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Der Übersetzer dürfte (mit Walter Benjamins Unterscheidung in der „Wahlverwandtschaften“-Arbeit) eher für die Sachgehalte als für den Wahrheitsgehalt eines Romans zuständig sein, aber ich möchte mal einige Eindrücke zusammenfassen, die hier in letzter Zeit geäußert worden sind: Wallace manipuliert den Fokus sowie das Verhältnis von Erzählen und Erzähltem oder verfährt damit unkonventionell. Den Fokus stellt er überscharf ein, so dass der Leser wie beim Aufsetzen einer falschen Brille ob der Überfülle der (fachsprachlich) geschilderten Details Augen- oder Kopfschmerzen bekommt. Und bei den Rednern der AA-Treffen liefert Wallace zum einen mehr an Biographie und gegenwärtigem Leidensdruck, als man sich beim Lesen wünschen würde, zum anderen blendet er in genau dem Augenblick ab, in dem die Sache interesssant werden könnte: am Umschlagpunkt, an dem Hoffnung auf Besserung des Zustands (des Individuums? der Verhältnisse?) aufschimmert: Nach dem Aufschlag am Nullpunkt der eigenen Existenz kann man anfangen, sich wieder aufzurappeln, kann auf einen festen Stuhlgang hoffen wie in der kleinen Groteske auf S. 507f. oder auf ein Wiederzusammenkommen mit Frau und Tochter (S. 1020f.). Das Verfahren entspricht geradezu perfekt Adornos Ästhetik der negativen Utopie: Nur das Grauen der Existenz kann beschrieben werden, nicht aber ein Zustand, der anders wäre.
1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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29 Kommentare zu „Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben.“
Thorsten Krämer
2. November, 2009 um 10:07
Dr. Szepanski in die Notaufnahme, Dr. Szepanski bitte!
Da will schon wieder jemand aus Wallace einen ‚Adorno zum Sonderpreis‘ machen…
Guido Graf
2. November, 2009 um 10:15
der ist nicht schlecht, doch bitte: Grabenkämpfe nicht hier, sondern bitte im, ähm, Graben, ok?
Thorsten Krämer
2. November, 2009 um 11:05
Ok.
Stephan Bender
2. November, 2009 um 11:47
„Utopie: Nur das Grauen der Existenz kann beschrieben werden, nicht aber ein Zustand, der anders wäre.“ Dafür bekommt Herr Blumenbach 30 von 100 Punkten. Das ist nämlich wahr – und wie Herr Blumenbach über Jahre dieses Buch übersetzt hat, ohne verrückt zu werden, ist mir persönlich ein Rätsel.
Weitere 30 Punkte bekommt Guido Graf für seine hier irgendwo früher geäußerte Weitsicht, dass dieser Blog vor allem beschreibt, „was das Buch mit uns macht“. Aufgewühlte Menschen liefern nicht als erstes eine perfekt durchdachte, neue Philosophie ab, sondern genießen ihre Verwirrung.
5 Punkte beantrage ich für mich selbst, der da sprach: „Wenn Ihr nicht mit ein bisschen mehr Humor an die Sache herangeht und begreift, dass es sich um die vermutlich beste und ausführlichtse Realsatire der Welt handelt, werdet ihr den Geist des Buches nicht erfassen. Wallace hält uns einen Spiegel vor, und wer gerade an einer Sollbruchstelle seine Lebens steht, kann daraus für sich die Weisheit der nächsten zehn Jahre seines Lebens ziehen.“
35 Punkte sind noch frei für eine knackige, einsätzige Deutung des Buches. Dieser Satz fängt mit „Wallace wollte uns sagen, …“ an
Ich fange mal an:
1. „Wallace wollte mit Infinite Jest“ sagen, dass ein Leben ohne gesellschaftliche Utopie eine weitere Hölle auf Erden ist, weil Wohlstand, Unterhaltung und Drogen kein Ersatz für einen wirklichen Lebenssinn ergeben.“
2. ….
3. ….
Stephan Bender
2. November, 2009 um 12:57
2. “Wallace wollte mit Infinite Jest” sagen, dass man als Mensch durchaus auch heute noch der Protagonist seines Lebens bleiben kann, wenn man wie er als Schriftsteller auch der Protagnist seines Romans bleibt, in dem man eine brutal schonungslose Analyse des ‚Seins‘ statt anstatt einer wolkigen Umschreibung des ‚Möglichen‘ abliefert. (siehe auch ‚Möglichkeistssinn‘ – Musil, MoE)
3. “Wallace wollte mit Infinite Jest” sagen, dass Ironie und Sarkasmus keine humorvolle Selbstbehauptung des einzelnen mehr sind, sondern zynischer Ausdruck einer Enttäuschung über die gegenwärtigen Verhältnisse und natürlich auch über die eigene Unfähigkeit, sich den Verhältnissen zu widersetzen oder sie gar zu verändern.
Stephan Bender
2. November, 2009 um 13:16
4. “Wallace wollte mit Infinite Jest” sagen, dass er es persönlich bedauert, aufgrund seiner depressiven Erkrankung und der daraus resultierenden Persönlichkeitsstruktur kein Schauspieler (im Sinne einer echten ‚Rampensau‘) sein zu können, und so den Wahnsinn, den er beobachtet, mit seinen Mitmenschen offen kommunizieren zu können.
(Gewagte Hypothese, aber vermutlich richtig…)
Alfred Vail
2. November, 2009 um 14:17
5. “Wallace wollte mit Infinite Jest” sagen, dass es wahrscheinlich doch keinen plausiblen Sinn des Lebens gibt, das eine Flucht in Drogen die Sache allerdings auch nicht besser macht.
Stephan Bender
2. November, 2009 um 14:30
5. “Wallace wollte mit Infinite Jest” sagen, dass das Problem des modernen oder auch postmodernen Menschen der vollständige Verzicht auf geistigen Beistand ist, der/die moderne ‚Persönlichkeit‘ sich damit zwangsläufig und überfordernd selbst zur ‚Gottheit‘ erheben muss und damit mangels existenzieller Erfahrungen blöderweise gezwungen ist, sein eigenes Leben zu emulieren, zu virtualisieren, ja sogar in einem bedeutungslosen Kosmos von second-hand-Erfahrungen existiert.
P.S. Leute, das ist jetzt der richtige Zeitpunkt, Eurem Analytiker das ‚Es‘ anzubieten… :-)
Thorsten Krämer
2. November, 2009 um 14:46
>> eine brutal schonungslose Analyse des ‘Seins’ statt anstatt einer wolkigen Umschreibung >> des ‘Möglichen’
Mir leuchtet die Wahl der Adjektive hier nicht ganz ein: gibt es nicht auch einen brutal schonungslosen Umgang mit dem Möglichen? Und warum klingt das so, als sei brutale Schonungslosigkeit eine Tugend? Könnte das nicht auch ein Klischee sein, oder vielmehr eine Figur des Radikalen, die aber eben nur das ist: eine Figur? Ist Radikalität nicht vielleicht die Kehrseite der Ironie, eine andere Art der Aporie?
Stephan Bender
2. November, 2009 um 17:22
@ Thorsten Krämer:
1. Das hat historische Gründe: Den brutalstmöglichen Umgang mit dem Möglichen hatten wir schon. Merkwürdig, dass man dies gerade aufgeklärten Deutschen immer wieder erklären muss…
2. Die schonungslose Analyse des Offenkundigen führt immer zu einer belastbaren Möglichkeit, Krisen zu bewältigen (worst-case-Szenarien).
3. Die Figur des Radikalen ist immer – soweit nicht neurotisch -emanzipatorisch. Das Emanzipatorische ist nun wiederum die Voraussetzung für die Freiheit und na ja, die Freiheit wiederum eine Voraussetzung für das Glück des Einzelnen.
4. Radikalität ist nicht die Kehrseite des Ironischen, weil sie eben emanzipatorisch ist (Aufbegehren gegen das Schicksal), während die Ironie eine Spielart des Hinnehmens von gesellschaftlichen Beobachtungen ist.
5. Es gibt keine Aporie. Oder besser: Die Menschheit kann sie sich nicht mehr leisten….
„Jeder Mensch hat sein Schicksal. Sie nicken? Das ist der erste Skandal.
»Schicksal« ist ein voraufklärerischer Begriff. Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus, Absolutismus, das waren Schicksalsgemeinschaften. Schon bei der Geburt eines Menschen war sein Schicksal besiegelt. Die Aufklärung begann mit zwei Feuerwerken auf diesem dunklen Firmament der Menschheitsgeschichte: mit der Entwicklung einer philosophischen Ethik, die an die Stelle des Schicksals die Vernunft setzte und schließlich zu den Menschenrechten führte, und mit der systematischen Religionskritik, die das Menschengemachte in die Hände der Menschen zurücklegte. Als Gott schließlich unbewiesen in seinem Blute schwamm, war auch das Schicksal tot, eines natürlichen Todes gestorben. Seither lebte der Anspruch, wenn auch oftmals nur dem Anschein nach, dass dem Glücksstreben jedes Einzelnen sich Wege erschließen ließen. Dass er nicht hinnehmen müsse, was ihm bestimmt sei. Dass jederzeit Alternativen aufgetan werden könnten. Das wurde überhaupt die geistige Grundlage der Moderne: das Denken in Alternativen.
Der stärkste Rückschlag in der Geschichte der Moderne, die erste große Transformation von deren Möglichkeiten und Ansprüchen in ihr Gegenteil, die radikalste Restauration von Schicksalsmacht und die Transformation von Aufklärung in Propaganda, war der Nationalsozialismus. Kein Wunder, dass »Schicksal« zu einem der meistverwendeten Begriffe in der NS-Rhetorik wurde. Das Schicksal dieses blinden Schicksalsglaubens ist bekannt. Die Konsequenzen, die daraus gezogen wurden, ebenfalls: Dies sollte nie wieder geschehen dürfen! Dennoch: ein halbes Jahrhundert später geistert es wieder herum, das Schicksal, geweckt von dem Getöse, das wir für den Lärm der Weltgeschichte halten und das doch nichts anderes ist als das Echo von längst Vergangenem. Denn: der Satz, dass die Zukunft auch nicht mehr ist, was sie einmal war, etwas Lichtvolles, etwas Erstrebenswertes, ist genauso richtig wie das Gegenteil: Die Zukunft ist, was einmal war. Nicht befreiend, sondern befreit von den Lehren, die schon einmal gezogen waren. …“
Robert Menasse, „Die Zerstörung der Welt als Wille und Vorstellung“, edition suhrkamp 2464, 2006
JesusJerkoff
2. November, 2009 um 19:52
Sehr geehrter Herr Blumenbach.
Wissen Sie noch, wo im US der Satz stand: „Die Wahrheit macht die frei. Aber vorher macht sie dich fertig.“? Mir fehlt sonst die Kontexteinordnung.
MfG
Guido Graf
2. November, 2009 um 20:54
Lyle zu LaMont (S. 563):
JesusJerkoff
2. November, 2009 um 21:36
Sehr geehrter Herr Graf,
danke für den direkten Return.
Sehr geehrter Herr Bender,
Mr. Wallace wollte uns sagen:
Daß sie jetzt den Mantel der Erlösung etwas enger am Körper spüren können, weil sie ein Stück weit durch die Lektüre befreit wurden. Üben sie weiter, zu transzendieren.
So sage ich.
Thorsten Krämer
2. November, 2009 um 21:45
Lieber Stephan Bender,
ich bin ehrlich überrascht, dass Ihnen zum ‚brutal schonungslosen‘ (dies war Ihre ursprüngliche Formulierung, nicht ‚brutalstmöglich‘) Umgang mit dem Möglichen nur der Faschismus einfällt. Das ist vielleicht das, was ich meinte. Ihre Argumentation ist zutiefst westlich und eben der Tradition verpflichtet, die ich infrage stellen wollte.
Ich glaube nicht, dass das Aufbegehren gegen das Schicksal der einzige Weg zur Freiheit ist, es gibt Kulturen, in denen gerade das Annehmen des Schicksals die Grundlage zum Handeln ist. Es gibt im Umgang mit Traumatisierten mittlerweile auch Stimmen, die es gar nicht für so gut halten, das Trauma (immer wieder) bewusst zu machen.
Sie räumen ein, dass die Figur des Radikalen in manchen Fällen neurotisch sein kann. Dagegen möchte ich zuspitzen: So wie der Ironiker nichts ernst nehmen kann, kann der Radikale nichts leicht nehmen. Was ist, auch wenn dieser Begriff hierzulande leider Dale Carnegie und dergleichen evoziert, mit so etwas wie Gelassenheit? Oder Aufmerksamkeit?
Müssen Krisen ‚bewältigt‘ werden? Können Krisen nicht einfach Krisen sein?
Neulich hörte ich auf einem Poetry-Slam einen jungen Autor einen Text vortragen, in dem es nur so wimmelte von therapeutisch klingenden Sätzen, die alle aber letztlich einen imperativen Charakter hatten: Du musst dein Leben in die Hand nehmen, du darfst dich nicht so hängen lassen, du kannst deine Lage ändern, wenn du nur willst usw. Alles Sätze, die irgendwie Sinn haben, in ihrer Gesamtheit aber eine fürchterliche Psycho-Hygiene darstellen, die genau die Krisen schafft, die sie dann hinterher ‚bewältigen‘ hilft.
„Das wurde überhaupt die geistige Grundlage der Moderne: das Denken in Alternativen“ – genau das schlage ich Ihnen hier vor.
Stephan Bender
2. November, 2009 um 23:35
Also, nichts von dem hier Vorgebrachten kan mich wirklich überzeugen. Es ist auch nicht arrogant gemeint: Ein brutalstmöglicher Umgang mit dem Möglichen assoziiert nun mal den Faschismus, denn tiefer ist die Menschheit bisher nicht gesunken.
Schicksal, Neid, Ruhm, Transzendenz, Erlösung – das sind doch jene Versatzstücke und hyperelitären Begriffe, mit denen sich eine Person um die Verantwortung, die Aufdeckung „einer“ Wahrheit und damit auch um die Geschichte, (die auch in „Infinite Jest“ erzählt wird), drückt. Es ist Feigheit, ganz simpel. Und wir wollen auch nicht vergessen, dass keine Helden-, sondern Verlierergestalten („Loser“, wie man heute sagt) in „Infinite Jest“ die Hauptrolle spielen: Es sind die an ihrer (fiktiven) Gesellschaft Gescheiterten, die hier zu Wort kommen. Damit kann ich mich nun mal nicht identifizieren.
Es ist eine Frage der Lebenseinstellung: Man kann Krisen nicht bewältigen, in dem man sich mit den Gescheiterten identifiziert, sondern in dem man die Ursachen des Scheiterns beseitigt. Und das sollte man gerade den Deutschen nach der Wiedervereinigung knallhart und eiskalt mal um die Ohren hauen. Denn politisch machen sie momentan wirklich alles richtig, doch mental sind sie auf dem Holzweg.
Stephan Bender
3. November, 2009 um 05:13
Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran!
Spacelabs fallen auf Inseln, vergessen macht sich breit, es geht voran!
Berge explodieren, Schuld hat der Präsident, es geht voran!
Graue B-Film-Helden regieren bald die Welt, es geht voran!
(Fehlfarben, 1981)
Und weiter geht’s:
6. “Wallace wollte mit Infinite Jest” sagen, Unterhaltung ist zwar Depression, aber die Depression bewirkt eine Aufklärung im emanzipatorischen Sinne, weil es in einer Entertainment-Gesellschaft einen sehr ungewöhnlichen, (offensichtlich depressiven) Geist erfordert, das Offenkundige zu analysieren.
7. “Wallace wollte mit Infinite Jest” am Beispiel von Schtitt zeigen, dass der deutsche Mensch unpolitisch, seine Intellektualität eine verfeinerte Spielart der Schizophrenie ist und er daher seine Unzulänglichkeiten versucht entweder durch extreme Selbstromantisierung oder ungerechtfertigte Selbstzerstörung zu kaschieren.
Hans Wedler
3. November, 2009 um 11:43
Anti-These zu These 6: “Wallace wollte mit Infinite Jest” sagen, dass der individuelle Kampf gegen die Depression mit all ihren schrecklichen Folgen (incl. Drogen und Suizid) hoffnungslos ist in einer Gesellschaft, die deren Kardinalsymptome Anhedonie und innere Leere zu Ikonen stilisiert und als Leitsterne konformen Verhaltens flächendeckend idealisiert.
Stephan Bender
3. November, 2009 um 15:30
@ Hans Wedler:
Feiner Ansatz, aber nicht ganz zu Ende gedacht:
1. Der inviduelle Kampf gegen die Depression ist – soweit nicht klinisch – in erster Linie eine Überforderung des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft.
2. Hoffnungslosigkeit besteht erst dann, wenn gar niemand mehr Kinder haben will. Dann kann niemand mehr „guter Hoffnung“ sein.
3. Personen, „deren Kardinalsymptome Anhedonie und innere Leere zu Ikonen stilisiert “ werden, werden allerdings von den Menschen in freier Wahl gewählt. Warum wählen die Menschen also eine solch hohle Pose?
4. Konform zu sein oder gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse zu rebellieren, ist – wie in jeder gut sortierten Demokratie – jedermanns Privatsache.
Fazit: Wallace hatte ja auch linke Eltern, mit deren Lebenseinstellung er haderte. Und noch viel spannender ist, warum diese „Linke“ nach dem Mauerfall ihre Ideale, ihre Lebenseinstellung und dann schließlich ihre Kinder verraten hat, so dass diese sich heute in einem andauernden Zustand der Depression befinden.
Vom analytischen Standpunkt aus ist nur der Verrat der Kinder interessant, weil er zeigt, dass die „Linke“ sich um eigene Kindheit betrogen fühlte. Und so sollten es die Kinder eben auch nicht besser haben, wie auch Magda Goebbels, die ihren sieben Kindern ein Leben ohne Nationalsozialismus nicht zumuten wollte.
Was einen jungen Menschen heuzutage daran hindert, sich mit Freunden in ‚Greenpeace‘ o.ä. zu engagieren, erschließt sich mir allerdings nicht.
NO
3. November, 2009 um 17:49
Lieber Stephan Bender,
grundsätzlich bin ich bei Ihnen. Man kann Krisen nicht bewältigen durch Niederlagen, Feigheit oder der Beschränkung auf die Identifikation mit den Schwachen. Ihre Deutungen (Thesen) 1 und 2 gefallen mir gut. Aber irgendwo, irgendwie oder irgendwann sind wir doch alle einmal Verlierergestalten. Scheitern kann man auf jedem Niveau. Mithin fragt es sich in der Tat: Ist denn der Sinn des Ganzen die Bewältigung von Krisen?
Daher (auf dem Stand von S. 750) die Deutung (These) Nr. 8:
„Wallace wollte mit US sagen, dass Interesse, Anteilnahme, Mitleid, Liebe an, mit und gegenüber anderen, insbesondere dem Nächsten, dem Gefallenen, – also das Einnehmen einer aktiven Haltung, die sich auf Gefühlen und Erbarmen gründet -, Hoffnung auf Erlösung von jedem Übel und damit einen Sinn vermittelt.“
Beste Grüße
NO
Stephan Bender
3. November, 2009 um 19:27
@ NO:
Vom menschlichen Standpunkt aus will ich das gar nicht leugnen, was Sie da formulieren. Nächstenliebe, Solidarität und Erbarmen sind natürliche Elemente eines zivilisierten Chaarakters, daran werde ich nicht herumdeuteln und ich würde jeden Menschen verachten, der diese Eigenschaften nicht aufbringt.
Doch ich nähere mich ja Wallace von einem anderen Standpunkt aus und weigere mich, einen der besten und genialsten Realsatiriker zum Philosophen zu machen, weil es den Satiriker – der von Berufs wegen übertreiben muss – in seiner Kunst töten würde.
Das ganze Leben ist eine Bewältigung von Krisen, nur warum nennt man sie dann dann Krise und nicht Leben? Scheitern will genauso gekonnt sein wie Gewinnen, wesentlich ist, was man aus dem Erlebten lernt. Und unser David Foster Wallace ist ja nun auch gescheitert, es hilft einfach nicht, darum herumzureden. Und ich persönlich glaube, dass ein solcher Intelligenzbolzen wie Wallace einfach ein anderen „intellektuellen Referenzrahmen“ für seine Entwicklung gebraucht hätte und eine andere elterliche Unterstützung – dann wäre er nicht so depressiv geworden und wenn er sich nicht umgebracht hätte, hätte ich ihn wahrscheinlioch auch noch im House M.D.-Stil von seiner Hilflosigkeit geheilt. Wahrscheinlich ist es wirklich so, dass ich David Foster Wallace seinen Suizid übelnehme, aber ist mein Problem…
Tatsache ist also für mich, dass es für ihn nicht gut gewesen ist, sich derart in den Abgrund zu begeben, weil seine wirklich feine Seele (s.o.) dafür nicht gebaut war. Dafür hat er uns allerdings ein grandioses Werk wie „Infinite Jest“ hinterlassen, einen Abschiedsbrief, den ich nun ausdeute.
Hans Wedler
4. November, 2009 um 10:57
zu „Feiner Ansatz, aber nicht ganz zu Ende gedacht“:
Lieber Stephan Bender, – ich stimme Ihnen in allem zu. Aber es ging hier ja nicht um meine eigene Meinung, sondern darum, was Wallace mit dem US sagen wollte. Und da glaube ich (auch mit Blick auf einen Großteil der Erzählungen), dass DFW diese sehr negative Sicht hatte und letztlich auch daran gescheitert ist.
Stephan Bender
4. November, 2009 um 15:52
„Das Unangenehme an unserer Zeit ist, dass es nur Wegweiser und keinen Bestimmungsort gibt. (I. Kronenberger)
9. “Wallace wollte mit Infinite Jest” gar nichts sagen, sondern einen „Hamlet“ der Gegenwart in Romanform vorlegen und David hat darüber vergessen, dass er als Protagnonist des Dramas selbst derjenige ist, der ins Gras beißen muss, da er die Verhältnisse nicht ändern kann.
10. “Wallace wollte mit Infinite Jest” zeigen, dass es analog zum „Volk-ohne Raum“-Slogan intellektuell unterbelichteter Nazi-Größen auch die Kehrseite „Raum-ohne-Volk“ gibt, bei der intellektuell unterbelichtete Demokratie-Führer darum fürchten, dass niemand ihren Phrasen (‚Achse des Bösen‘, ‚rechtsfreier Raum Internet‘) folgen werden.
11. “Wallace wollte mit Infinite Jest” zeigen, dass humanistisch nicht bewanderte Mitbewohner aus der Tatsache, dass die westliche Demokratie die Diktaturen besiegt hat, idiotischerweise gefolgert haben, dass die Demokratie als Staatsform die bessere Diktatur sein müsse.
Stephan Bender
4. November, 2009 um 17:47
12. “Wallace wollte mit Infinite Jest” zeigen, dass er seiner Zeit so weit voraus war, dass er die Gegenwart als ein ewiges ‚Deja vu‘ empfand, depressiv wurde, und auf die Frage, was denn ‚Deja vu‘ sei, monoton und ausdauernd antwortete, das habe man ihn schon letzte Woche gefragt.
12. “Wallace wollte mit Infinite Jest” zeigen, das nackter Pragmatismus das gezielte Zufügen von psychischem oder physischem Leid (Gewalt, Qualen, Schmerz) an Menschen durch andere Menschen ist, meist als Mittel für einen zielgerichteten Zweck, beispielsweise um eine Aussage, ein Geständnis, einen Widerruf oder eine wichtige Information zu einem bestimmten Sachverhalt zu erhalten oder um den Willen und Widerstand der Folteropfer (dauerhaft) zu brechen.
platero y yo
6. November, 2009 um 17:00
Das Buch oder der gleichnamige Film im Buch „Unendlicher Spaß“ scheint uns an Adornos Satz „die Regungen der Autoren erlöschen in dem objektiven Gehalt, den sie ergreifen“, erinnern zu können.
Stephan Bender
6. November, 2009 um 23:07
@ platero y yo:
Philosopie ist Glücksache. Der Adorno-Satz klaptt blöderweise auch andersherum:
“die Regungen des objektiven Gehalts erlöschen in den Autoren, die ihn ergreifen (und beschreiben)”
Mit „entfachen“ hätte der Satz besser geklappt, Theodor. Kleiner Tipp….
miko
8. November, 2009 um 12:56
beim Lesen der Beiträge bekomme ich manchmal das Gefühl, dass hier Menschen über Schicksal sprechen, die nicht wissen, was das ist, weil sie noch nie eines hatten. Täuscht mich dieser Eindruck? Ich wünschte, ja…
Aléa Torik
8. November, 2009 um 21:52
Hallo Mirko!
Schöne Formulierung! Aber negativ. Machen Sie doch lieber mal einen Vorschlag wie ein Schicksal aussehen könnte. Konstruieren Sie doch mal das, dessen Fehlen Sie hier beklagen. Formulieren Sie doch mal ein paar konsistente Gedanken zum Schicksal. Was ist denn heute Schicksal?
Clemens Setz
8. November, 2009 um 22:14
@ miko
Nun ja, abstrakte und theoretische Überlegungen sind ja oft nur das Trapez, das man über sich aufspannt, um das entsetzliche Rauschen der leeren Zirkusmanege nicht mehr hören zu müssen, in welcher man ein Leben lang ahnungslos herumstreunt und Kontakt sucht und langsam wahnsinnig wird. Thomas Bernhard hat es so formuliert: „Die Wörter, mit denen wir aus Verlassenheit im Gehirn hantieren“. Wir hantieren und jonglieren halt ein bisschen – vielleicht aus Verlassenheit, vielleicht aus Übermut – zuerst im Gehirn und dann auf diesem Blog mit Konzepten herum, die uns zu Infinite Jest eingefallen sind.
Glauben Sie mir, Schicksale haben und kennen wir alle, egal wie intellektuell oder allwissend wir uns auf diesem Blog hier manchmal geben. Viele Leute tragen ihr Schicksal stets gut sichtbar an sich, wie eine Scherzartikelblume, an der immer alle Leute riechen sollen, nur um dann mit Weisheiten und quälenden persönlichen Anekdoten vollgespritzt zu werden. Andere verstecken ihr Leid, ihre Ängste, ihre Unsicherheiten und ihre naiven Hoffnungen hinter intellektuellem Quaquaquaqua, zählen Namen von Philosophen auf und lassen ein Zitat, das sie aus irgendeinem Buch abgetippt haben, für sie sprechen.
Welcher Weg der bessere (oder der „less travelled by…“) ist, sei dahingestellt.
Djan Hajo
22. Juli, 2010 um 18:50
DFW wollte mit infinite jest zeigen, wie leicht die menschheit durch einen modernen unterhaltungsfaschismus zu kontrollieren, zu konditionieren, und wenn erforderlich, auch zu bekämpfen ist. außerdem zeigt er das jeder mensch als teil so einer gesellschaft zwangsläufig in einer art sucht endet, die sucht nach erfolg, die sucht nach substanzen wie drogen etc, die sucht unterhalten zu werden……