31. August

31. August 2009 |

31. August
In der S-Bahn. 8.25 Uhr. Keine Musik. Kein Getränk. Obwohl ich’s bald nötig hätte. Schwitzende Menschen stehen herum, die lesen. Die Bahnen sind proppevoll, fahren immer noch nicht so, wie sie sollen.
Nachtrag zu gestern, weil mir die Orin-Flugshow noch nachgeht. Was wäre eigentlich passiert, wenn jemand, ein Debütant noch dazu, vor – sagen wir – sieben Jahren, als noch nichts von DFW in Deutschland angekommen war, eine Übersetzung vom US in einen Umschlag gepackt und einem deutschen Verlag als eigenes Werk geschickt hätte? Was wäre passiert, wenn mir vor – sagen wir – sieben Jahren ein kleiner Verlag tatsächlich die Fahnen dann zugeschickt hätte? Beschwören möchte ich nichts. Aber leise gellt in meiner Hirnschale hinten ein Wort als Antwort auf beide Fragen: Nichts.
Sollten wir nicht in jeder Saison uns ein Buch heraussuchen, uns auf ein Buch einigen, das wir so herausstellen, so beleuchten wie dieses. Das uns was wert ist. Nur so eine Frage.
A propos Hirnschale. Wenn sich noch jemand die Frage stellt, warum wir das hier alles machen, was es wert ist, dem sei die Lektüre der Seiten 99 bis 112 (weiter darf ich heute nicht). Es tritt auf Kate Gompert. Besser gesagt: Sie tritt nicht auf, sie liegt in der „Püschatrie“ und bekommt Besuch von ihrem AiP. Katherine A. Gompert ist 21, Datenbankangestellte in einer Immobilienfirma in Wellesley Hills. „Vierte Krankenhauseinweisung in drei Jahren“, liest DFW vom Krankenblatt, „alle wegen klinischer Depressionen, unipolar“. Mehrere Selbstmordversuche. Beim letzten hätte sie es beinahe geschafft, wenn ihre Mutter, die auch nicht alle beisammen hat (den Orden „Mutter des Jahrzehnts“ bekommt niemand mehr in diesem Werk), sie nicht umfallen gehört hätte. Und so sitzt sie da, bettelt um ein Koma, um Elektroschocks, um irgendwas, dass dieses Gefühl in ihr, zumindest zum Pausieren bringt. Das Gefühl, das überall ist, in jeder Zelle. „Ich weiß nicht“, sagt sie und sagt DFW, „wie ich das beschreiben soll. Es ist, als könnte ich nicht weit genug raus, um ein Wort dafür zu finden. Es ist eher Grauen als Traurigkeit. Ja, eher wie Grauen. Es ist als Passiert gleich was Schreckliches, das Schrecklichste, was man sich vorstellen kann – nein schlimmer als alles, was man sich vorstellen kann, weil da dieses Gefühl ist, dass man sofort was machen muss, um es zu stoppen, aber man weiß nicht, was man machen muss, und dann passiert es auch, die ganze schreckliche Zeit, es passiert gleich und es passiert jetzt, alles zur selben Zeit.“ Das ist schon groß. Das erweitert das Bewusstsein. Zumindest für das Wesen der Depression.
Kate ist übrigens – hier möchte ich die Idee von vor ein paar Tagen wiederholen – schwerst marihuana-abhängig. Gebt das angehenden Kiffern zu lesen. Vielleicht hilfts was.
Ach und noch zum Schluss. Mit einem weiteren Tabu bricht DFW, einem tatsächlichen Tabu: Vor dem Auftritt Kate Gomperts lässt er Michael Pemutis einen Vortrag halten vor Juniortennisspielern der E. T. A. Er spricht nicht über legendäre Tennisspiele, sondern über halluzinogene Pilze. Und dann sagt er so nebenbei Folgendes: „Unbedeutendere Spieler fangen manchmal schon mit rund zwölf Jahren an, muss ich leider sagen, wobei Schnellmacher vor Spielen und Enkephaline danach besonders beliebt sind, was einen Teufelskreis individueller Neurochemie eröffnen kann“. Über Doping beim Kugelstoßen, 100-Meter- und Eisschnelllaufen zu reden, haben wir uns angewöhnt. Reden wir doch mal über Doping beim Tennis und beim Fußball.

12 Kommentare zu 31. August

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Stephan Bender

31. August, 2009 um 18:50

DFW hat ein Buch geschrieben, in dem er verschiedene Personen auftreten lässt: hochbegabte Tennisspieler, schwer depressive Patienten, Trainer, Terroristen und natürlich die Jungs-Tennisclique in der E.T.A. Ich glaube nicht, dass man ihm gerecht wird, in dem man versucht, seine Figuren in den eigenen Kosmos, in das eigene Lebenskollektiv oder gar die eigene Familie zu integrieren und dann anschließend sogar noch vor den Kiffern warnt. (Das sind arme Schweine, die muss man vor sich selbst warnen.)

Eine mögliche Metapher wäre ja auch, dass nur geeignete Drogen – wie Arzneimittel korrekt angewendet – es möglich machen, aus dem Teufelskreis „des Gefühls“ auszubrechen. Eine andere mögliche Metapher wäre, dass die beiden Terroristen in der Wüste nicht an solchen emotionalen Verwirrungen leiden wie unsere Patientin. Und eine ganz sicher beabsichtigte Metapher ist, dass es Menschen in unserem Leben gibt, die uns das reale Gefühl der Liebe austreiben wollen, damit wir in ihrem faschistoiden Kosmos besser funktionieren.

Wäre ja möglich…

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Thomas von Steinaecker

31. August, 2009 um 19:15

„Was wäre passiert?“ –
Das hatten wir doch schon einmal. Journalist schickt die ersten Seiten des „Mann ohne Eigenschaften“ an x-Verlage und nur einer erkannte den Roman (war das in den 80ern), alle anderen sagten: Nein Danke. Ich gehe auch im Fall US stark von so einem Szenario aus. Wer würde denn so ein „Wagnis“ eingehen und 1000 Seiten + x über Drogen, Tennis und Inkontinenz drucken (wenn es da eben nicht diesen „Kult“-Autor DFW gebe)? Verdenken kann man es dem jeweiligen Lektor nicht, meiner Meinung nach.
Denn, nur mal so als Bild, sehen wir einen untersetzten, verpickelten Schweizer, Mitte 20, vor uns, der beim Bachmman-Wettbewerb die Eingangs-Hal (Hell)-Szene vorliest. Die Urteile dazu kann man sich doch leicht vorstellen („effekthascherisch“, „wohin führt das?“ [weiß man ja nach 200 Seiten immer noch nicht wirklich – ist das wichtig?], „over-the-top“): durchgefallen. Tatsächlich würde ich mir selbst kein Urteil über das ganze Buch erlauben wollen angesichts der ersten 20-30 Seiten. Ist das wirklich gut? Ist da nicht viel Redundanz dabei, Schnörkelei etc.? Die von ANH angemahnte Drogen-Jammerei?
Nochmal so ein Gedanke, um alle weiteren Echos darauf im eigenen Kopf zu dämpfen: Der Roman, wie man in Fantods-Kreisen mittlerweile weiß, stammt ja zum größten Teil gar nicht von DFW, sondern von Joe Singer, geboren 1943 / USA. DFW hatte damals nur schon den Agenten-Kontakt, sodass ein Versuch unter seinem Namen + mit seiner Biografie aussichtsreicher erschien. Ohne Joe Singer, der DFWs Stil aus dem „Besen im System“ ziemlich genial, wie ich finde, weiterentwickelte und damit zu dem brachte, was man Reife nennen könnte, gäbs keinen US – let’s face it.

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Robert Michael Wenrich

31. August, 2009 um 21:14

Lieber Herr Steinaecker, führen Sie das mit Joe Singer aus. Das interessiert mich brennend, leider habe ich davon keine Ahnung.

Vielen Dank in advance!

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Mark Z.

31. August, 2009 um 23:27

Und ich dachte, der Ghostwriter wäre Harry Franco gewesen?

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Marvin Kleinemeier

1. September, 2009 um 01:10

Es scheint Zufall oder glückliche Fügung, dass DFWs „Infinite Jest“ und Roberto Bolanos „2666“ beinahe zeitgleich in deutscher Übersetzung erscheinen. Zwei Autoren, deren Lebenswege weiter nicht auseinander liegen könnten, zwei Werke, die allein zeitlich acht Jahre voneinander getrennt sind, betrachtet man das Datum der Erstveröffentlichung. Und doch verfügen beide Werke, selbst beide Autoren über unverkennbare Gemeinsamkeiten. Sowohl Wallace als auch Bolano haben es geschafft, etws zu erschaffen, das größer war als sie selbst, etwas, das sie überlebt hat und noch Jahrzehnte Bestand haben wird. Bolano starb 2003 an einer Leberkrankheit und Wallace wählte im vergangenen Jahr den Freitod. Hinterlassen haben sie beide ein Opus Magnum, über 1000 Seiten stark, und hinterlassen haben sie auch eine Leserschaft, die nun mit diesen wuchernden Kunstwerken arbeiten darf oder muss. Beide Bücher verfolgen scheinbar den gleichen enzyklopädischen Impuls, den Zwang, alles mit einzubeziehen, was es über ein Thema zu wissen gibt, um widerum zu beweisen, dass ein Thema niemals in seiner Vollständigkeit erfasst werden kann. Gerade diese überschäumende Arbeitsweise verlangt neuer Methoden, wenn es um das Arbeiten mit solchen Werken geht.

Wie soll man sich nun mit Bedeutungsmeeren wie diesen befassen, um ihnen gebührend zu entsprechen? Den neuesten Weg beschreiten seit einiger Zeit Gemeinschaften wie diese hier, „infinitesummer.org“ oder der „National Reading Month“ des New Yorker Magazines. Communities, an denen ich mich aktiv beteiligt habe und deren Idee ich für einen eigenen Internetauftritt adaptiert habe. Da ich denke, dass „2666“ eine ähnlich intensive Aufmerksamkeit verdient hat wie Infinite Jest, will ich ab dem 7. September über 2666 Stunden gemeinsam mit Interessierten in die Welt Bolanos eintauchen und auf http://www.zwei666.de über die Leseerfahrungen diskutieren.

Am 7. September, zwei Wochen nach der Veröffentlichung von Unendlicher Spass wird „2666“ in deutscher Übersetzung von Christian Hansen im Hanser Verlag erscheinen. Ich suche noch zwei oder drei Autoren, die wöchentlich von ihren Leseerfahrungen berichten. Wer Interesse an dem Projekt hat, schaut einfach auf zwei666.de vorbei oder schreibt an blog@zwei666.de.

Bis dahin verbleibe ich in freudiger Erwartung der nächsten 92 Tage mit den „Unendlichen Spassvögeln“…

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kopfpilz

1. September, 2009 um 09:36

Jau, den Freitod kann man gar nicht oft genug betonen, er verleiht dem Werk erst seinen Charakter. Auf der angegebenen 2666-Seite wird DFWs Selbstmord ins Zentrum gesetzt, der Großteil des Feuilletons verweist pro Beitrag über U.S. mindestens 1x darauf. To say nothing of the…unendlicherspass.de

„Wallace wählte im vergangenen Jahr den Freitod.“

Man kann es gar nicht oft genug sagen, schreiben und anderweitig äußern (-der entsprechende Smiley mit grünem Gesicht ist hier leider nicht zugänglich, sorry.)

Ich habe in den letzten zwei oder drei Wochen vermutlich keinen Satz so oft gelesen wie diesen – eingeschlossen die Varianten.

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Guido Graf

1. September, 2009 um 09:52

Seite 322:

Käfiginsassen und Suizidalen fällt die Vorstellung schwer, irgendjemanden könne irgendetwas wirklich jucken.

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kopfpilz

1. September, 2009 um 10:13

@Guido Graf

Ein Ausgangstext für eine mehrstündige Deutscharbeit?

Think, what you will, but sink…

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Alban Nikolai Herbst

1. September, 2009 um 10:44

Freitod als Ritterschlag… nö, „Ritter“ war er ja schon vorher – vielmehr, Freitod als Fangrund für das Pantheon, in dem sich die Leichenfledderer zu einem Feuilletongelage treffen. Nee, Leute, das macht es mir besonders sauer, den Einstieg zu finden. Auch Steinaecker scheint >>>> in dieser Richtung Geschmacksprobleme zu haben. Das gibt noch immer nicht meine Meinung zu dem Buch-selber kund, das ich bislang allenfalls überinstrumentiert finde; doch dieser Eindruck kann täuschen. Es sagt nur, daß mir, um Man Ray zu paraphrasieren, die Banane „größer vorkommt als ihre Schale“. Es hat mich gestern gejuckt, den ersten Satz in Form von Variationen mit anderen „Ersten Sätzen“ spielerisch durchzukombinieren. „Ich befinde mich in einem Büro, umgeben von Körper und Köpfen.“ Allein das Ich befinde mich in hat etwas Borstiges, seltsam Starres, das im Folgesatz, was eben nicht nötig wäre, behauptend illustriert wird.
Vielleicht geh ich da wirklich mal dran.

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Marvin Kleinemeier

1. September, 2009 um 13:44

@kopfpilz @ Alban Nikolai Herbst

Auch wenn ich denke, dass die Ahnung des nahen Todes erheblichen Einfluss auf das Werk 2666 hatte und man daher eigentlich nicht umherkommt, es zu erwähnen, will ich den Vorwurf annehmen. Vor Allem, da ich diese Tatsache wirklich nicht bewusst erwähnt habe, um damit eine Wirkung zu erzielen. Es sind nun mal Fakten, die nicht unerheblich sind. Mir geht es hier jedoch nur um den Text und die Leseerfahrung. 2666 sollte meiner Meinung nach eine ähnlich große Aufmerksamkeit zu Teil werden, wie derzeit US. Die Einführung auf zwei666.de ist bezüglich dieser Tatsachen nun bearbeitet worden. Ich hoffe, auch Sie beide in Zukunft auf zwei666.de begrüßen zu dürfen. Vor Allem ANH, dessen Anderswelt ich seit Jahren angehöre und dessen Kommentare eine große Bereicherung wären.

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Hanna

1. September, 2009 um 15:29

@Thomas von Steinaecker: Bin auch brennend interessiert was es mit Joe Singer auf sich hat, bitte, bitte mehr darüber schreiben!
Die Lektüre macht mich ganz platt, in meinen Kopf geht momentan nichts anderes rein…

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Alban Nikolai Herbst

1. September, 2009 um 20:01

@Marvin Kleinemeier.
Tät ich ja gerne, ich schaue sicher auch mal vorbei. Aber nun bei n o c h etwas mitzutun, übersteigt meine Kapazitäten; ich habe gerade schon mit meiner eigenen Arbeit zu rechten oder, wenn Sie so wollen, zu „linken“; schon das Abenteuer Unendlicher Spaß (wenn man zumal den Begriff „Spaß“ geradezu eklig findet) nimmt mir Ressourcen, die ich anderweitig dringend brauche, etwa um wenigstens e t w a s Geld zu verdienen. Das hier – und bei 2666 wird es nicht anders sein – wird ja nicht bezahlt, es kostet viel Zeit, viel viel Zeit, und läßt sich obenrein für mich überaus zäh an; dabei hatte ich gerade eine wollüstige Faulkner-Phase, die für DFW abgebrochen werden mußte. Was mir wirklich wehtut. Vorher,als Wollust- und Glückslektüre, hatte ich mich dem neuen Pychon ausgesetzt, „aber“ >>> dafür wurde ich wenigstens symbolisch bezahlt; so hat es sich doppelt gelohnt. Doch ich kann diesen Monat mal wieder meine Miete nicht bezahlen, und Vattenfall will mir den Strom abstellen, was dann wieder bedeutet, daß ich nicht gar nicht mehr arbeiten, vor allem mich aber auch nicht angemessen um meinen neunjährigen Jungen kümmern kann. (Ich spreche hier von den Sanktionen, mit denen >>>> Nicht-Ironiker „bestraft“ werden.)
Also sehen Sie es mir bitte nach, wenn ich wegen eines weiteren Projektes nicht in Begeisterung ausbreche, sondern mich dort vielleicht besser so bedeckt halte, daß ich gar nicht da bin. Auch wenn mir die von Ihnen überreichten Blumen schmeicheln, klar.

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Über das Buch

1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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