist und Mitagieren die Distanz aufhebt und den Blick fürs emotionale Ganze trübt. Es reicht auch, alle zehn Seiten mit straffem Gang dreimal durch alle Wohnräume zu laufen oder einmal ums Haus. Oder eben wandern. Zehn Kilometer geradeaus, wenn zufällig vor Ihrer Tür eine Wüste liegen sollte. Eine Steppe tut’s auch. (Nur nicht in einem Moor!) Oder auf der Direttissima hinauf auf Ihren Hausberg und in weiten Spiralen wieder bergab. Á la Richard Long. Versuchen Sies mal! Viel Spaß dabei!

Prof. Dr. med. Hans Wedler, Facharzt für Innere Medizin, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Ehem. Ärztlicher Direktor der 2. Medizinischen Klinik (Klinik für Internistische Psychosomatik) Bürgerhospital Stuttgart. In den Heilbronner Kleist-Blättern wird demnächst ein Aufsatz von ihm über Kleist und Wallace erscheinen.

2 Kommentare zu Als Antidot: Wandern

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Katy

21. August, 2009 um 15:08

Wie’s scheint ist der einzige Banause auch der Einzige, der uns bisher was zum Buch erzählen kann. Weiter so, sonst müssen wir es womöglich selber lesen.

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wolfgang Hörner

21. August, 2009 um 18:17

Na ja, den Titel finde ich als alter Sterniaer nun gar nicht uneinladend, verheißt er doch Yorickiaden noch und nöcher. Man kann ja inzwischen in jeder Zeitung lesen, daß es ein Shakespeare-Zitat ist ( „A fellow of infinite jest“), das Lieblingszitat auch von Laurence Sterne, der sein literarisches Alter Ego nach ebenjenem Hofnarren „Yorick“ nannte. Eine ganz brauchbares Buch über Sterne heißt so („A fellow of infinite Jest“ von Thomas Yoseloff). Es gibt also gleich ein mehrfaches Bedeutungsumfeld im Titel, das mich zumindest neugierig darauf macht, was innen so kommt. Verstehe allerdings, wenn es anderen damit nicht so geht.
Von den Fußnoten war ich allerdings, als der Ziegel heute entraf, auch eher enttäuscht. Alles brav hinten versammelt und gar nicht so überbordend wie es im Vorfeld klang.
Aber vor allem großes Glück: Endlich ein BUCH!!! Hatte mich vorher 250 Seiten durchs e-book gequält. Wie unendlich viel besser liest sich das im Buch, im guten alten.

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Über das Buch

1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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