Attest

31. Oktober 2009 |

Der Mitbewohner backt Kuchen und ich lege meinen Kopf auf die Küchenwaage. ERROR, liest der Mitbewohner ab. Das wundert mich nicht. Mir war doch so.
Nicht dass das am unendlichen Spaß läge, den ich in der Tristesse meiner persönlichen Quadratmeter hätte. Aber es ergänzt sich ganz gut.
Marathe und Steeply gehen mir immens auf den Keks. Auch nach 700 sitzen die beiden noch auf dieser Felsnase, pflanzenartig, und nesteln entweder an der Decke über den Beinen oder der Perücke rum. Mittlerweile streiten sie sich um eine Dosensuppe, die ein politisches Gleichnis sein soll.
Aber Gately und die anderen tristschönen Gestalten in EnnetHouse machen es mir leicht, 300 Seiten aufzuholen, nachdem ich während der Buchmesse das Lesen verlernt habe, wie es sich gehört. Und wenn Gately „nervös wie eine junge Braut“ seinen klitschigen Hackbraten mit Reibekäse und Cornflakes „wegen der Knusprigkeit“ serviert, gibt es mal wieder diesen Fall: manche Szenen sind so schön, dass es ein echter Jammer ist, dass sie nicht real sind. Denn für ein Abendessen mit Gately würde ich jetzt sofort meinen Kokon aufbeißen, die Zähne putzen und furchtlos in diese seltsame Welt außerhalb meiner Wohnung reiten.

8 Kommentare zu Attest

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ulrich blumenbach

1. November, 2009 um 08:44

Och Menno, Frau Kutschke: Ausgerechnet die Dosensuppe schmeckt Ihnen nicht? Für mich ist das eine der Stellen des Romans, wo die Satire ins einfach nur noch Groteske umkippt: Zwei Männer diskutieren das Streben nach Glück, also das höchste Gut der amerikanischen Verfassung, am Beispiel einer Suppendose? Besser kann man das Fallhöhentheorem aus Sigmund Freuds Witz-Buch doch gar nicht illustrieren.

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Aléa Torik

1. November, 2009 um 10:23

Guten Morgen Frau Kutschke!

Richtig zu Hause fühle ich mich eigentlich nur in der Literatur, aber ich stehe mit meiner Promotion mit einem Bein in der Philosophie. Wenn man sich anschaut, welche enorme Breite die Diskussion von Freiheit versus Determination einnimmt, über alle – ich formuliere das jetzt bewusst etwas arrogant – Tochterdisziplinen wie Biologie und Hirnphysiologie, dann muss man zugestehen, dass DFW hier etwas macht, was man mindestens als verwegen bezeichnen muss: er thematisiert eines der ganz großen Themen der Philosophiegeschichte anhand von kanadischen Dosensuppen. Selbst wenn man diese Diskussion nicht in seinen Einzelheiten verfolgt – das sind seit Platon zentrale Themen nicht nur der Philosophie, sondern des Menschseins: kann ich das für mich Gute wollen, wenn es bei anderen zu Schlechtem führt? – muss man doch, wie ich meine, zugestehen, dass diese Diskussion anhand von Dosensuppen einfach unfassbar respektlos ist. Und Respektlosigkeit in der Literatur gefällt mir sehr.

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Svealena Kutschke

1. November, 2009 um 12:18

Die Dosensuppe, ja. Die ist doch für sich genommen schon ein Gleichnis. Auch wenn es nicht Campell ist. Auch ohne das ungespitztindenbodenrammen, ähm, ja.
Ich will doch nur, dass Steeply sich endlich mal HINSETZT. Seit 700 Seiten steht der arme Mann! Und auf Seite 765 lüftet er das Geheimnis: „Mit dem Kleid überlegt man sich zweimal, beovr man sich einfach hinpflanzt. Womöglich kriechen da….Dinger an einem hoch.“ Er sah traurig aus. „Hätt ich nicht gedacht“. Wenn das mal nicht tragisch ist!
Aber Herr Blumenbach, sie haben das Wort plietsch benutzt! Merci Much!

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Stephan Bender

1. November, 2009 um 15:08

Die Dosensuppe ist ein Gleichnis für sich? Wie das?

Da greifen wir doch lieber zu Blumenbachs „Fallhöhentheorem aus Sigmund Freuds Witz-Buch“ und sagen psychoanalytisch ganz offen, dass die Dose ein Gleichnis für ein weibliches Geschlechtsteil ist, aus dem wir übrigens alle entstammen. Ohne Mutter keine Kinder, ohne Kinder keine Gleichnisse…

Die Suppendose wiederum ist ein Symbol für die Emanzipation von einer überstarken Mutter, die uns mit ihrem leckeren Essen (und anderen barbarischen Tricks) lange Zeit gefügig macht, bevor das emanzipatorische Kind die Kraft der eigenen Libido entdeckt und im „Haus der tausend Dinge“ einen Dosenöffener kauft.

Kommen wir zum philosophischen Teil der Überlegungen: Der Umweltslogan „Ich war eine Dose!“ schlug im deutschen Gemüt ein wie eine Bombe; man hatte sich jetzt auch von der Ersatzmutter emanzipiert…! Wie krank unsere heutige Zeit ist, kann man an dem in den neunziger Jahren aufkommenden Slogan „Ich bin zwei Öltanks!“ erkennen. Das ist Schizophrenie in chemischer Reinstform. Oder würde jemand heutzutage einen Menschen ernst nehmen, der ernsthaft behauptet, er wäre drei Tütensuppen?

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Guido Graf

1. November, 2009 um 15:20

„Ich bin zwei Öltanks“ ist schon deutlich älter – womit ich den satirischen Teil dieses Threads gerne beschließen würde.

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Svealena Kutschke

2. November, 2009 um 11:16

Herr Bender, habe ich mich so unklar ausgedrückt mit Campell? Die Dosensuppe ist doch seit Warhol für sich schon gebrochen konnotiert.

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Stephan Bender

2. November, 2009 um 13:44

Liebe Svealena Kutschke,

nein, schon klar. Ich habe mich nur über den Satz „Die Dosensuppe, ja. Die ist doch für sich genommen schon ein Gleichnis.“ lustig gemacht, weil es nun mal der innere Charakter eines Gleichnisses ist, verglichen zu werden, und damit eben nicht für sich steht.

Wenn man bei Frauen plötzlich ein riesiges „Audry-Hepburn“-Poster in der Küche entdeckt, oder auch Pamela Anderson im Spind eines Sportlers, dann kann ich das irgendwie nachvollziehen. Was feiert der Mensch aber, wenn er eine riesige Dosensuppe auf Leinen zieht? Woran will er sich erinnern?

Fragen über Fragen…

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platero y yo

8. November, 2009 um 13:18

Keine Angst ich wärme die Dosensuppe nicht mehr auf. Aber Erwin Wurms Variation auf J.O.I.’s mikrogewelltes Ende passt wohl am besten in die Küche:

http://www.flickr.com/photos/peebot/3210740324/sizes/m/

http://www.flickr.com/photos/peebot/3209893169/sizes/m/

Und für die Statistiker ist dann ja alles wieder in Ordnung.

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Über das Buch

1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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