Erst einmal das physische Unbehagen. Das Buch liest sich im Liegen (auf dem Rücken) äußerst schlecht. In der rechten Hand: 1, 6 Kilo. In der linken: gerade mal 100 Gramm. Wenn ich einen Zug von der Zigarette nehmen will, muss ich das Buch ablegen, was dem Rauchen eine merkwürdige Überbetonung verleiht. Es ist, als würde ich jemanden imitieren der raucht, und schlimmer noch: jemanden imitieren der liest.
Also sitzend. Im Café. Nur ist es an diesem Augusttag, an dem die Sonne sich über der Stadt ausschüttet, als hätte man ein Ei auf dem Pfannenrand aufgeschlagen, unmöglich, ein stilles Café zu finden. Ein freier Tisch ist nicht zu haben, also suche ich mir einen Platz gegenüber einem anderen Leser. Er liest 8 ½ Millionen. Unsere Bücher berühren sich in der Mitte des Tisches.
Da ich 8 ½ Millionen gerade zu Ende gelesen habe, ist es fast so, als würden unsere Köpfe sich an der Stirn berühren. 8 ½ Millionen legt sich wie eine Schablone über die ersten Seiten, die ich jetzt lese. Vor allem weil ich durch unser gemeinsames Lesepult gleich wieder in das Problem rutsche, dass ich seit der Lektüre von 8 ½ Millionen verschleppe. Die Überbetonung der Tätigkeit macht sie zum Fake. (als würden wir jemanden imitieren…ect)
Mein Lesegegenüber liest so dermaßen konzentriert und ungehemmt, dass ich annehme, die mangelnde Irritation über eine Stirn an Stirn Lesende, muss gespielt sein.
Kopfüber versuche ich mitzulesen. Mein Gegenüber scheint jetzt ungefähr dort zu sein, wo der Nachbau des Mietshauses abgeschlossen, die Nachspieler in der Endlosschleife Alltagssequenzen wiederholen und der Ich-Erzähler im obersten Stock über einem Modell des Ganzen hockt. Ich bin erst eine halbe Seite weit und denke mehr über McCarthy nach als über Wallace.
Aber dann der erste schöne Fund:
„Er sitzt auf dem Stuhl, so hoffe ich, gleich neben mir“. Also halte ich das Buch, so hoffe ich, in der Hand, während ich umblättere.

Svealena Kutschke, geb. 1977 in Lübeck, studierte Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis in Hildesheim und lebt heute in Berlin. Sie erhielt 2006/2007 das Werkstatt-Stipendium der Jürgen-Ponto-Stiftung und ist Preisträgerin des Open Mike der Berliner Literaturwerkstatt 2008. 2009 erschien ihr erster Roman Etwas Kleines gut versiegeln (Wallstein).

6 Kommentare zu 62, 5 % meiner Aufmerksamkeit sind im Buch gegenüber

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Anti-Esel

21. August, 2009 um 13:51

Könnten Sie vielleicht warten, bis die „normalsterblichen“ Leser das Buch auch in der Hand halten dürfen. Die Welt ist ungerecht!
Andererseits: jetzt kann man sich ausgiebig Gedanken über eine Perfektionierung der eigenen Zigarettentechnik beim Lesen machen.

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Mindy Metalman

22. August, 2009 um 12:36

Okay, wie schwer ist der Wallace denn nun?

1,60 Kilo plus, wie du meinst?
1,55 Kilo, wie Iannis Goerlandt herausgefunden hat?

Ich selber komme mit meiner Ikea-Küchenwaage nämlich nur auf 1,45 Kilo. (I mean, the idea! Hat man so etwas mit anderen Büchern je gemacht?)

Es ist eben ein in jeder Beziehung enigmatisches Werk — und das neue Urkilo der Literatur.

Und an all die Raucher hier: Wem die Gauloises zu teuer geworden geworden sind und der Spaß zu rauchumfeldunfreundlich, nicht rummemmen, klebt euch ein Nikotinpflaster an die Backe.

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StitchJones

23. August, 2009 um 00:20

Nachdem ich heute, skandalöserweise und dem Erstverkaufstag Hohn sprechend, das Buch im Bahnhofsbuchhandel erblickte, hab ich es trotz Amazon-Vorbestellung (die Lieferung ist natürlich noch nicht eingetroffen) direkt erworben. Wenn man sechs Jahre auf ein Werk wartet, will man nicht noch zwei weitere Tage aushalten müssen. Das nur zum Thema „normalsterblicher Leser und Veröffentlichungstermine“. Die ersten Kapitel heute nachmittag auf der Wohnzimmercouch liefen ohne grössere körperlichen Beschwerden ab. Das Buch auf der Brust abgestützt liess es sich auch im Liegen gut handlen, auch mit der einen oder anderen Zigarette und ohne Ermüdungserscheinungen in den Handgelenken.

Mein erster schöner Fund übrigens: „Mir geht durch den Kopf, dass Exit-Schilder auf einen lateinischen Muttersprachler den Eindruck machen würden, als wäre die Aufschrift Er geht rot beleuchtet.“ Erinnert mich mal wieder daran, wieso ich die Storysammlungen des Autors so liebe.

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kopfpilz

23. August, 2009 um 11:10

@Mindy,

glaubst du, dass so: „Es ist eben ein in jeder Beziehung enigmatisches Werk — und das neue Urkilo der Literatur.“ Konstruktionen beginnen? Aber ein interessanter Eindruck. Ich wiege übrigens jedes meiner Bücher und veröffentliche in fixen Zeitabständen meine Buchgewichtsliste im Hausflur. Ich wohne im dritten Stock, und die Mieter unter mir wollen vorgewarnt sein, wann ich zu ihnen durchbrechen könnte.

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Mindy Metalman

23. August, 2009 um 12:25

Lieber Kopfpilz,

weißt du, woher der Titel „Reservoir Dogs“ von Quentin Tarantino kommt?

Also, angeblich war es so:

Q.T. hat in seiner Studentenzeit mal in einer Videothek gearbeitet.

Kommt ein Nascar-Dad rein, will was für einen Videoabend.

Q.T. schlägt vor: Au revoir, enfants von Louis Malle. (Okay, das war gemein.)

Sagt der Nascar-Dad, der nicht ganz blöd ist: „Don’t want no reservoir dogs.“

Daher:

Emotionen, ich liebe sie, dank Heidi Klum.

Aber Konstruktionen? Don’t know, what this is.

Ich wollte nur mal was cooles Zitierfähiges schreiben, weil die anderen das auch die ganze Zeit tun. 1,45 bis 1,6 Kilo, das neue Urkilo der Literatur, ist doch nicht schlecht?

Das oszillierende Gewicht! Das ist fast so gut wie der tödliche Witz von Monty Python, der in speziellen witzgeschützten Anlagen gelagert wird.

Hier im Dirty South ist das nämlich so: Wer ko, der ko!

Guter Gott, das Buch ist ist nicht raus, und allenthalben seiern die Edelfedern ihre tollen Analysen ab. Diese Clowns!

Warum ich überhaupt hier bin: Wallace fasziniert mich, seit der erste Erzählungsband rauskam. Aber ich kann ihn nur in kleinen Dosen ertragen. Weil, wie ich schon vor Jahren zu einer Kommilitonin sagte: Der Kerl ist genial, aber er hat einen Schaden. Aber richtig. Der Typ ist krank. Wörtlich so.

Ich hätte gern zu ihm gesagt: He, Junge, schreib doch mal einen schönen Schluss. Oder wenigstens einen neutralen Schluss. So schwer ist das doch nicht.

Hat er aber nie gemacht, sondern die Story in den schwarzen Weltraum geschossen, wie in „John Billy“ beispielsweise.

Ich weiß, das klingt mit dem Wissen von heute ziemlich despektierlich. Aber darum geht es nicht.

Es ist nämlich ein Beispiel für gelungene Kommunikatin — die es in den Story direkt nie gibt.

Wallace hat etwas kommuniziert, das angekommen und das mich immer erschreckt hat.

Na ja, morgen mehr. Hier ist so ein schöner Tag.

xoxo — und dear Kopfpilz, lass dir keinen weiteren Pilz an den Kopf wachsen, alles wird gut.

Mindy

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kopfpilz

23. August, 2009 um 14:16

Hi Mindy,

„Ich wollte nur mal was cooles Zitierfähiges schreiben, weil die anderen das auch die ganze Zeit tun. 1,45 bis 1,6 Kilo, das neue Urkilo der Literatur, ist doch nicht schlecht?“

Nein, in deiner Darstellung klingt es nicht schlecht. Vielleicht solltest du es als „Schwingkilo“ normieren: je weiter du ein Buch am ausgestreckten Arm von dir wegbewegst, desto schwerer wird es. Wusste vielleicht schon Poe, der Meister der Kurzgeschichte, als ihn die Idee vom ausgestreckten Arm als Pendel zu einer seiner schönsten Geschichten führte.

Ja, die Legenden um Reservoir Dogs kenne ich. In Japan wurde er einem Amerikaner in einer Videothek unter seinem japanischen Titel „Sayonara, kodomotachi“ angeboten. Der Amerikaner hat abgelehnt mit der Begründung, er würde schon lange keine Filme mehr mit Marlon Brando ansehen, vor allem nicht solche Schmonzetten. Unter ähnlichen Bedingungen müssen manche der Kritiken zu U.S. (Unendlicher Spaß) geschrieben worden sein, die ich in den letzten Tagen gelesen habe. Du siehst, wir wissen beide nicht, was Konstruktionen sind. Und nun lege ich mich auch in die Sonne.

Grüße, KP

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Über das Buch

1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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