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Die Weltliteratur ist voll von Figuren, die irgendwelchen Dingen verfallen. Der eine jagt einem Wal nach, der ihn verstümmelt hat, der andere heiratet die unattraktive Mutter eines zwölfjährigen Nymphchens, von dem er besessen ist. Meistens sind es zumindest auf einer existenziellen Ebene verständliche oder nachvollziehbare Obsessionen.
Was aber passiert mit Leuten, die ihre gesamte Aufmerksamkeit an ein Ding hängen, das diese Aufmerksamkeit gar nicht aufnehmen kann? An ein inhaltsarmes, langweiliges Ding, aus dem man nicht einmal ein paar Tropfen Lebensphilosophie pressen kann?
1.) DFW erzählt von S. 920-933 in US eine Version dieser uralten und immer wieder durch die Literatur geisternden Geschichte, vielleicht eine der düstersten Versionen: Der Vater von Hugh Steeply verfällt der Fernsehserie M*A*S*H. Anfangs schaut er sie einfach gern an, dann findet er „auch die Wiederholungen der Syndizierung extrem wichtig. Die durfte er auf keinen Fall verpassen.“ Er stellt bei der Arbeit einen kleinen Fernseher auf, er geht nicht mehr zu seinen Bowlingabenden, die ganze Familie muss ihr Leben nun nach dem neuen Zentrum ausrichten. Der Vater schreibt bei jeder Folge alles in einem Notizbuch mit, zitiert im Alltag ausschließlich Szenen und Formulierungen aus der Serie und schreibt sogar Briefe an die fiktiven Charaktere. „Irgendwann konnte er dann über gar kein Thema mehr sprechen oder sich unterhalten, ohne es auf die Serie zurückzubeziehen. Das Thema. Ohne die Serie zum Referenzsystem zu machen.“ Irgendwann verlässt der Vater nicht einmal mehr sein Zimmer, sieht rund um die Uhr M*A*S*H-Folgen und unterzieht sie einer strengen Exegese: „Irgendwann im Spätstadium des Fortschreitens ließ der Alte Herr verlauten, er arbeite an einem geheimen Buch, das einen Gutteil der Militär-, Medizin-, Philosophie- und Religionsgeschichte der Welt revidiere und durch das Aufzeigen subtiler und komplexer Themencodes in M*A*S*H erkläre.“ Nur der Tod erlöst ihn, ein einfacher Herzinfarkt. Wie gesagt, es ist eine besonders finstere Version der Geschichte.
2.) Etwas weniger finster kommt die Version derselben Geschichte aus der Feder von J. L. Borges daher. Bei ihm heißt sie „Der Zahir“ und handelt von einem Mann namens Borges, der nach dem tragischen Tod einer Frau, in die er verliebt war, in einer Ladenschänke etwas zu trinken kauft und unter dem Wechselgeld, das ihm ausgehändigt wird, eine Münze findet, deren Bild ihn nicht mehr loslässt. „Ich überlegte, dass jede Münze dieser Welt sinnbildlich für die berühmten Münzen steht, die ohne Ende in Geschichte und Sage aufblinken. Ich dachte an Charons Obolus; den Obolus, um den Belisar bat; an die dreißig Silberlinge des Judas; an die Drachmen der Kurtisane Lais […]“. Genauso wie der Vater von Hugh Steeply sieht er die ganze Welt in dem unwürdigen, sinnlosen Gegenstand gespiegelt. Alles lässt sich aus ihm erklären – irgendwie. Der Mann namens Borges versucht daraufhin die Münze loszuwerden, aber es ist bereits zu spät: ihr Bild sucht ihn nachts heim, begleitet ihn überallhin, verdrängt schließlich alle Gedanken, verzerrt sogar, wie etwas extrem Massereiches, deren Raumzeit: „Früher stellte ich mir zuerst die Vorder-, dann die Kehrseite vor; heute sehe ich beide gleichzeitig.“ Er weiß, wie sein Schicksal aussieht: „Man wird mich füttern und ankleiden müssen; ich werde nicht wissen, ob es nachmittags oder vormittags ist; ich werde nicht wissen, wer Borges war.“ Aber sein Ende hat trotz allem eine etwas leichtere Dimension, das heitere Zuendeglühen eines sabbernden Idioten, dessen Hoffnung, hinter der Münze befinde sich möglicherweise Gott, nicht einmal von humorlosen Theologen widerlegt werden kann.
3.) Die leichteste und hellste Version dieser Geschichte stammt von Peter Bichsel. Sie heißt „Jodok lässt grüßen“. Da sie vollkommen ist und auch ziemlich kurz, verweise ich auf den Link, hier.
Vielleicht ist diese Geschichte deswegen am erträglichsten, weil am Ende die romantische Ironie eingreift und alles nur Erfindung war. Der Großvater war gar nie von der geheimnisvollen Silbenfolge JODOK besessen. Aber für den Enkel, der die Geschichte erzählt, besteht noch Hoffnung: „Wenn ich einen Onkel Jodok hätte, ich würde von nichts anderem mehr sprechen!” Immerhin hat er gerade eine Geschichte erzählt, in der diese Silbenfolge äußert oft vorkam. Wer weiß, wie seine zukünftigen Äußerungen aussehen. Aber trotzdem wird er alles auf JODOK sagen können, was ihm zu sagen ein Bedürfnis ist. Wie das Notizbuch von Hugh Steeplys Vater ist der Name Jodok eine Basis, aus der man mühelos den Vektorraum, der die Welt ist, aufspannen kann.
„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen / die sich über die Dinge ziehen“, heißt es bei Rilke. In der Tat scheint der menschliche Verstand in erster Linie dazu erdacht worden zu sein. Und darum berühren uns diese Geschichten von vollkommener Unfreiheit aufgrund irgendeiner Bagatelle wahrscheinlich auch so: Sie zeigen uns, dass ein winziger perlmuttkleiner Splitter an Unfreiheit genügt und schon beginnt der Verstand seine Jahresringe um dieses Zentrum zu errichten.
Was das Zentrum ist, scheint dabei keine Rolle zu spielen, so lange sich nur die ganze Welt aus ihm erklären lässt.
Die wirklich interessante Frage wäre wahrscheinlich: Welches Ding auf der Welt wäre nicht geeignet, ein Zahir, ein Jodok oder eine Notizbücher füllende M*A*S*H-Serie zu werden?
Jacques Derrida plädiert bekanntlich in seinem Aufsatz „Die Struktur, das Spiel und das Zeichen im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen“ (in: „Die Schrift und die Differenz“) dafür, dass das „Zentrum“ unser Denken längst still und heimlich verlassen hat. Aber seine Geschichte ist vielleicht eine ganz andere, eine tröstlichere und weniger unheimliche, eine, die man bei Nacht in einem leeren Zimmer lesen kann, ohne sich ertappt zu fühlen…
(PS: Gehört vielleicht nicht hierher, aber trotzdem: Hurra für Herta Müller, die heute mit schwedischem Lorbeer bekränzt wurde!)
1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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6 Kommentare zu Drei Versionen derselben Geschichte
Alfred Vail
9. Oktober, 2009 um 10:57
Eine sehr interessante Beobachtung.
Wahrscheinlich eignen sich alle Dinge dieser Welt um eine „M*A*S*H Serie“ zu werden. Ich vermute es gibt kaum einen Gegenstand der nicht von einem Menschen gesammelt, verehrt, hinterfragt oder beobachtet wird. Es ist wie Sie sagen: Was das Zentrum ist spielt keine Rolle. Die interressante Frage für mich ist, ab wann wird das Interesse zur Sucht. Und warum dringt bei einigen Menschen kein anderer Reiz mehr bis zum Bewußtsein durch außer dieser einzige, der dann alle Sinne zu blockieren scheint.
Auf jeden Fall ist die Sucht offenbar eines der Themen die David Foster Wallace sehr bewegte und die er auf unwahrscheinlich vielfältigen Weise und für mich unglaublich glaubhaft beschrieben hat.
Stephan Bender
9. Oktober, 2009 um 12:36
Zitat: „Die wirklich interessante Frage wäre wahrscheinlich: Welches Ding auf der Welt wäre nicht geeignet, ein Zahir, ein Jodok oder eine Notizbücher füllende M*A*S*H-Serie zu werden?“
– Teufelsaustreibungen, Hexenverbrennungen, Kreuzzüge
– Vertreibung, Rassenverfolgungen, Holocoust
– Atombombenversuche, Umweltzerstörung
– Menschen, die in Zelten campieren müssen, weil sie ihre Hypothek nicht bezahlen können
– Unterhaltungspatronen, die Menschen in das Siechtum treiben
Konstantin
9. Oktober, 2009 um 21:26
Ebenso könnte man auf die Selbstbezüglichkleit Ihres Beitrages verweisen: Die Suche nach Analogien in der Welt(literatur) hat etwas nicht minder kreisendes, wobei man das Denken hierbei als eigenes, sich selbst erhaltendes Zentrum verstehen kann – denn auch das Denken kann zur Obsession werden. Bei Kapitän Ahab besteht in seiner RachSUCHT ja noch so etwas wie ein Sinnzusammenhang, im Falle des M*A*S*H-Jüngers scheint jener abhanden gekommen sein bzw. sich um seiner selbst willen zu erhalten: da sind wir wieder bei der Selbstbezüglichkleit…
Clemens Setz
9. Oktober, 2009 um 22:32
@ Konstantin
Na ja, aber meine Suche nach verschiedenen Versionen einer Geschichte hat doch noch nicht mein gesamtes Denken verdrängt, oder? Sie hätten vielleicht in Ansätzen recht, wenn ich z.B. ein Literaturwissenschaftler wäre, der seit dreißig Jahren ausschließlich Versionen dieser Geschichte sucht und sammelt und kommentiert und überhaupt nichts mehr anderes macht. Da wäre dann meine Sicht auf Welt und das Vokabular, das mir für ihre Beschreibung zur Verfügung stünde, in der Tat unendlich zentriert.
Und das, was Sie „Sinnzusammenhang“ nennen, war doch genau mein Argument: Figuren wie Kapitän Ahab oder Humbert Humbert oder auch Kafkas „Dorfschullehrer“ (bei dem das Objekt der Besessenheit ein Riesenmaulwurf ist) folgt man bereitwilliger auf ihrer Reise ins Verderben. Denn ihre Leidenschaften haben eine allgemein-menschliche Dimension (Rachsucht; sexuelle Obsession; wissenschaftliche Akribie und Rechthaberei).
Bei den drei von mir angeführten Beispielen jedoch fehlt diese allgemein-menschliche Dimension (zumindest auf der inhaltlichen Ebene), die Obsessionen scheinen willkürlich, leer, eher von einem bösartigen Gott auferlegt, sie sind von niemandem nachvollziehbar – und dadurch natürlich absurd. Aber gerade diese Absurdität berührt wiederum irgendetwas in uns (sage ich mal verallgemeinernd, ich weiß, immer riskant…), eben weil sie uns das obsessive, das besessene Leben als reine Hohlform vorführen.
Stephan Bender
10. Oktober, 2009 um 09:42
@ Clemens Setz
Eine professionelle Antwort:
– Jeder Mensch ist auf der Suche. Wenn er die Sucht nicht durchschaut, ist er süchtig.
– Drogen machen selbst nicht süchtig, sondern sie beschleunigen die Suche eines Menschen so unheimlich, dass er das „Erlebte“ nicht verarbeiten kann. Deshalb assoziiert er den „neuen“ Bewusstseinszustand mit der Chemie, und macht sich schließlich von der Chemie abhängig.
– Es gibt exakt fünf Triebkräfte, die den Menschen auf seiner Suche antreiben: Liebe, Schuld, Rache, Hass und Scham.
– Die „Lebensreise“ eines Menschen geht immer vom Hass zur Liebe, Schuld, Rache und Scham sind die unterbewussten Zwischenzustände. (Twilight)
– Bei der Suche eines Menschen unterscheidet man selbstrefentielle Ziele (Briefmarken sammeln, einen bestimmten Wal jagen, M*A*S*H-Serien zu ernst nehmen) und gesellschaftliche Ziele (z.B. aus persönlichen Motiven ein ganzes Volk in den Krieg treiben, bei Rohstofförderung ganze Landstriche verwüsten, Hassprediger werden… etc.)
Manisch Geschichten zu sammeln, Bücher zu lesen, davon zu erzählen, um schließlich eines Tages als Autor seine eigene Geschichte erzählen zu können, ist sicher eine der intelligentesten Formen einer Suche.
Konstantin
10. Oktober, 2009 um 15:05
@ Clemens Setz: Ich habe Ihnen ja nirgendwo widersprochen, ich habe nur das Verallgemeinern auf die Spitze getrieben; denn vor letzterem graut es mir immer ein wenig. Ansonsten stimme ich Ihnen größtenteils zu.
@ Stephan Bender: Danke für Ihre professionelle Antwort! Angst gilt bei Ihnen nicht als menschliche Triebkraft oder muss man das unter Liebe einrechnen?