22. November ff.

28. November 2009 |

22. November

7.30. Dunst hängt an den Hängen der Sackpfeife (so heißt der höchste Berg hier tatsächlich). Hell wird’s hier heute nicht mehr. In den lakritzigen Straßen ist kein Mensch zu sehen. Wahrscheinlich bin ich der einzig Überlebende einer Katastrophe. Wie Will Smith. Aber der war in Kalifornien (Kalifornien? New York?), ich bin in Biedenkopf. Welche Herde heiliger Rinder hab ich in meinem früheren Leben eigentlich überfahren? Apropos. Nachher fahr ich über die Sackpfeife nach Hause. Sackpfeife, die höchste Erhebung der Umgebung.
Falls sich wer gefragt hat, wo denn die Rollis hin sind. Hier sind sie wieder. Sie foltern einen Ohneheimmann (vulgo: Penner), bei dem sich augenscheinlich um Poor Tony handelt. Und sie wollen die E. T. A. überfallen. Die Incandenzas entführen. Beim Tennisturnier. Oder vorher. Gately träumt derweil von Joelle van D. Ein ziemlich feuchter Traum, der allerdings in der gruseligen Vorstellung endet am oberen Ende des ziemlich astraligen Körpers von Madame Psychosis befinde sich hinter dem Schleier das Antlitz von Bullogge Churchill. Dann irrt die Erinnerung zur alten Nachbarin Frau Waite, die alle als Hexe bezeichneten. Auch das trägt alle Anzeichen eines Alptraums. Dann vermischen sich die Alpe und Joelle steht in Mrs. Waites Küche, splitterfasernackig, unbeschleiert und mit dem Gesicht eines Engels. Ist aber der Tod. Und die Mutter. „Der Tod erklätr, dass der Tod einem immer wieder passiert“, was mich jetzt sehr beruhigt. Und die Todbringer sind die Lebensspender, die Moms, weswegen sie einen dann im andern Leben geradezu zwanghaft lieben. Und Joelle sagt: Warte.
Hal erzählt zur Abwechslung mal in der Ich-Form. Hatten wir auch lange nicht. Und ob ich das so gelungen finde, naja. Es geht aufs Spiel gegen die Kanadier zu. Und schneit vom Himmel hoch. Draußen geht nichts mehr. Die Anrufbeantworter von Hal und Pemulis konnektieren. Schnitt. „Als das empyreische Gesicht dem Kochweiß der Traumaabteilung weicht“, verwirrt Don, dass Joelle schon wieder da ist, hinter einem himmlischen Hellviolett. Sie kümmert sich rührend und erzählt dafür noch ein paar Döntjes über das Leben in Ennet House und isst Küchlein, die eigentlich für Don gedacht waren, und erzählt von einem Treffen in der St. Columbkill und wie da ein Kerl namens Wayne (John W.?) von seinem blutbrutalen Papa und dem Grund für eine Gesichtsschrunde. Joelle erzählt von ihrem Ausstieg, Gately kontrapunktiert das mit Erinnerungen an seine kalten Entzüge.
Gibt’s hier Drogen? Garantiert. Die weichen (Bierbierbier, wenn Biedenköpfer im Kreis stehen, kolportiert Thome, ist im Zentrum keine Frau, sondern ein Fass) und die harten. Anders hält mans hier… Stille Tage im Klischee.

23. November

21.30. Zurück am Wasser. Nochmal Traminer. Wenns weiter so warm bleibt, kann ich bald die Primeln im Garten wieder von oben besichtigen, vier Monate vor der Zeit. Ich muss allmählich mal wieder ein Buch lesen, in dem keiner auf der Intensivstation liegt, keiner in die Bewusstlosigkeit hinein- oder aus ihr herausdämmert. Hab gerade nochmal Kathrin Schmidt absolviert, parallel dämmert Don weiter vor sich hin. Parallelen sind nicht von der Hand zu weisen. Schmidts Helene wacht auf, Don taucht ab.
Er entzieht, er schiebt den Affen. Den Vogel. Er musste um jede Sekunde eine Mauer bauen, um sie ertragen zu können. Muss ich nicht haben. Halbtrockene Traminerabhängigkeit reicht völlig. Der Vogelschmerz ist schlimmer als der Angeschossenschmerz. Er ist geschult also im Schmerzen. Er stillt ihn mit Verweilen. Er sitzt ihn aus. Weil er sich nicht wehren kann, muss er Joelles Familienalbum aushalten. Don will sich immer wieder einmischen, will verweilen, schafft es aber nicht. Er fantasiert schmutzelnd vor sich hin, verliert sich in Selbsttäuschung, verdreht die Augen und lässt sie so. Szenische Verdichtung sieht auch anders aus. Reine Verschwendung dieses Buch.
Hal verschwendet auch sein Talent. Tennisnachwuchsstar möchte man, Lehre 459 aus dem Spaß, nicht werden, niemals nicht und auch nicht die Kinder werden lassen: „Viele Spitzenspieler steigen morgens mit einem kurzen Weinanfall ein und sind für den restlichen Tag dann frisch und munter.“ Er katzenwäsch sich und findet Orth „den Schatten“ Stice am Fenster. Draußen ist es scheißekalt, der Schnee fällt. Orth erzählt einen Witz, die Seiten verfliegen. Wir sehen draußen einen Typen im Schnee. Hal und Orth verzällen sisch was. Da fragt Hal Orth dann endlich was mit dessen Stirn los sei. Irgendwas ist faul. Er klebt am Fenster fest. Mit der Stirn. Seit Stunden. Er reißt. Das macht ein hässliches Geräusch. Hal reißt mit. Ich würds ja mit warmem Wasser versuchen. Dafür ist Hal aber zu intelligent. Fällt mir gerade eine schwedische Geschichte ein. Mikael Niemi hieß der Autor, „Populärmusik aus Vittula“ das Buch. Von einem Finnschweden, der im Himalaya am Joch eines Passes einen Stein küsst und mit den Lippen festfriert. Er verzweifelt fast, dann macht er eine ganz besondere Urinprobe. Hat Hal nicht gelesen. Sag ja immer: Romane helfen Leben retten. Troeltsch schon. Der sagt abtauen. Und faselt weiter im Radioreporterton. Wir befinden uns in der Mitte der Zielgerade dieses Dickleibers und der faselt hier von festgefrorenen Stirnen, als hätte er noch alle Zeit der Welt für den Showdown. Es gibt doch einen Showdown. Der kann uns doch nicht mit diesem Fadenknäuel allein lassen. Kann er doch. Kann er doch.

24. November

16.25. Großraum, der keiner sein will, wie jemand ganz wichtiges mal gesagt hat. Stünden zu viele Regale drin. Und Bücher. Tja, diese Bücher. Sind schon ein ernstes Problem. In einer Literaturredaktion. Gehtsobeutelkaffee. Relative Geräuschlosigkeit dank Gummistopfen in den Ohren. Sonst kann man hier ja…
Wir sind wieder in einem anderen Großraum. Mit Ich-Hal in der Nasszelle der E. T. A. (warum Hal jetzt selbst erzählt, hatte ich mich schon mal gefragt, muss das hinterher mal nachlesen). Herr Kenkle taucht auf. „Technisch schwarz, m. a. W. negroid, aber genau genommen eher vom gebrannten Sienaton eines verdorbenen Kürbisses.“ Möchte man auch nicht in der Dusche begegnen. Er hat auch sonst ein paar Fehler und hätte in den ungeschriebenen Annalen der E. T. A. bleiben können (vielleicht wird er ja noch gebraucht, aber ich fange an alles unsinnige Zeug ähnlich aufs Ende zu projizieren, wie das die Harry-Potter-Abhängigen mit den ebenfalls viel zu vielen Figuren der J. K. Rowling taten). Obwohl, jetzt zum Ende hin, wird’s wieder gut. Stice schreit vom Eise befreit. Kenkle will fröhlich sein. Hal sagt: „Meine Güte.“ Geht zum Fenster, will sein Spiegelbild überprüfen. Draußen ist es hell. „Ich kam mir silhouettenhaft und blass vor, tastend und geisterhaft vor all dem gleißenden Weiß.“
Schnitt. Wir hören einen Mitschnitt eines Meetings diverser bedeutender Freakfiguren um Mr. Rodney Tine sr., Chef der unspezifizierten Dienste & Berater des Weißen Hauses in Sachen interdependente Beziehungen. Man mmmpft, man niest, man findet Boston scheiße, man begrüßt sich. Und man diskutiert über einen Spot, der verhindern soll, dass die tödliche Patrone allzu viel Schaden anrichtet. „Wollen Sie vielleicht, dass das Jahr des Glad-Müllsacks das Jahr ist, in dem die halbe Nation nur noch mit Glupschaugen mit kleinen Spiralen drin eine üble Patrone anstarrt, bis sie irgendwann verhungern mitten in den eigenen Exkr-?“ Es wird geklopft, es wird Schleim hochgezogen, es wird geniest, es wird vom tänzelnden Esel erzählt, der Hauptfigur des Spots, der voll funktionsfähige Phil, der tänzelnde Esel. Ein erschreckender Spot. Ein aufwühlender Spot. Ein Spot, der Albträume schafft. Mr. Yee (der auch dabei ist, Direktor für Marketing und Produktwahrnehmung, Glad Flaccid Receptable Corp.): „Örgel. Örgel örgel. Splarg. Kaa. (Fällt vom Stuhl.)“
Kann Gately nicht. Der liegt noch in der Traumaabteilung. Erinnert sich an „Cheers!“ Wenn ich mich bloß daran erinnern könnte. Bin glaube ich zu alt dafür. Das kam mir nach Dt. Zu Besuch ist jetzt Ferocious Francis. Gately macht sich mit Notizen verständlich. Nochmal wird die Geschichte vom Überfall und von Lenz aufgebrüht (geh mal Kaffe holen). Der Doc kommt. „Inder oder Pakistani, von dunklem Glanz, aber mit so einem eigenartigen klassischen Weißengesicht, das man sich ohne Probleme im Profil auf einer Münze vorstellen kann, plus Zähnen, bei deren Strahlen man lesen könnte“. Gemein, aber gut.
Mit einer gewissen Grausamkeit pult er in Gatelys entgifteten Wunden. Schmerz ist schlimmer als gestern, gell? Arschloch. Und dann hält er ihm wie dem Kaninchen die Möhre vor die Nase Schmerzmittel vors Gehirn. Titriertes Hydromorphonhydrochlorid zum Beispiel Gately erschauert. Dilaudid. Fackelmanns Untergang. Der Ritz-Cracker des Todes. Doktor Hölle schwafelt weiter, dass er Muslim sei und keine Medikamente und so weiter, dass er aber, wenn er und so weiter, dann auf jeden Fall. Gately ist zu bedauern. Dass Don alles durch hat, was immer er ihm vorschlägt, und hinter sich, dass er auf keinen Fall wieder das Zeug haben will, das kommt durch seien perlweißen Zähne nicht in seinem Hirn an. Für jedes Giftzeug ein anderer Spitzname. Lauter tödliche Schätzchen.
Die Klingel geht. Muss das gruselige Spiel unterbrechen. Ein andres gruseliges Spiel beginnt. Konferenz.

25. November

18.15. An der Isar. Gleich geht’s los zu Kathrin Schmidt. Soll spröde sein. Schien mir nicht so in Frankfurt. Wird schon. Wasser. Müsste noch was essen. Hab aber keine Zeit. Und morgen früh geht’s um viertel sechs wieder zurück. Schadet nichts.
Der Paki, Mefistofeles der Traumaabteilung, versucht Don Gately zur Vernunft zu bringen und seine „couragierte Angst vor der Sucht“ aufzugeben. Bei der Vorstellung allerdings an Talwin zum Beispiel „bringt Körperteile zum Sabbern, deren Sabberfähigkeit Gatley unbekannt war“. Warum soll er widerstehen? Weil er dann wieder in die hinterste, heißeste Hölle fällt, die er gerade erst verlassen hat. Der Paki faselt weiter. Gately verliert die Fassung, greift durch die Gitter prägnant in die Cojones des Pharmakologen. Tut weh. Der Paki zeigt „alle 112 Zähne“. Draussen geht herrlich die Sonne auf.
Demerol. Don erinnert sich an Demerol. An den gebärmutterwarmen Kick. An den ästhetischen Kick. Den glatten, geordneten, den köstlich symmetrischen Kick: „Der Geist schwebt leicht im exakten Mittelpunkt eines Hirns, das gepolstert in einem warmen Schädel schwebt, der seinerseits perfekt zentriert auf einem Kissen weicher Luft in halslosem Abstand über den Schultern ruht, und drinnen herrscht nichts als schläfriges Summen.“ Das ist immer das Problem beim Beschreiben von Drogenerfahrungen. Sie haben so ein gefährliches Glitzern. Wer könnte nicht manchmal genau so einen Kick gebrauchen? Hin und wieder. Gately träumt von Ipswich und einer Krankenschwester, die er beschläft, ohne dass sie irgendwie auch, weil sie um den Höhepunkt zu erklettern, mit einer Zigarette verbrannt werden muss, weswegen Gately versucht, das Rauchen sein zu lassen. Wir durchleben die Demerol-Karriere des Don Gately, bis Don Besuch bekommt, der ihm die Neuigkeiten von XY-ungelöst in Ennet House erzählt. Gately erlebt eine negative Epiphanie. Die Krankenschwester bringt eine Pfanne, eine Bettpfanne. Und Gately zitiert das Gelassenheitsgebet. Und Gately drückt. Und Hal bekommt Panik. Es überfällt ihn. „Alles hatte zu viele zu viele Aspekte… Die Welt wirkte plötzlich fast essbar, wartete auf den Verzehr. Die dünne Lichthaut über dem Firnis der Scheuerleisten… Eine Art Schatten flankierte die lebhafte Klarheit der Welt“. Depression? Epiphanie? Er sieht das ganze lange Elend seines Lebens vor sich. Er legt sich hin. Großartige Passage. Ein Hirn, eine Seele wird erschüttert, wankt, bröckelt. Und versucht sich mühevoll, aber randirre der Realität zu versichern. Immer wieder steckt jemand seinen Kopf ins Zimmer. Irgendwie geht’s draußen weiter und bei Hal zu Ende. Bewusstseinsverlust. Kollaps. Das Hirn faselt herum. Wundert sich, dass manche sich jahrelang für ein einziges Thema interessieren kann. Die Moms, wie sie Hal beschreibt, erinnert fatal an die fatale französische Halbriesin auf Harry Potter. Hal liegt auf dem Boden. „Die Horizontalität stapelte sich um Mich. Ich war das Fleisch im Sandwich des Zimmers… ich fühlte mich dichter zusammengesetzt, jetzt wo ich horizontal war. Nichts konnte mich umhauen.“
Jetzt muss ich aber los. Noch 115 Seiten. Noch fünf Tage. Und was mach ich dann? Weiterlesen. Einfach weiterlesen.

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Über das Buch

1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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