21. November

27. November 2009 |

18.30. Biedenkopf. Richtig. Biedenkopf. Besser bekannt als Bergenstadt aus Stephan Thomes Roman. Deutsche Literaturhauptstadt. 32 Kilometer nirgendwowärts von Marburg. Umstellt von Hügeln. Kaffigstes Kaff. Wobei… Im November und im Nieselregen auch New York durchaus sehrsehr hässlich sein kann. Von Berlin mal ganz zu schweigen.
So allmählich gehört mein Spaß auch auf die Traumaabteilung. Ganz schön verschrundet. Eine Schusswunde hat er nicht. Kann ja noch kommen. Überfall, ein Mann schießt und die Kugel bleibt im Spaß hängen. Das wärs noch.
Zurück zur Freakshow. Calvin Thurst, der unpsychologische Psychologe faselt immer noch hinter den Ereignissen her: Dass eine gigantische Ladung Patronen in Ennet-House angelangt ist, dass Tiny Ewell irgendwie anders aussieht, dass wer Küchlein für Gately gebacken hat, dass man hinter ihm stehen würde, dass die fehlende Wumme ein Problem wäre. Gately will wissen, ob er denn nun jemanden umgebracht hätte, kann sich aber nicht artikulieren. Das liest sich ein bisschen wie Kathrin Schmidts „Du stirbst nicht“ auf Speed, diese kranke Krankenhauspassage. Dann geht die Sonne unter. Blutrot. „Die Heizungsventile klingen wie das leise „Pst!“ von Eltern in weiter Ferne. Wenn es draußen dunkel wird, fängt die Decke an zu atmen. Und so weiter.“
Gately schläft ein. Gately wacht wieder auf. Und ein anderer Ennet-Häusler sitzt da, wo der unpsychologische Püschologe eben noch saß. Geoffrey Day (hatten wir den schon? Hab ich Alzheimer?). Und auch der verzällt jetzt Döntjes aus seiner Jugend. Ein Gespenst entnebulösiert sich allmählich. Gatelys Lieblingsalptraum sagt kurz Hallo. Gately schläft und wacht auf und Day ist weg. Der Tag auch (blöder Scherz). Gately erinnert sich auch an seine Jugend. Ein Geist stellt sich vor, „ein schlichter, alter Geist, ohne Groll oder Hintergedanken, ein ganz normaler Feld-Wald-und-Wiesen-Geist“. Das muss ganz schön anstrengend sein, so Geist. Unser jedenfalls ächzt, dass er verdammt lange ausharren musste, um Gately zu konnektieren. Die Träume verschachteln sich. Gately möchte schreien, kann aber nicht, weil da dieser Schlauch ist. Der Geist erzählt so ein bisschen wie das Geistsein so ist und geht. Im Grunde, sacht er, existieren Geister in einer ganz anderen heisenbergschen Dimension der Kursänderungen und Zeitverläufe. Tja, das hätten wir uns, hm, auch so gedacht. Plötzlich knallen Gately Worte durchs Hirn, Worte, die er „so nötig hat wie ein Beinamputierter ein Paar Schuhe“. Acciaccatura (meint der evtl. Accacciatura?) oder Kataleptiker oder Armer Yorick (Shakespeares Hamlet im US wird wohl die meistgeschriebene Seminararbeit im amerikanischen Universtiätswesen werden). Die Worte versirren, Gately wird fast wahnsinnig. Der Geist ist wieder da. Eine Art epiphanierte Heimsuchung von Gatelys missverstandenem Gott. Solche Beschreibungen werde ich dann doch vermissen. Der Geist erklärt, wie sich Geistsein anfühlt und hat schreckliche Nasenhaare. Man fachsimpelt über die Figuranten in der in Deutschland nicht ganz so berühmt gewordenen Serie „Cheers!“ und philosophiert herum. Und irgendwie werde ich den Verdacht nicht los, bei dem nasenhaarigen Geist handelt es sich um Jim „der große Storch“ Incandenza. Der erzählt von seinem verstummenden genialen Sohn. Den er versuchte durch Unterhaltung zum Reden zu bringen. War das die Geburtsstunde der tödlichen Patrone? Und dafür sei er dann 89 Tage trocken geblieben. Die 89 letzten Tage seines Lebens.
Merkwürdig, wieviel Gately von seinem Bett aus sehen kann, obwohl er seine Stirn kaum über das Niveau seiner haarigen Beine kriegt. Muss ein seltsames Bett sein.
Gately taumelt wieder ab zu Mum und Psycho-Stief-Dad, der Listen führt über die Heinekens, die er am Tag so trinkt. Zwischen Heineken8 und Heineken10 nimmt er sich Gatelys Mum vor. Psycho-Stief foltert dann auch Fliegen und DG macht sich Vorwürfe, die nicht gerettet zu haben. Und er hat Schmerzen. „Es ist, als würde ein großer Holzlöffel ihn ständig unter die Oberfläche des Schlafs drücken und wieder hochlöffeln, damit etwas Riesiges ihn probieren könne, wieder und wieder.“
Widerlich. Geh jetzt essen. Kartoffelbrodd heißt hier das herbstliche Hauptgericht. Der Chinese am Ort heißt „Reich der Mitte“. Ab durch dieselbe.

4 Kommentare zu 21. November

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Stephan Bender

28. November, 2009 um 14:32

Eine letzte große Frage habe ich noch an Elmar Krekeler, und die stelle ich jetzt. Ich hätte diese auch David Foster Wallace gefragt und ich würde sie auch (in anderem Zusammenhang) Mathhias Matussek stellen. Und ich werde jede Antwort akzeptieren…

Wie kann man dauerhaft als Intellektueller bestehen, wenn man sich bei der Interpretation der Welt (oder dieses Buches) ständig nur die Auswahl zwischen ‚Sodom und Gomorrha‘ lässt? Für mich ist das Buch eine Satire, eine gut erzählte Geschichte oder auch eine Wallacesche Art die Welt zu sehen, aber ich käme nie auf die Idee, es gewissermaßen als reales ‚Höllenspektakel‘ zu interpretieren! Mir würde nicht im Geringsten einfallen, die Story derart symbiotisch mit meinem Leben zu verbinden…

Krekeler tut das auf eine sehr amüsante Art, doch auch er gibt keine Erlösung. Die schönen Dinge des Lebens, die Überrraschungen der Liebe, die ‚Himmelsgeschenke‘, wo werden die eigentlich verbucht? In die Hölle passen sie nicht, für das Paradies reicht es nicht aus… Was ich sagen will: Ist es nicht auch Hedonismus, ständig das Schlimmste als real anzusehen und so tun, als gäbe es als Ausgleich nicht auch die Erlösung von vielen Dingen?

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Lou

28. November, 2009 um 16:20

Die Sache mit der letzten Frage … unbeantwortet!

Erinnern wir uns einer anderen letzten Frage: What the hell is water?

Elmar Krekeler über nun fast 100 Tage Blog generiert mit seinen Texten und seinem Lese-Tagebuch die Interferenz dieser (Höllen-)Frage und US.

Und die „schönen Dinge“, die „Überraschungen der Liebe“, die „Himmelsgeschenke“ – die passen nicht in die Hölle? Sie passen nur dorthin; die Relativität ihrer menschlichen Projektionsfläche verortet sie dort. Und dort treffen sich David Foster Wallace und Elmar Krekeler. Ein Gespräch: denn alles was entsteht, ist wert daß es zu Grunde geht.

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Stephan Bender

28. November, 2009 um 19:35

@ Lou:

Thanks for the consulting: If you’re not a part of the solution, there’s good money to be made in prolonging the problem.

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platero y yo

29. November, 2009 um 13:45

„The expert is someone who carries malpractice insurance because often the solution becomes the problem/ Only an expert can deal with the problem“

Laurie Anderson, „Only an expert“:

http://www.youtube.com/watch?v=bvhfSH9CbCw

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Über das Buch

1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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