27. August

28. August 2009 |

Auf der A9. Seit drei Stunden stehen wir hier herum in ganz viel Gegend. Schweres Räumfahrzeug fährt orangelichternd durch die Nacht an uns vorbei. Es ist 3.30 Uhr. Kein Kilometer vor uns raucht es in der Nacht. Es ist still. Ein bestirnter Himmel. Halbmond. Tanz der roten Warnlampen von Windkraftanlagen im Dunkel. Musik: Charlie Hadens „Nocturne“. Getränk: Coke Zero.
Hals Familie wächst. Nach Bruder (Orin) und Vater („Er selbst“) und Mutter („die Moms“ im Familienschnack) nun ein bucklicht Männlein mit riesigem Schädel, mit dem Hal sich sein Zimmer teilt. Bruder Mario. Wenn das hier ein Familienroman werden soll, dann der komplette Gegenentwurf zu dem von Jonathan Franzen. Das ist Realismus auf Speed. Irgendwie.
Wann spielt das eigentlich? Und in welchem Land? Im Jahr der Inkontinenz-Unterwäsche taucht jetzt jedenfalls ein Gesundheitsattaché auf, der einen arabischen Prinzen behandelt. Der Prinz ernährt sich nur von Toblerone, was schlimme Folgen hat. Und endlich kommen wir dem Rätsel der seltsamen Jahresnamen näher. In dem Amerika des unendlichen Spaßes werden die Jahre kommerziell verwaltet, heißen nicht mehr langweilig 2009 oder so, sondern nach Sponsoren. Und jetzt ist eben die Inkontinenz-Unterwäsche dran, mit der fatalen, aber sehr lustigen Folge, dass auch die Freiheitsstatue mit einer leuchtenden Erwachsenenwindel angetan vor New York im Wasser steht. So viel muss man halt gar nicht an der Realität drehen, um ihre Fratzenhaftigkeit hervor zu holen. Der Gesundheitsattaché schläft langsam vor dem Teleputer ein, der „auch die spontanen Disseminationen der InterLace Impuls-Matrix auf Subskriptionsbasis“ empfängt. Klingt wiederum wie Premiere auf Speed, aber Premiere heißt ja jetzt auch anders. Twix. Nein, Sky. Blöder Scherz.
Der Gesundheitsattaché schläft ein. Das tät ich auch gern, aber ich muss noch zwei Stunden fahren, wenn die vorne das brennende Ding endlich gelöscht haben. Schluss mit lustig, das „Jahr der Dove-Probepackung“ beginnt. Der Roman irrlichtert weiter. Und DFW hat das Sprachgewand gewechselt, wie ich eben Jonny seine Windel. Sozialerbrennpunktdeutsch (ich verneige mich zum ersten und garantiert nicht letzten Mal vor Ulrich Blumenbach und seiner meisterhaften Übersetzung, der ich alle Preise wünsche, die Harry Rowohlt schon hat). Eine Ich-Erzählung von Wardine und Roy Tony. Gruselig. Blutig geprügelte Kinder, von Erwachsenen sexuell verfolgt. Und weiter geht’s bruchlos zu einem gewissen Bruce Green, von dem ich nicht weiß, was der hier soll, außer, dass wir wieder ganz unten sind in der Trailergesellschaft des amerikanischen Abschaums und bei einem, für den das Leben im Moment eine einzige große Party ist.
Zurück in die Inkontinenz-Unterwäsche. Hal und Mario. Unterhalten sich über Hals letzten Sieg und Gott und dessen eher lockeren Managementstil. Und einen Witz: „Was bekommt man, wenn man einen Menschen, der an Schlaflosigkeit leidet, einen widerwilligen Agnostiker und einen Legastheniker kreuzt?“ – „Man bekommt jemanden, der sich die ganze Nacht die Frage um die Ohren schlägt, ob es einen Nebel nach dem Tod gibt.“ – „Der war gut“, sagt Mario. Pause. „Du, Hal, was ist ein Stegaleniker.“ DFWs Licht gleitet noch kurz über den Gesundheitsattaché und dann hinüber zu Orin. Jetzt ist aber gut. Jetzt geht’s weiter. Nach vorne. Nach Haus.

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Über das Buch

1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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