4. November

5. November 2009 |

14.30. Großraum. Hat schon mal jemand in einer Leberwurst gearbeitet? Oder in Hirnmasse? Wir sitzen hier mitten drin. Zwölf Stockwerk hoch in Hirnmasse. Und bis April wird das so bleiben. Müller-Milch Schoko. Eine Aktion DER Zeitung. Eine ganze Tüte Hüftgold in Dosen. Vollfettmilch, in der man braune Buntstifte aufgelöst hat. Müsste eigentlich auf der Felsnase weiter machen. Hab aber enormen Rückstand bei den Fußnoten. Anlauf nehmen also und 500 Seiten überspringen.
Orin telefoniert immer noch mit Hal. Und sie tauschen sich über die politischen Hintergründe der janzen Gechichte aus. Zitat gefällig? Habts nicht anders gewollt: „Was ist, wenn die separatistischen Nucks ganz genau wissen, dass, wenn die O. N. A. N.-Regierung Kanada als eine ausreichend große Schabe in der Suppe einschätzt, Gentle und die Jungs in Weiß von den Unspezifizierten Diensten sich mit Mexikos vichyfiziertem Marionettenstaat zusammentun und Ottawa so richtig die Daumenschrauben anlegen können?“ etc. pp. usf. usf. Ein Text wie Leberwurst. Und dann wieder ein Satz, den wir demnächst regelmäßig auf Texte anwenden: „Du hattest schon immer große Angst vor Tiefenprüfung.“
Mitten im Telefonat bricht die Verbindung ab und die Fußnoten in den Fußnoten fangen an. a bis l. Von „Fragen Sie nicht“ bis „Die Pro-kanadische Phalanx Calgary“. Was das soll? a!
Es blubbert weiter. Man lernt was über die Volkmann-Kontraktur, die mit Marios Deformation zu tun hat, lernt, dass Mario (das im Text zu erwähnen, hätte den Rahmen gesprengt, sagt DFW) auch noch hyperauxetisch ist „und die zwei- bis dreifache Größe von Kopf- und Gesichtszügen normaler Kobold-bis-hockey-großer Menschen mitbringt“ und ein Homodont ist er auch.
DFW breitet auch eine merkwürdige Theorie des Eschaton-Spiels aus, die „echt interessant ist, wenn man das Interesse dafür mitbringt und was weiß ich“. Bring ich nicht. Dauert gut drei Seiten. Mit Graphik. Dann kommen Wäschekörbe aus geflochtenem Plastik, die Charakteristik von Pemulis als kompromissloser Rache-ist-ein-Kaltgericht-Gourmet“ und die Erfindung eines Fachartikels über den Verrückten Storch: Ursula Emrich-Levine (University of California-Irvine), „Dem Gras beim Wachsen zusehen, während einem mehrmals ein stumpfer Gegenstand über den Schädel gezogen wird: Fragmentierung und Stasis in James O. Incandenzas Witwer, Spaß mit Zähnen, Teezeremonie in der Schwerelosigkeit und Der Ehevertrag von Himmel und Hölle“, Art Cartidge Quarterly Bd. III, Nr. 1-3, Jahr des Perdue-Wunderhuhns“. Das muss einen Höllenspaß gemacht haben, das erfinden. Stasis. Hab das schon mal nachgeschlagen. Müsste man wohl auch drüber dissertieren. Hab ich Alzheimer?
Orin plaudert den ganzen Kunschtmumpitz aus, mit dem El Storko, Er Selbst, die Filmtheoretiker aller Efeuligen dieser Erde aufs Kreuz gelegt hat. Die plemplemoide Erfindung des Drame trouvé. „Die haben ein Telefonbuch von Metro-Boston geholt, aufs Geratewohl eine Seite rausgerissen und an die Wand gepinnt, und dann hat der Storch die von der anderen Seite des Zimmers aus mit einem Darts-Pfeil beworfen. Und der Name, den der Pfeil traf, gab das Thema vom Drame trouvé vor. Und was dem vom Pfeil getroffenen Protagonisten in den nächsten anderthalb Stunden gerade passiert, das ist das Drama.“ Danach wird mit Filmkritikern gefressen, über Neorealismus gelacht. Überflüssig zu sagen, dass keiner sich für das interessiert, was der Protagonist tatsächlicht tut in den neunzig Minuten. Zu sehen ist nüscht. Das aber mit Schmackes.
Ist das schon wieder Schnee da draußen? Wird ja wohl keine gigantische Bulldogge sein, die sich oben auf der Springerei stehend gewaltig schüttelt und frauhollemäßig Schleimflocken rieseln lässt. Igitt. Will wieder nach Schalsingen.

12 Kommentare zu 4. November

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Marc_o_brunn

6. November, 2009 um 16:24

Ich fragt mich ja ungefähr an der Stelle, ob Orins „Jethro Bodine“-Unterschrift unter diesem Formbrief eine DFW Remineszenz an Pynchons Pig Bodine sein soll…

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johanna

6. November, 2009 um 19:20

wo ist schalsingen? und es ist eine dogge.

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Stephan Bender

6. November, 2009 um 22:50

@ johanna:

Elmar hat da etwas infolge der Lektüre durcheinander gebracht. Was er eigentlich sagen wollte: In Schalsingen befindet sich schräg gegenüber des Tennisplatzes eine riesige Doggen-Entzugsklinik.

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ulrich blumenbach

7. November, 2009 um 07:24

Moin, lieber Marc_o_brunn,

„ob Orins ‚Jethro Bodine‘-Unterschrift unter diesem Formbrief eine DFW Remineszenz an Pynchons Pig Bodine sein soll“?

Ja natürlich, denn als Hal Orin darauf anspricht („Jethro Bodine, O.? Jethro _Bodine_?“, S. 1455), antwortet der: „Ein Insiderwitz. Würde sie nie verstehen.“

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ulrich blumenbach

7. November, 2009 um 08:13

Und apropos Pynchon: Das „von Goethe wohlbekannte ‚Brockengespenst‘-Phänomen“ (S. 128) hängt mit Goethe nur insofern zusammen, als im Faust auf dem Brocken die Walpurgisnacht spielt, die auf den 30. April fällt und damit auf den Tag bzw. die Nacht, an dem / in der sich im „Unendlichen Spaß“ Steeply und Marathe bei Tucson treffen. Auch diese Anspielung gilt faktisch eher Thomas Pynchon, der das optische Phänomen in „Gravity’s Rainbow“ (S. 330 f.; „Die Enden der Parabel“, S. 516 f.) erwähnt, als Slothrop und Geli auf dem Brocken vögeln.

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ulrich blumenbach

7. November, 2009 um 08:21

Pynchon die dritte: Bevor hier wieder wer ankommt und Pynchon zu Wallace‘ literarischer Vaterfigur macht: In Wirklichkeit hat Pynchon doch bei Wallace abgeschrieben: Im „Unendlichen Spaß“ steht der schöne Satz „Das Schicksal hat keinen Pager; das Schicksal schiebt sich immer im Trenchcoat aus einer Gasse und macht psst“ (S. 420). In „Gegen den Tag“ stehen zehn Jahre danach die ebenfalls schönen Sätze „Das Schicksal spricht nicht. Es trägt eine Mauser“ (S. 944).

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Stephan Bender

7. November, 2009 um 13:52

@ ulrich blumenbach:

Also nichts für ungut und schon gar nichts gegen literarische Vergleiche, aber dieses andauernde Schicksalsgeraune trägt ja wirklich manische Züge. Glaubt ihr Deutschen wirklich, dass es ein Schicksal wäre, anzuerkennen, dass es überhaupt eines gibt? Wer ins Gras beißen muss, hat eines; wer zur Arbeit gehen muss, hat keines.

Und der bedeutungsschwangere Satz

„Das Schicksal hat keinen Pager; das Schicksal schiebt sich immer im Trenchcoat aus einer Gasse und macht psst“

klingt so

„Die Aufklärung hat keinen personalisierten Klingelton; die Zukunft schaukelt immer in Kindersachen auf einem Spielplatz und schreit vor Vergnügen.“

viel besser. Aktenzeichen XY gelöst. :-)
xy

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Svealena Kutschke

7. November, 2009 um 14:42

@stephan bender: wo ist das geraune? hier werden zitate verglichen. „Was haben wir heute, nach der Zerstörung des Schicksal und nach der Zerstörung der Mittel zur Zerstörung des Schicksals, dem globalisierten Schicksal entgegenzusetzten? Engagement?“ Robert Menasse.
Ich gebühre dem Schicksal mein Mitleid in toto. :-)

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Stephan Bender

7. November, 2009 um 17:15

@ Svealena Kutschke:

Immer schön im Text bleiben (understanding Robert Menasse):

1. Die „Zerstörung des Schicksals“ ist die Aufklärung, das Denken in Alternativen.

2. Mit „Zerstörung der Mittel zur Zerstörung des Schicksals“ meint Menasse, dass der sich der moderne Mensch (nach 1989, Zerstörung der linken Ideale) leider von Aufklärung abwandte und wieder anfing zu glauben, es gäbe etwas Unabänderliches im Leben. (Kapitalismus als Religionsersatz)

3. Mit dem „Globalisierten Schicksal“ meint er das Schicksal der Arbeitnehmer im Zeitalter der Globalisierung. Was er mit Sicherheit nicht meinte, war, dass sich Sonne, Venus und Mars gegen die Erde verschworen hätten.

Ich huldige dem Schicksal zwar nicht in toto, aber ersatzweise im Lotto.

Nachtrag: In der Sprechblase von dem etwas zu klein geratenen Foto von Eduard Zimmermann (s.o.) steht: „Gesucht wird ein Mann mit Sense und schwarzer, bodenlanger Kutte….“

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Marc_o_brunn

8. November, 2009 um 17:00

@ Ulrich Blumenbach: Ja, aber wo kommt der Vorname „Jethro“ her? Hat jemand eine Idee?

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kopfpilz

8. November, 2009 um 17:46

@ Marc_o_brunn

6. November, 2009 um 16:24

und folgende Bezüge:

Die „Comedy-Ikone“ Jethro Bodine ist die Hauptfigur aus „The Beverly Hillbillies“ (1962)

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wolf schwarzkopf

8. November, 2009 um 18:20

was ist mit jethro tull – rockband (flöte)
(name bezogen auf Jethro Tull/Landwirtschaftspionier)?

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Über das Buch

1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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